7. Wo heute ein rotes Backsteingebäude verloren neben einem neu angelegten Parkplatz steht, gab es bis zum Jahr 2000 das 70 Meter lange Gebäude der Heinrich-Heine-Schule Calbe. Davor stand an fast der gleichen Stelle, nur wenige Meter nördlicher, etwa dort, wo sich später der "Rolandgarten" bzw. der "Thälmannhain" befand und heute das nördliche Ende des Parkplatzes ist, seit 1695 eine für damalige Verhältnisse recht große Schule (vgl. weiter unten).

Aber das war noch nicht die älteste Calbesche Schule in diesem Areal. Da es im Mittelalter stets in der Nähe von Kirchen so genannte Parochialschulen gab, ist anzunehmen, dass sich Stadtrechnungen für eine Schule mit zwei Klassenräumen und für 2 Lehrer und den Rektor von 1374 auf eine solche Schule bei der St.-Stephani-Kirche beziehen (vgl. Hertel, Geschichte..., S.161). Nach Dietrich (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, S. 8) hat sie an der Querstraße (heute: Wilhelm-Loewe-Straße) gestanden, da, wo sich heute die Buchhandlung befindet.

Mag. Johann Heinrich Hävecker (1640 - 22.7.1722) [nach: Reproduktion im Stadtarchiv]

Die Lehrer waren Geistliche und brachten den Bürgerkindern Kenntnisse in Schreiben, Lesen, Rechnen, Singen, Latein und christlicher Religion bei. Erstaunlich für uns Heutige ist, dass die vom Rat festgelegte Schulpflicht-Zeit 9 Jahre betrug. Auch die Töchter der Bürger mussten zur Schule gehen. Der Calber Rat scheint großen Wert auf die Bildung seiner Bürger gelegt zu haben. Es erstaunt uns auch, welch großer Bildungsstellenwert für die Mädchen veranschlagt wurde. In einer Mädchenschule wurde Schreiben, Lesen und Nähen unterrichtet. 1581 gab es eine Lehrerin, welche die Mädchen zusätzlich hauswirtschaftlich unterrichtete. Der Rat entschloss sich, das inzwischen zu klein gewordene und nicht ausreichend ausgestattete Schulhaus 1585 zu erweitern. Der damalige Oberpfarrer, Schulinspektor und Chronist Magister Johann Heinrich Hävecker schrieb (Chronica..., S.60), über der Tür an dem alten Gebäude hätte man lesen können, "daß Anno 1585 ein neues Gebäude an das alte gesetzet und die Schule dadurch erweitert worden." Wie beengt die Schulmeister damals in den Schulen lebten, kann man in derselben Chronik nachlesen: Weil nun die Collegen (Schullehrer) „wegen des engen Raums auf der Schulen keine Haushaltung führen können, so sind dieselben von dem hiesigen Schloße gespeiset worden.“ Mittags und abends erhielten sie aus des Schlosshauptmanns Küche je drei gute Gerichte, wie sie auch auf den Tisch des Vogtes kamen, dazu Butter, Käse, reichlich Brot und 6 Maß des besten Bieres, zu hohen Feiertagen statt des Bieres ebenso viel Wein (vgl. ebenda, S. 61). Weiter lesen wir: „Nachdem nun das Schul-Gebäude ziemlich baufällig worden und nicht räumlich gnug, weder für die Collegen noch für die Schüler gewesen,“ hatte der Rat der Stadt 1695 eine neue Schule bauen lassen. Dieses barocke Gebäude hatte zuerst vier Klassenräume, später acht. Das Gebäude sehen wir auf einem alten Aquarell (Abb. weiter unten links).

Die feierliche Einweihung entsprach ganz dem Zeitgeist: Zuerst hielt der Oberpastor und Inspektor Hävecker in der St.-Stephani-Kirche nach Absingen von 5 Kirchenliedern eine Predigt aus dem Marcus-Evangelium 10,14. Anschließend wurden Lehrer und Schüler von den Ratsmitgliedern unter dem Gesang eines Kirchenliedes aus der alten in die neue Schule geführt. Hier wurden wiederum drei Kirchenlieder gesungen und von Hävecker eine lateinische Rede gehalten. Unter weiterer Kirchenmusik beglückwünschten die Lehrer ihre Schüler und gaben ihnen Ermahnungen für ihre neue Lernstätte (vgl. ebenda, S. 61).
Hävecker ließ sich in seiner Chronik über diese neue Schule sehr lobend aus, weil sie eine Reihe hervorragender Persönlichkeiten hervorgebracht hätte, so unter anderen hohe Beamte und berühmte Ärzte (Medici und Physici) (vgl. ebenda, S. 62)

