14. Wir gehen am besten wieder den gleichen Weg, auf dem wir gekommen sind, zurück zum Kirchplatz. Die Türme der Stephani-Kirche sind uns dabei ein guter Wegweiser. Gleich neben dem Kirchplatz führt die ost-westliche Querstraße, die heutige Wilhelm-Loewe-Straße, vorbei. Nach wenigen Metern in westlicher Richtung entdeckt man auf der nördlichen Seite der Straße das Haus von Dr. Wilhelm Loewe (1814 - 1886), in dem er 1840 bis 1848 wohnte und praktizierte.

Wilhelm Loewe wurde am 14.November 1814 in Olvenstedt bei Magdeburg (heute: Magdeburger Stadtteil) als Sohn des dort tätigen Küsters und Kantors geboren. Die kinderreiche Familie lebte in recht beschränkten kleinbürgerlichen Verhältnissen, was wahrscheinlich ausschlaggebend für seine spätere politische Einstellung wurde. Der fleißige und begabte Junge besuchte das Domgymnasium in Magdeburg und war anschließend Zögling der medizinischen Lehranstalt. Ab 1834 war er als staatlich geprüfter Wundarzt zugelassen und diente drei Jahre als Kompanie-Chirurg. Anschließend studierte er Medizin in Halle, promovierte und ließ sich ab 1840 in Calbe als praktischer Arzt nieder.

Der neue Arzt war in Calbe wegen seiner fachlichen Kompetenz und seiner linksliberalen Haltung sehr beliebt. Als die Wirtschaftskrise 1846 verschiedene Familien aus Calbe zur Auswanderung nach Amerika zwang, agitierte Loewe in "Disputierklubs" gegen die Politik der preußischen Krone.

Wilhelm Loewe (1814 - 1886) (nach: Calbenser Blatt)

Als er in Calbe einen Bibliotheksverein gründete, der aber in Wahrheit ein politischer Verein zur Sammlung oppositioneller Kräfte war, wurde er von den Spitzeln der "Heiligen Allianz" permanent beobachtet. In der Zeit vor der Revolution hatten die Klubs und Vereine eine regelrechte Konjunktur, überall entstanden Theater-, Literatur-, Turner- und Sängervereine, einige davon auch in Calbe. Neben der Einheit Deutschlands und bürgerlichen Freiheiten wurden auch Veränderungen zur Verbesserung der Lebenslage des arbeitenden Volkes gefordert. Demokratisch und liberal orientierte Bürger verbreiteten in Vorträgen auf Versammlungen fortschrittliches Gedankengut. Auch der freireligiöse Pfarrer Leberecht Uhlich aus dem nahe gelegenen Pömmelte hielt öfters in Calbe demokratisch orientierte Vorträge, wobei er auch die soziale Lage der Fabrikarbeiter scharf kritisierte. Uhlichs demokratische Bewegung der "Lichtfreunde" in Magdeburg wurde zu einer gesamtnationalen Oppositionsform. Der bei Uhlichs Lichtfreunden entstandene Gedanke einer demokratischen Jugendweihe wurde 1852 nach der Vereinigung der Lichtfreunde und Deutschkatholiken zu den "Freireligiösen Gemeinden" von Pfarrer Eduard Bantzer aufgegriffen und später in kleinsten Rahmen verwirklicht. 1889 führten die aus den Freireligiösen Gemeinden hervorgegangenen, stark sozialdemokratisch geprägten Freidenker in Berlin die erste große Jugendweihe durch.
Die Metternichschen Polizeispitzel berichteten, dass Loewe und Uhlich einige Male auch gemeinsam auftraten und dass man die beiden als besonders gefährlich einschätzen musste (vgl. Bildung von Schutzvereinen...) .

