10. Gegenüber dem Scheele-Haus entdecken wir die Badergasse.
Das war eine der an der Saale bzw. am Mühlgraben gelegenen Straßen, die ein Wassertor besaßen, das heißt eine verschließbare Öffnung in der Ost-Mauer, die bei vom Kirchturm aus signalisierten Feuerkatastrophen geöffnet wurden und dazu dienten, Wasser aus dem Fluss zu schöpfen und mit Hilfe von großen Wassergefäßen an den Brandherd zu befördern. Es gab in Calbe 5 Wassertore, die direkt zum Mühlgraben führten: das Mühltor, das Wassertor, das Gröpertor, das Drenktor (Baderpforte) und die Piperporte (Pfeiferpforte).

 

Blick aus der Badergasse auf das Scheele-Haus

Hier war einmal die Baderpforte

Trotz dieser Wassertore kam es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit immer wieder zu verheerenden Bränden in Calbe. Nahezu in jedem Jahrhundert zerstörten ein bis zwei Großbrände eine erhebliche Anzahl von Häusern. Ein Beispiel: Am 6. März 1683 vernichtete ein Großfeuer, das im Hause einer Frau Bünger in der Breite ausgebrochen war, in Windeseile in der Altstadt 84 Wohnhäuser mit allem Zubehör und in der Schlossvorstadt 25 Häuser. Das war mehr als die Hälfte des Hausbestandes.

 

Am Ende dieses Zweiges der Straße "Wassertor" liegt der noch erhaltene Zugang zum Mühlgraben. In dieser Straße war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eines der beiden Juden-Viertel in Calbe (vgl. Station 4)

Schon im Mittelalter gab es Maßnahmen zur Brandverhütung, denn damals bestanden die meisten Häuser noch aus Fachwerk und waren mit Stroh gedeckt. In der "Willkür" (Verordnungen des Rates) finden sich entsprechende Regeln:
Verbot des Dreschens bei Licht, Verbot des Ausschüttens glühender Asche im Hof, Verbot des Fleischdörrens, ohne genügend Wasser bei der Hand zu haben; Gebot des Aufstellens eines Fasses vor jedem Haus, das immer mit Wasser gefüllt sein musste, Gebot der Bedeckung des Dachstrohs mit Erde und Lehm.
1585 wurden Strohdächer ganz und gar verboten. Brach ein Feuer dennoch aus, wurde vom Türmer mit der Glocke Feueralarm gegeben und eine Laterne in der Richtung aufgehängt, wo das Feuer ausgebrochen war. Wer den ersten großen Bottich Wasser (Wasser-Kufe) heranfuhr, wurde belohnt. Die Leute, die am Mühlgraben die Kufen zu füllen hatten, waren schon vorher festgelegt und fast immer dieselben, um, wenn es um wertvolle Zeit ging, Wirrwar zu vermeiden. Wenn das Feuer gelöscht war, stellte man Wachen auf, die ein Wiederauflodern der Flammen verhindern mussten. 1745 schafften sich die Bürger eine Pumpenspritze an, die im Spritzenhaus an der Stephani-Kirche untergebracht war (vgl. Stationen 5 und 19).
Zurück zur Badergasse und der Herkunft dieses Namens. Die mittelalterlichen Bader hatten nichts mit den heutigen Bademeistern gemeinsam,  sie gehörten wie die Henker und Prostituierten ("Hübschlerinnen") zu den so genannten unehrbaren, d. h. zu verachtenden Berufen. Die Bader und die Dirnen wohnten im mittelalterlichen Calbe innerhalb der Stadtmauer, da sie städtische "Angestellte" waren, nur der Henker hatte in der Schlossvorstadt sein Haus. Die Prostituierten hatten ihr Haus an der Stadtmauer in der "Breite" (zur "Breite" s. Station 18).