Der Calbesche Chronist Johann Heinrich Hävecker (s. Bild oben rechts) wurde 1640 in Calbe an der Saale als Sohn des Brumbyer Pfarrers Mag. Heinrich Hävecker (um 1610 Minden - 1676 Brumby) und der Kaufmannstochter Anna Maria Wilcke (1603 Calbe - 1685 Brumby ) geboren (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, a. a. O. [im folgenden: ADB], Bd. 11, S. 113, Pabst, ...daß man an solchen schönen Gemählden..., a. a. O., S. 7ff., Herrfurth, Familie Hävecker..., a. a. O.) .

Vater Heinrich war eine bedeutende Persönlichkeit in unserer Gegend. Er war seit 1636  nicht nur Pfarrer in Brumby, sondern auch Schulmeister in Calbe und Neugattersleben gewesen. In einer für Leib und Leben gefährlichen Zeit, in der alle Kriegsparteien plündernd und mordend in unserer Gegend umherzogen, versah dieser Mann seinen Dienst gewissenhaft und bewältigte die 8 - 10 km langen Wege (hin und zurück nach Brumby) zu Fuß, denn ein evangelischer Pfarrer zu Pferde wäre ein gar zu augenfälliges Objekt für Söldnerbegierden gewesen (vgl. Station 6). Die Kirche in Brumby war von den Kaiserlichen zum Pferdestall umfunktioniert worden, das Pfarrhaus und der Garten verwilderten. Während des Krieges hatte Brumby nahezu wüst gelegen, die Bürger und Bauern waren geflohen oder getötet worden (vgl. Station 6, vgl. Hävecker, S 28). Nach dem Krieg ging es mit dem Dorf und Rittergutssitz allmählich wieder aufwärts.

Das geschah unter dem Brumbyer Rittergutsbesitzer und somit auch Gerichtsherrn und Kirchenpatron Gebhard von Alvensleben (1618 - 1681), der als Vertrauter des Administrators August von Sachsen-Weißenfels (vgl. Station 13) im Range eines Hof- und Justizrates am Friedensexekutionstag in Nürnberg 1649/50, dem Wiener Kongress des 17. Jahrhunderts, teilnahm und 1659 Amtmann von Giebichenstein wurde. Der gebildete Gutsherr v. Alvensleben, welcher wie sein Herr, der Administrator, unter dem Einfluss von Aufklärung und Pietismus stand und Mitglied der "Fruchtbringenden Gesellschaft" war, zog sich mit 50 Jahren aus der landesherrlichen Politik zurück und widmete sich seinen philologischen, historischen und theologischen Neigungen. Er sammelte und dichtete geistliche Lieder, verfasste eine topographische und historische Beschreibung des Landes Magdeburg, die von Historikern noch heute geschätzte so genannte "Alvensleben´sche Topographie" und eine Geschichte der eigenen Vorfahren ("Stemmatographia Alvenslebiana") .

Ihm und seinem mit ihm eng zusammen arbeitenden Pfarrer Heinrich Hävecker ist es zu verdanken, dass 1664 bis 1668 die Brumbyer Kirche mit kulturhistorisch wertvollen 92 Deckenbildern (Heilsgeschichte) von Heinrich Busch aus Braunschweig sowie mit einer  Barockkanzel, einem neuen Altar und einer Orgel ausgestattet wurde. 

Pfarrer Heinrich Hävecker und seine Frau Anna Maria hatten (nach derzeitigem Wissensstand) zwei Söhne, den älteren Konrad, der in die Fußtapfen des Vaters trat und selbst Pfarrer in Brumby wurde, sowie Johann Heinrich, der durch seine poetischen und historischen Veröffentlichungen, besonders durch die Chronik von Calbe,  der berühmtere der beiden war.

Johann Heinrich Hävecker (1640 Calbe - 22. 7. 1722 Calbe) studierte an den Universitäten in Helmstedt und Wittenberg, wo er 1663 den Magistergrad mit einer philologischen Übung erwarb und danach selbst Vorlesungen hielt. 1665 wurde er Schulrektor in Calbe, 1681 Diakon und 1693 Pastor primarius  sowie Kirchen-Inspektor des Holzkreises mit 40 Kirchen und den dazu gehörenden Schulen (Distrikte Brumby bei Calbe, Magdeburg und Angern bei Wolmirstedt, vgl. Rocke, a. a. O., S. 54). Die bei seinen vielen Inspektionsreisen gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse kamen J. H. Hävecker bei der Abfassung der schon zu seiner Zeit wiederholt aufgelegten Schrift "Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Aken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..." zu Gute.