Als nach den Märzereignissen 1848 die Wahlen zur Nationalversammlung stattfanden, wurde Wilhelm Loewe als Abgeordneter der Wahlkreises Calbe und Jerichow I in das erste deutsche Parlament delegiert. Ohne es zu wollen, trug Loewe dazu bei, dass Calbe während der Revolution noch einmal national bekannt wurde. In den Zeitungen stand sein Name immer mit dem Zusatz "Calbe", da es in der Frankfurter Nationalversammlung mehrere Löwes gab. In der Paulskirche saß Loewe im zweiten Sitzblock rechts (siehe Bild unten), von vorne gesehen links. Diese liberalen Abgeordneten bezeichnete man daher als die "Linken". Loewe hielt sich in der Mitte zwischen den radikalen (Demokraten) und gemäßigten Liberalen (Konstitutionellen). Als sich die Nationalversammlung in endlosen Debatten dazu durchgerungen hatte, das einheitliche Deutschland in Form einer konstitutionellen Monarchie, das heißt, als Kaiserreich mit Reichstag, zu schaffen, sollte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die Führungsrolle übernehmen. Der so genannte preußische und kleindeutsche Weg (unter Ausschluss Österreichs) entsprach den Vorstellungen der Mehrheit der deutschen Liberalen (auch Loewes). Als am 3. April 1849 33 Abgeordnete, darunter auch Wilhelm Loewe, im Rittersaal des Berliner Königsschlosses Friedrich Wilhelm IV. unterwürfig die Kaiserkrone antrugen, lehnte er sie mit höflichen Worten ab. Die Gegenrevolution saß bereits zu fest im Sattel, als einer bürgerlichen konstitutionellen Monarchie zustimmen zu müssen.

Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche (nach: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1973)

Kaiserdeputation der 33 Abgeordneten, unter denen auch Loewe-Calbe war (nach: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1973)

Nach dem Vormarsch der fürstlichen Reaktion 1849 kehrten die meisten Abgeordneten auf Befehl ihrer Regierungen in ihre Heimat zurück.

Protokoll der Frankfurter Nationalversammlung über Eingaben der Städte zur Rettung der Reichsverfassung (vgl. Calber "Verein für Volksrechte", Station 3) (nach: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1973)

Hier wohnte der Arzt und Politiker Dr. Loewe von 1840 bis 1848

Nur die 114 aufrechten Demokraten und Linksliberalen um den neu gewählten Parlamentspräsidenten Wilhelm Loewe blieben als so genanntes Rumpfparlament zurück. Sie zogen nach Stuttgart um. Über das blutige Ende der Abgeordnetentätigkeit schrieb Gerd Fesser in der Zeitschrift "Die Zeit" am 10. 6. 1999:

"Bereits eine Woche zuvor hatten die Behörden dem Rumpfparlament untersagt, im Saal des württembergischen Landtags zu tagen. Die Nationalversammlung musste deshalb in die Bierhalle von August Kolb ausweichen und mietet schließlich das Fritzsche Reithaus. Am 16. Juni tritt sie dort zusammen. Die nächste Sitzung ist, trotz Römers Verbot, für den 18. Juni, 15 Uhr, anberaumt. Als er davon erfährt, weist er den Kriegsminister und den Innenminister an, gegen die Abgeordneten vorzugehen.
Und so geschieht's: Bereits gegen Mittag ist das Fritzsche Reithaus durch Militär abgeriegelt. Gegen 14.30 Uhr formieren die Abgeordneten sich zu einem Demonstrationszug. Sie schreiten - wie einst beim Einzug in die Paulskirche am 18. Mai 1848 - gemessenen Schrittes in Viererreihen. An der Spitze Parlamentspräsident Löwe-Calbe, Karl Vogt, [der Dichter Ludwig] Uhland, Wilhelm Wolff und Albert Schott ....
An der Kreuzung Hohe Straße/Lange Straße versperren Infanteristen den Abgeordneten den Weg. Ein Zivilkommissär fordert die Deputierten auf, auseinander zu gehen. Als Löwe-Calbe zu den Soldaten sprechen will, werden seine Worte durch Trommelwirbel übertönt. Plötzlich gellen die Kommandorufe "Anreiten!" und "Einhauen!". Aus einer Seitenstraße prescht eine Kavallerieeinheit mit geschwungenen Säbeln heran. Die Soldaten schlagen mit der flachen Klinge auf die Abgeordneten ein. Viele werden in den Dreck gestoßen und von Pferdehufen verletzt. Zur selben Zeit hauen Sappeure (Pioniere) den Sitzungssaal des Fritzschen Reithauses mit Äxten kurz und klein.
Am folgenden Tage werden alle Abgeordneten, die keine Württemberger sind, ausgewiesen. Das vom Volke frei gewählte Parlament hatte aufgehört zu existieren."