Die Bader sah man deshalb als unehrbar an, weil sie zwar einerseits mit ihren Badezubern und als Haarschneider und Zahnzieher zur Volksreinlichkeit und allgemeinen Gesundheit beitrugen, es aber andererseits gerade in den Badestuben sexuell so freizügig zuging, dass sich von hier aus Geschlechtskrankheiten und andere Seuchen ausbreiteten. Bader arbeiteten mit einfachen medizinischen Mitteln, die aber dann auch bei jeder Gelegenheit angewandt wurden, zum Beispiel mit dem Aderlass, den Schröpfköpfen und Blutegeln. Andererseits waren Badestuben  fast so "verrufen" wie Bordelle, und der "ehrbare" Bürger wollte sich deshalb von den Badern distanzieren.

Eine große Badestube gab es auf dem Markt, eine zweite am Alten Markt in der Badergasse. Beide gehörten zu den Hospitalstiftungen. In solchen Stuben badeten nicht nur die "kleinen Leute", sondern auch ab und zu der Schlossvogt und seine ritterlichen Beamten sowie Fürsten und ihr Hofstaat, die auf dem Schloss häufig zu Gast waren.
Wie schon gesagt,  gehörten die Prostituierten zu den unehrenhaften Berufen, obwohl ihr "Gemeines Haus" in der Breite (s. oben) der Stadt gehörte und eine bedeutende Einnahmequelle der Stadtkämmerei bildete. Vierzehntägig flossen die Hurensteuern in die Stadtkasse. Allerdings gab es hier auch wegen der vielen Schlägereien und Randalen ständig etwas zu reparieren, das glich sich aber durch die verhängten "Exzess"-Strafgelder wieder aus. Erst durch den Protestantismus, der 1542 offiziell in Calbe Einzug hielt, wurde das Hurenhaus geschlossen. 1543 wurde es für 21 Gulden an privat verkauft.
Nun mussten die Hübschlerinnen heimlich und im Stillen ihrem Gewerbe nachgehen; wenn man sie erwischte, wurden sie jedoch empfindlich bestraft.


Im späteren Mittelalter gab es noch vier medizinische Berufe: die akademischen Ärzte (nur für Patrizier und Fürsten), die meist naturfremd waren, die Volksärzte ("Quacksalber" auf Märkten), die aber große Praxiserfahrung hatten, sowie die Hebammen und Bader. Im 18.Jahrhundert, als die Aufklärung auch in Preußen ihren Einzug hielt, wurden aus dem mittelalterlichen "unehrenhaften" Beruf des Baders allmählich die durchaus ehrbaren Professionen der Physici, Chirurgen, Apotheker und Barbiere. Die volksnahen Chirurgen nahmen so manche Operation, oft auch erfolgreich, an den geplagten Patienten vor. Meist waren sie erfolgreicher als die an den Universitäten ausgebildeten Ärzte, weil sie mehr Praxisnähe hatten. Deshalb gab es in Calbe oft Streit zwischen den beiden Berufsgruppen, auch dann, als sich der eigene Beruf des Chirurgen ("Chirurgus") herausgebildet hatte.

1675 gab es einen ersten "bürgerlichen" Arzt in Calbe, den Physikus Dr. Keyl, der, wie auch seine Nachfolger die Aufsicht über die anderen medizinischen Berufsgruppen in Calbe, insbesondere die Apotheker hatte (vgl. Station 4). Seit 1742 war auch ein Stadtchirurg ansässig. 1737 musste der Stadtphysikus Dr. Haacke die "Armenpraxis" der Calbeschen Stiftungen (im Hospital) übernehmen.
 

Weiter nördlich stoßen wir auf die dicht an der Stadtmauer erbaute Hospitalkirche, die "Heiliggeistkirche"  (heute: Neuapostolische Kirche). In alten Kirchenbüchern wird sie noch die St.-Nicolai-Kirche genannt. In den städtischen Urkunden tauchte die Kirche zum Heiligen Geist erstmalig am 10. April 1305 auf, als in einem Testament eines reichen Bürgers das Stift "Gratia Dei" gegen einen Zins verpflichtet wurde, in dieser Kirche auch den Gottesdienst abzuhalten (vgl. Reccius, a. a. O., S.15, Herrfurth, Königshof…,in: Burgen...,Heft 12, S. 7 ff.).