Die Mehrzahl seiner Schriften war der pietistischen Erbauung gewidmet (vgl. ADB, a. a. O.), d. h. dem "inneren" spirituellen "Aufbau" des Individuums durch belehrende Geschichten mit einer Moral. Intentionen solcher Erbauungsschriften waren die persönliche (christlich-protestantische) Bekehrung und die Umsetzung des Glaubens im alltäglichen, tätigen Leben. Diese auf Förderung der Individualität und Manifestierung einer persönlichen (geistlichen) Freiheit gerichtete protestantische Lehre, der Pietismus, fand letztlich auch Eingang in die Philosophie und Literatur der Aufklärung und wurde umgekehrt von dieser beeinflusst, sie diente der Konsolidierung des Bewusstseins bürgerlicher Rechtschaffenheit und damit einer bürgerlichen Moral.

Außerdem veröffentlichte Johann Heinrich Hävecker einen wiederholt nachgedruckten Katechismus und Arbeiten zur Geschichte und Theorie der Predigt (Homiletik). Seit 1685 trat Hävecker als Lektor und Herausgeber von Schriften seines Schwiegervaters, des pietistischen Theologen und Erbauungsschriftstellers Christian Scriver (2.1.1629 Rendsburg - 5.4.1693 Quedlinburg) hervor. Scrivers "Herrlichkeit und Seligkeit der Kinder Gottes" z. B. wurde vom Schwiegersohn wiederholt bearbeitet, aufgelegt und auch nach dem Tode des Autors mehrmals herausgegeben. In den 1670er Jahren hatte Johann Heinrich eine Tochter Scrivers geheiratet.

Christian Scriver war in seiner Zeit mit seinen Erbauungsschriften ein populärer Schriftsteller und ein Wegbereiter des Pietismus (s. oben). Durch die Pest (s. Station 6) hatte er als Säugling seinen Vater verloren. Als Christian 6 Jahre alt war, starb auch sein Stiefvater, ein Rendsburger Geistlicher und Freund Speners. Ein reicher Verwandter ermöglichte ein Theologiestudium in Rostock, das er 1649 mit der Magisterwürde abschloss. Nach einer Hauslehrerzeit war er seit 1653 Archidiakon in Stendal (St. Jakobi), Pfarrer in Magdeburg (St. Jakobi) und seit 1685 Inspektor des Holzkreises (vor seinem Schwiegersohn - s. oben). 3 Jahre vor seinem Tode erhielt er auf den Rat seines Freundes hin, des Pietismus-Schrittmachers Philipp Jacob Spener (1635 Rappoltsweiler - 1705 Berlin), eine Berufung als Oberhofprediger der Äbtissin Anna-Dorothea, Herzogin zu Sachsen, nach Quedlinburg, das ein Zentrum des Frühpietismus war. Sein verstärkter Hang zum Mystizismus erklärt sich nicht nur aus seinem Kindheitsschicksal, sondern auch aus dem Leid , das er als Familienvater erfahren hat. Er verlor drei Frauen und elf von vierzehn Kindern durch den Tod (vgl. ADB, Bd. 33, S. 489ff., Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im folgenden BBKL), Bd. IX, Sp. 1262ff.)

Christian Leberecht Hävecker (1716 - 1800)

Leberecht Gotthold Hävecker

(1678 -1760)

Eine Tochter Scrivers heiratete also J. H. Hävecker (ihr Name konnte vorerst nicht ermittelt werden). Mit ihr hatte er die Söhne Leberecht Gotthold (1678 Calbe - 1760 Calbe), Gottfried Christian und  Johann Georg. Gottfried Christian wurde Pfarrer im Brandenburgischen (Lietzen und Marxdorf) und Johann Georg Kämmerer und Bürgermeister in Aken. Leberecht Gotthold, der älteste Sohn, war studierter Rechtsbeistand des Rates (Syndikus) geworden und bekleidete zeitweilig das Amt des Kämmerers (seit 1711 - vgl. Reccius, S. 67) und Bürgermeisters (seit 1719 - vgl. ebenda, S. 69). Sein Porträt befindet sich im Kreismuseum Schönebeck. Dessen Sohn Christian Leberecht Hävecker (1716 - 1800) wurde wie sein Vater Syndikus. Sein frisch restauriertes Gemälde hängt im Trauzimmer des Calber Rathauses (s. Abbildung rechts).