Vertreibung des Stuttgarter Rumpfparlamentes mit Loewe an der Spitze (nach: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1973)

Nach dem Sieg der Reaktion unter Führung Preußens wurde Loewe angeklagt und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Es gelang ihm aber die Flucht über die Schweiz in die USA, wo er acht Jahre in New York als angesehener Arzt und Unternehmer tätig war. Als 1861 die preußische Amnestie für politische Verurteilte in Kraft trat, kehrte auch Wilhelm Loewe nach Calbe zurück. Am 18. Juli traf er nach einer Dampfschiff-Reise  bis Hamburg und von dort mit der Eisenbahn in Calbe ein, um "seine alten Freunde zu besuchen". Vom damaligen "Bahnhof an der Saale" (heute: Bahnhof Calbe-Ost) wurde er mit der Kutsche von liberal gesinnten Bürgern der Stadt abgeholt. Der Männergesangverein improvisierte Loewe zu Ehren ein fröhliches Beisammensein im Hohndorfer Busch. Patriotische Lieder wurden gesungen und ein Feuerwerk abgebrannt. Die linksliberale Calbesche Zeitung von Döring berichtete, dass Hunderte von Besuchern dem verehrten Gast gezeigt hätten, wie sehr sie sich freuten, ihn wieder zu sehen.
1863 wurde Wilhelm Loewe Abgeordneter des preußischen Abgeordnetenhauses und 1871 bis 1881 Reichstagsabgeordneter. Auch als Unternehmer versuchte er sich erfolgreich. Als geehrter Alterspräsident des Deutschen Reichstages ging er immer mehr auf die Positionen Bismarcks einer Revolution "von oben" über.

1886 starb er in Südtirol in Meran.

 

Nur wenige Meter entfernt in westlicher Richtung stoßen wir auf das Haus Querstraße (jetzt: Wilhelm-Loewe-Straße) Nr. 16. Es ist ein positives Beispiel dafür, wie Begeisterung für die Kulturgeschichte, verbunden mit dem Bestreben nach Bewahrung des historischen Erbes, zu einer gelungenen architektonischen Lösung bei Sanierungsarbeiten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Häuser führen kann. Dem Engagement und Forscherdrang von Herrn Bauarchitekt Dipl.-Ing. Wolfram ist es zu verdanken, dass dieses Haus nicht nur stilecht saniert, sondern auch seine Geschichte unter Mithilfe von Herrn Hanns Schwachenwalde und Herrn Klaus Herrfurth, Pfarrer i. R., weitgehend erforscht wurde. Bei den Baumaßnahmen wurden außerdem bislang unbekannte Inschriften aus dem 18. Jahrhundert geborgen, restauriert und in die Wände des Hof-Ensembles eingefügt.

 Herr Wolfram hat mir gestattet, die Ergebnisse seiner Rekonstruktions- und Forschungstätigkeit sowie entsprechende Bilder zu veröffentlichen, wofür ich ihm herzlich danke.

Chronik des Grundstückes Querstraße (Wilhelm-Loewe-Straße) Nr. 16 

1584 Der Stadtbürger und Brauer Gorgeß Scheider ist Eigentümer des Grundstückes. Das Haus liegt zwischen Augustin Stüning (später: Henrich Reifenstahl) und Hans Schnüsing.
1594 Andreas Küster und seine Frau Marie, geborene Gregorii, verkaufen das Haus, zwischen Henricus Reiffenstahl und Hans Schnusing gelegen,  an Thomas Fritze.
1602 Thomas Fritze bezahlt den Rest der Kaufsumme an die Küsters, worauf die Verkäufer die gerichtliche Auflassung erteilen. Fritze ist Schuhmacher.
1620 Thomas Fritze verheiratet sich in zweiter Ehe mit Anna Bäcker aus Brumby.
1624 Erwähnung der Kinder aus erster Ehe: Thomas und Marie Fritze.
1639 Thomas Fritze ist inzwischen verstorben; sein Sohn Christian steht unter Vormundschaft.
1651 Thomas Fritze der Jüngere besitzt das Haus.
1668 Thomas Fritze (d. J.) hat das Braurecht Register Nr. I/7erhalten; damit ist das Haus Nr. 16 ein Brauhaus (vgl. Station 4).
1682 2 Söhne von Thomas Fritze wohnen auch in dem Haus.
1690 Heinrich Fritze hat das Braurecht (Register I/7).
1692 Die Gebrüder Thomas und Heinrich Fritze überlassen dem Garkoch Cyriacus Trenketrog, der in Nr. 14 wohnt, den freien Platz zwischen den Häusern, den Trenketrog bebauen will. Damit wäre das Haus (heute) Nr. 15 erstmals nachweisbar. (Eine Garküche, die Trenketrog offensichtlich betrieb, ist mit einer heutigen Speisegaststätte vergleichbar.)
1694 Der Ackerbürger Christian Hermsdorf heiratet die Witwe von Thomas Fritze und übernimmt das Haus.
1695 Christian Hermsdorf baut neu.
1715 Es ist die Rede von Christian Hermsdorfs neu erbautem Brauhaus nebst neuem Stall und Seitengebäude.
1721

Die Tochter von Christian Hermsdorf, Johanna Sabina, heiratet am 24. Juli in erster Ehe den Weißbäcker Samuel Böhme, der dann auch Hausbesitzer wird. Der Hauswert beträgt nach dem Feuerkataster 485 Taler.