Nicolai ist der Genitiv von Nicolaus, dessen Name wohl allen Kindern bekannt ist. Der Heilige und Namenspatron dieser Kirche war der Erzbischof von Myra in Kleinasien, er lebte und lehrte um 304 bis ca. 345. Nicolaus gilt als der Schutzpatron Russlands und als Schutzherr der Kinder, Seefahrer, Kaufleute, Apotheker und Bäcker. Entsprechend ihrem Patrozinium war diese Kirche, die direkt neben dem nördlichen Stadttor an einer damals so wichtigen Handelsstraße zwischen Magdeburg und Halle stand, eine Kirche der Kaufleute und Schiffer. Im 17. Jahrhundert muss dieser Name für die Kirche noch präsent gewesen sein, denn in einem Ratsprotokoll vom 15.8.1685 wurde angewiesen, dass die Vorsteher des Hospitals auf die Leute im "Heiligen Geist" achten sollten, damit sie nicht durch Umgang mit Feuer die Kirche St. Nicolai gefährden (Hinweis von K. Herrfurth).

Was war das Hospital zum Heiligen Geist?

Das Gelände, ein Hof mit Unterkünften dicht bei dieser Nicolaikirche, war Teil der Armenstiftungen Calbes. Heute würden wir dieses Heiliggeist-Hospital eine städtische Sozialstation nennen. Jede mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt besaß, wie auch Calbe, eine nicht unbeachtliche "Bettel-Armut", bestehend aus Armen, Krüppeln, Schwerkranken (Siechen) und Bettlern. Die städtischen Stiftungen waren das damalige "soziale Netz", um die städtischen Unterschichten unter Kontrolle zu haben und so Verbrechen und Krawallen vorbeugen zu können.

Hospitalkirche um 1900 mit Blick in den ehemaligen Beginen-Hof. Die Hütten der "Hospitaliten" waren allerdings schon abgerissen (nach: Festschrift zur 1000-Jahr-Feier).

Ausschnitt aus dem Bild links: Blick in den ehemaligen Spittel-Hof (Beginen-Hof)

Die Anlage war ein Beispiel für mittelalterliches und frühneuzeitliches Verständnis von sozialem Engagement. Diese Hilfseinrichtung für Arme, Alte, Schwache und Kranke wurde im Hoch- und Spätmittelalter von einer nicht-klösterlichen Gemeinschaft, den Beginen, getragen.

Die Beginen waren ledige Frauen und Witwen, die gemeinsam in Beginen-Höfen (- wie hier in Calbe -) lebten und sich ohne Ordenszugehörigkeit der unorthodoxen tätigen Nächstenliebe, besonders durch Krankenpflege, verpflichtet fühlten. Die Beginen-Gemeinschaften waren Ende des 12.Jahrhunderts in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland als Teil einer häretischen Laienbewegung, die sich am Ideal eines urchristlich-apostolischen Lebens orientierte, entstanden. Ihren Namen hatten sie wahrscheinlich wegen ihrer beige-farbigen Tracht erhalten. (Andere Erklärungen weisen nach K. Herrfurth, der sich auf den Kirchenhistoriker Heussi beruft, auf die häretischen Albigenser oder auf den Priester Lambert de Begue aus Lüttich [gest. 1177] hin.) Die Blütezeit der Beginen-Bewegung lag im 13. und 14. Jahrhundert. Von der etablierten Kirche wurden die Beginen wegen ihrer Nähe zu den "Ketzer"bewegungen der Katharer, der Albigenser und Waldenser rigide bekämpft.  Übrigens gab es auch ein männliches Gegenstück zu den Beginen, die Begarden, die ebenfalls vorwiegend in der Krankenpflege tätig waren.