Der ältere Bruder Johann Heinrichs, der erstgeborene Sohn Heinrich Häveckers (s. oben ) war Konrad (Conradus) Hävecker (23.6.1637 Calbe - 5.10.1699 Brumby) , der wie sein Vater (nach dessen Tod) Pfarrer in Brumby wurde. Zuvor (1671 - 77) war er Pfarrer in Glöthe (3km westlich von Brumby) gewesen. Er hatte in Wittenberg studiert und war zum Magister der Theologie promoviert. 1672 heiratete Konrad die 16 Jahre jüngere Anna Quenstedt (1654 - 1726), mit der er u. a. die in Glöthe 1674 geborenen Tochter Anna Margaretha (gest. 28.7.1750 Hildesheim) hatte. Diese Tochter heiratete 1693 in der Brumbyer Kirche den Philosophen, Polyhistoriker und Aufklärer Jakob Friedrich Reimmann (22.1.1668 Gröningen - 1.2.1743), einen Freund des Mathematikers und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)(vgl. Günther, Jacob Friedrich Reimmann, a. a. O. und Pabst, http://www.familienforschung-pabst.de/Veroeffentlichungen/Vorbereitung/Bd_22.htm).

Auf den bedeutenden Vertreter der deutschen Aufklärung Reimmann und seine Verbindung zu den Häveckers wurde ich freundlicherweise von dem Bonner Genealogen und Esperantisten Bernhard Pabst aufmerksam gemacht.

Jakob Friedrich Reimmann

(1668 - 1743) (nach: Günther, bei Pabst, Familienforschung,Bd.22)

"Reimmann wuchs unter bedrängten familiären Verhältnissen auf. Der Vater war Schulmeister und konnte dem begabten Sohn nur sehr begrenzt eine universitäre Ausbildung finanzieren." (BBKL, Bd. XVIII, Sp. 1180ff.) Nach anfänglich väterlichem Privatunterricht in Gröningen besuchte Jakob Friedrich die Lateinschulen in Egeln und Aschersleben und anschließend die Gymnasien in Magdeburg, Aschersleben, Eisleben und Altenburg. Der häufige Schulwechsel hing mit der Suche noch vorübergehender Kostenfreiheit zusammen (vgl. ADB, Bd. 27, S. 716). Die Universität in Jena konnte er wegen Geldschwierigkeiten des Vaters nur 16 Monate besuchen. Obwohl er fleißig bis zur Erschöpfung studierte und die Universität Jena dafür bekannt war, mittellosen Begabten zu helfen, untersagte ihm seine ausgeprägte Bescheidenheit und ein mangelndes Selbstbewusstsein, um eine Unterstützung zu bitten. Deswegen machte sich Reimmann ein Leben lang Vorwürfe. Die ungenützte Chance erklärt wohl auch seine fast selbstzerstörerische Verbissenheit, mit der er sich in der folgenden Zeit ein enormes Wissen aneignete und eigene Ideen zu neuen intellektuellen Richtungen veröffentlichte. 1689 bekam er eine Hauslehrerstelle in Ahlten bei zwei vor dem Abschluss des Gymnasiums stehenden Söhnen des Rittergutsbesitzers List. Er nutzte die Situation und ging wöchentlich einmal die rund 20 km lange Strecke (hin und zurück) nach Hannover, um dort bei dem freundlichen Hofbuchhändler Nicolaus Förster die älteren und die neuesten Büchermarkt-Erscheinungen zum Selbststudium auszuleihen. Auch ein befreundeter Pfarrer lieh ihm wertvolle Bücher aus. Aufgrund dieser Studien begann er in Ahlten bereits an seiner später fundamentalen Literaturgeschichte zu arbeiten. Als der 22jährige Reimmann auf Drängen des kranken Vaters eine Hauslehrerstelle bei der Familie des Oberamtmanns Hahnstein in Calbe bekam, war er, wie er selbst in seiner Biographie schrieb, nicht begeistert. Erstens waren die neuen Zöglinge alles andere als lernwillig, und zweitens fehlten ihm seine geliebten (unentgeltlichen) Bücher. Da half ein Mann, von dem man das nicht erwartet hätte, den geistigen Hunger des jungen Gelehrten zu stillen, der Ratsherr und spätere Bürgermeister Christian Friedrich Deutschbein (Teutschbein). Dieser wohl reichste Mann Calbes war auch philologisch interessiert und besaß eine Bibliothek, aus der er dem wissenshungrigen Habenichts wertvolle Bücher, einige sogar in arabischer Sprache, auslieh. Auch in dem Diakon Hävecker (s. oben) hatte er einen väterlichen Freund und in dessen Familie warmherzige Aufnahme gefunden. Besonders war der 23jährige der 17jährigen Nichte Häveckers im nahe gelegenen Brumby (s. oben) zugetan. Deshalb zögerte Reimmann nun sogar, lukrativere Angebote in anderen Städten anzunehmen. Als er 1692 doch noch eine Berufung als Schulrektor in Osterwieck (Harz) fluchtartig annahm, hätte ihn sein mangelndes Selbstwertgefühl beinahe zum zweiten Mal in eine Krise gestürzt. Doch der Freund Johann Heinrich Hävecker reiste schleunigst in den Harz hinterher, weil er den Grund der Abreise kannte, aber nicht akzeptieren wollte. Nachdem er den verdutzten jungen Rektor darum gebeten hatte, seinen (ältesten?) Sohn zu unterrichten, brachte er das Gespräch aufs Heiraten. Der niedergeschlagene Reimmann warf ein, dass ihm bei seiner schlechten Besoldung kein vernünftiger Mensch seine Tochter anvertrauen würde. Doch Hävecker erwiderte: "Ei, so kleinmütig muß er nicht sein." (Günther, bei Pabst, Familienforschung,Bd.22).