1731 Friedrich Förster (siehe 1734) übernimmt von Samuel Böhme das Braurecht I/7.
1733 Samuel Böhme stirbt am 25. Mai.
1734

Johanna Sabina, geborene Hermsdorf, verwitwete Böhme, heiratet in zweiter Ehe am 13. Mai Friedrich Förster. Dieser war am 13. März 1690 geboren worden und hatte am 29. April 1730 das Bürgerrecht von Calbe erhalten. Förster war Sohn eines Pfarrers in Alvensleben, seine Mutter war eine geborene Bertram aus Calbe. Friedrich Förster hatte 12 Jahre als Soldat, zuletzt als Sergeant im Regiment von Arnim in Magdeburg gedient. Nachdem er einen Ersatzmann gestellt hatte, war er 1729 entlassen worden. Er war jetzt Ackerbürger und bewirtschaftete 42 Morgen Land, ein beachtliches Vermögen. (Das war meines Wissens ein seltener Fall: Ein Mann, dem der untere preußische Militärdienst nicht den sozialen Ruin, sondern den Aufstieg gebracht hatte. Schon die Tatsache aber, dass Förster einen Ersatzmann kaufen konnte, weist wahrscheinlich auf elterlichen Wohlstand hin. Auch als Unteroffizier wird er im Rahmen der preußischen Kompaniewirtschaft Möglichkeiten der Vermögensbildung gehabt haben.)

1737

Friedrich und Johanna Sabina Förster errichten das Haus neu. Nach Fertigstellung lassen sie eine Erinnerungstafel anbringen.

"Alles ist an Gottes Segen und an seiner Gnad´ gelegen - F. Förster, Johanna Sabina Försterin, Anno 1737" (nach heutiger Rechtschreibung, damals noch vorwiegend Kleinschreibung)
1750 Friedrich Förster stirbt.
1756 Während des Siebenjährigen Krieges ist der Lohgerber Samuel Rohde Besitzer des Grundstücks.
1764

 

Samuel Rohde stirbt. Jeremias Friedrich Rademacher aus Magdeburg, geboren 1739, kauft das Grundstück von dessen Witwe. Rademacher verheiratet sich am 29. Januar mit Maria Elisabeth Francke, der Tochter des ehemaligen Pächters des Rittergutes Ritterstraße 1, Andreas Francke.

Ein schöner barocker Schlussstein mit den Initialen von Jeremias Friedrich Rademacher

1803

Nach dem Tode von Jeremias Friedrich und Maria Elisabeth übernimmt der Sohn Friedrich August Rademacher, geboren 1777, das Grundstück. Er vertreibt hauptsächlich Öfen, Eisenwaren und Kohle.

1838

Es folgt sein Sohn Friedrich August (d. J.) Rademacher, der sich mit dem gleichen Vertrieb wie sein Vater befasst.

1865 Charlotte Rademacher, geborene Garke, ist Eigentümerin des Grundstückes.
1880 Friedrich Eduard Rademacher übernimmt das Grundstück.

Ansichtspostkarte mit der Fotografie des Geschäftes von Friedrich  Eduard Rademacher (um 1900)

1927 Karl Schillig ist Besitzer (oder Mieter?) des Hauses.
1929 Töpfermeister Franz Heinrich kauft das Grundstück für 28.000 Goldmark von Dr. Walter Rademacher, Bergwerksdirektor in Borna.
1965 Das Grundstück Wilhelm-Loewe-Straße Nr.16 wird am 2. Mai Volkseigentum (Stadteigentum).

So sah das Haus zwischen 1962 und 1999 aus

1995 Rückgabe an die Erben Heinrich.
1997 Inge Bauerfeind, geborene Schulze, deren Mutter eine geborene Heinrich war, zahlt die Erben aus und wird Alleineigentümerin.
1999 Familie Hans Wolfram  kauft das Gebäude und erneuert es grundlegend unter größtmöglicher baulicher Berücksichtigung der nachweisbar langen Historie des Hauses.

Das Haus seit 2000