In Calbe wurde der Beginen-Hof bald das Spital (Spittel) genannt. Aus der St.-Nicolai-Kirche wurde im Volksmund allmählich durch ihre direkte Nähe zum Armenstift des Heiligen Geistes die "Heiliggeistkirche".

Als es auf dem Spittelhof schon lange keine mütterlich sorgenden Beginen mehr gab und "aufgeklärte" preußische "Disziplin" herrschte, wurden die oft altersverwirrten, behinderten "Hospitaliten" vom Spittelmeister mit der Knutpeitsche "erzogen", so wie es 1723 der Calber Magistrat anordnete (vgl. Reccius, a. a. O., S. 70).

 

Heilig-Geist-Kirche

In der Heilig-Geist-Kirche, der ehemaligen Nicolaikirche, war früher eine Kanzel von 1606 vorhanden. Von ihr herab soll 1702 August Hermann Francke, der bedeutende Vertreter des Pietismus und herausragende Pädagoge, gepredigt haben, als er in Calbe weilte; durch Quellen konnte dieses Ereignis jedoch nicht belegt werden (vgl. Station 7).

Die "Heilgeist"-Kirche, wie sie im Volksmund hieß, hatte keine bürgerliche Gemeinde, weil sie Teil der Armenstiftungen war. Ein herausragender Spittelpfarrer im 16. Jahrhundert war der auch als Pestpfarrer (vgl. Stationen 6 und 20) tätige evangelische Pfarrer Cyriakus Müller (Moler), genannt Stockau (geb. 1533, gest. 1587, 1557 in Wittenberg ordiniert, seit 1564 auch Pfarrer in Trabitz, verheiratet mit Gertrud Kretzmar, gest. 1578, vgl. Hävecker, S. 47). Er hielt für die Armen und Kranken in den Stiftshäusern und dem großen Hospitalhof Betstunden, predigte in der Heilig-Geist-Kirche und reichte das Abendmahl.

Müller war eine recht eigenwillige Persönlichkeit in der Calbeschen Geschichte. Aus Visitationsberichten wissen wir, dass er nicht nur der Pestpfarrer von Calbe war, sondern auch eine Frau aus dem 1542 geschlossenen "Gemeinen Haus", also eine ehemalige Prostituierte, geheiratet hatte. Seine Bauern aus Schwarz beschwerten sich massiv über ihn, weil er in seinen Predigten von der Auslegung des Evangeliums abschweifte und sich persönlich an sie mit mahnenden, drohenden und drastischen Worten wandte. Auch mit der Pfarrersfrau gab es laufend Streit (vgl. Reccius, Chronik, ..., S. 37).
Die elenden Hütten, die Hospitäler genannt wurden, lagen zuerst neben der Kirche und als sie 1683 abbrannten, wurden sie hinter ihr wieder aufgebaut. Erst 1878 wurden sie abgerissen, als in der Brumbyer Straße (jetzt Hospitalstraße) ein nach damaligen Erkenntnissen modernes Hospital (vgl. Station 16) erbaut worden war.
Gleich neben der Heilig-Geist-Kirche stoßen wir auf die Grabenstraße.

 

 

Als man den Stadtgraben vor der nördlichen Mauer auffüllte, entstand die Grabenstraße

Sie ist dadurch entstanden, dass der Graben an der nördlichen Stadtmauer im 18. Jahrhundert, als die mittelalterlichen Stadtbefestigungen ihren strategischen Wert verloren hatten, zugefüllt worden war. Zur Zeit der Ansiedlung der hugenottisch-französischen sowie pfälzischen und böhmischen Einwanderer  in Calbe bekamen diese ihre Kolonie entlang dem gefüllten Graben zugewiesen. Deshalb hieß die heutige Grabenstraße damals Kolonie-Straße (vgl. Station 1). 1788 wurde sie gepflastert (vgl. Reccius, S.82)