Die Verlobung wurde zu Reimmanns Freude sofort arrangiert, und am 14.2.1693 fand in der Kirche Brumby (vgl. oben) im Beisein der Familie Hävecker und der Familie Reimmann die Hochzeit "mit Jungfer Anna Margaretha, Herrn Magister Conradi Hävecker, Pastoris eheliche Tochter, nach 3maligem ordentlichen  Aufgebot öffentlich" statt. Damit begann eine schicksalsreiche und glückliche Ehe, die ganz der so genannten Kultur des evangelischen Pfarrhauses entsprach. Beide entstammten dem gleichen Sozialkreis, er widmete sich seinen Studien und beruflichen Pflichten und war ein treu sorgender Familienvater, sie versorgte Kinder und Haushalt liebevoll und stand ihrem Mann bis zu einem gewissen Grade auch bildungsmäßig zur Seite.

Nachdem das junge Ehepaar ein viertel Jahr in den miserablen Schulmeister-Verhältnissen in Osterwieck gewohnt hatte, kam 1693 die Berufung Reimmanns zum Rektor des Johannis-Gymnasiums in Halberstadt. Das Ehepaar konnte nun ein wenig  die materiellen Sorgen vergessen, und Anna Margaretha brachte  fast jährlich Kinder auf die Welt, insgesamt 14, von denen nur 2 Töchter und 2 Söhne am Leben blieben. Jakob Friedrich begann bedeutende Werke zu veröffentlichen (s. unten).

1702 ernannte Friedrich I., König in Preußen, den ungemein fleißigen und begabten Gelehrten zum Inspektor im Fürstentum Halberstadt. Gottfried Wilhelm Leibniz war auf Reimmanns Werke aufmerksam geworden und besuchte ihn mehrmals. Damit begann eine lebenslang dauernde Freundschaft, die mit einem "starken Briefwechsel" verbunden war. Als Reimmann 1704 zum Pastor primarius in Ermsleben bei Halberstadt berufen wurde und damit in den Stand der Berufsgeistlichen überwechselte, rief das einen inneren Konflikt bei ihm hervor. Sollte er sich in seinen Studien, ohne die er nicht leben konnte, der Theologie oder der geliebten Historik und der verehrten Philosophie widmen? Er entschied sich schließlich zum Glück für die letzteren. 1710 traf Reimmann ein harter Schlag, seine vom Munde abgesparten wissenschaftlichen Bücher und ein Teil seiner Manuskripte verbrannte bei einem durch Unachtsamkeit hervorgerufenen Feuer. Aber er gab nicht auf und begann mit seiner intensiven Arbeit von neuem. Als in der Gegend die Ruhr ausbrach, besuchte Pastor Reimmann Hunderte infizierter Gemeindemitglieder, um ihnen geistlichen Beistand zu leisten, obwohl seine unentwegten Studien die eigene Gesundheit schon untergraben hatten. Seit 1715 brach bei ihm eine Lungentuberkulose aus, die ihn zunehmend entkräftete und auszehrte. "Der Körper war außerordentlich schwach und so mager, daß der berühmte Medicus Herr Hofrat Albrecht sich oft gewundert, wie es möglich, daß die Verbindung desselben mit der Seele so lange bestehen könne." 1714 berief man Reimmann zum zweiten Domprediger und Dom-Bibliothekar in Magdeburg. Als er 1717 den Posten des Stadtsuperintendenten in Hildesheim annahm, hatte wohl die materielle Dürftigkeit bei Reimmanns ein Ende. Jakob Friedrich Reimmann konnte sich noch intensiver seinen Studien widmen. Seine von den Zeitgenossen bewunderte enorme Bildung und sein wissenschaftlicher Fleiß hatten jedoch auch ihre gesundheitlichen Schattenseiten. Der 1716 verstorbene Freund Leibniz hatte wiederholt gewarnt: "Wenn wir weniger täten, könnten wir mehr tun." 1735 kam die Krankheit wieder verstärkt zum Ausbruch, aber erst 3 Tage vor seinem Tod legte der erschöpfte Mann die Schreibfeder nieder. Er starb ohne Schmerzen am 1.2.1743 an Auszehrung infolge einer Alterstuberkulose.

Seinen Ruhm als Gelehrter , welcher ihm schon zu Lebzeiten zuteil wurde, hatte sich der bescheiden auftretende und - trotz bedeutender Veröffentlichungen - in nicht gerade üppigen Verhältnissen lebende Mann nicht auf dem Wege einer glänzenden universitären Laufbahn, sondern im verbissenen und opferreichen Selbststudium in seinem Studierstübchen erarbeitet.

Jakob Friedrich Reimmanns bis in die Gegenwart weiterwirkende wissenschaftliche Leistung bestand in der Begründung einer systematischen historischen Betrachtung, insbesondere der Begründung einer methodischen und gezielten Literatur- und Philosophiegeschichtsforschung. Neben seiner "Geschichte Halberstadts", der "Geschichte der Stadt Aschersleben" und der Herausgabe  der Briefe Ciceros "Ad familiares" mit deutschen Anmerkungen - was vor ihm niemand gewagt hatte - standen besonders im Mittelpunkt des gelehrten Interesses die "Poesis germanorum canonica et apocrypha - bekannte und unbekannte Poesie derer Teutschen" (1703) sowie sein sechsbändiges Hauptwerk "Versuch einer Einleitung in die historiam literariam [Literaturgeschichte] sowohl insgemein als auch in die historiam literariam der Teutschen insonderheit" (1708-1713). Dieses wegweisende Hauptwerk bildete die Grundlage für einen neuen Wissenschaftszweig, die Literaturgeschichte, und für die hundert Jahre später aufkommende Germanistik. Dazu gehörte ebenso der Versuch einer Sprachgeschichte "Historia vocabulorum linguae latinae" [Geschichte der Wörter der lateinischen Sprache] (1718).

Als einer der Bahnbrecher der deutschen Aufklärung hatte Reimmann auch philosophische Werke veröffentlicht, wie die kritische Auseinandersetzung mit Grundfragen der Logik "Schediasma philosophicum..." [Philosophischer Abriss] (1697. Später hatte er - seiner Vorliebe entsprechend - eine historisch-analytische Betrachtung des Gegenstandes verfasst, eine Geschichte der Logik "Calendarium logices historico-criticum" (1699). Auch seine "Historia philosophiae Sinensis" [Geschichte der chinesischen Philosophie] (1727) ging in diese Richtung.

Heißes Pflaster betrat der Gelehrte, der seit 1704 Berufsgeistlicher war (s. oben), als er eine "Historie der Theologie..." (1717) und eine Universal-Geschichte des Atheismus "Historia universalis atheismi" (1725)veröffentlichte. Dabei ging er als systematischer Wissenschaftler weitgehend unparteiisch und sachlich an die Gegenstände seiner Untersuchung heran. Wegweisend war auch sein systematisch-kritischer Theologischer Bibliothekskatalog "Catalogus Bibliothecae Theologicae systematico-criticus" (1731), in dem er die gesamte theologische Literatur seiner Zeit, auch die von den Lehrmeinungen abweichende, kritiklos auflistete. Diese wissenschaftliche, unparteiische Haltung brachte ihm jedoch 1730-32 unter anderem ein kräftezehrendes "widerliches literarisches Gezänke" mit dem Jesuitenpater Hasselmann ein.

Es soll an dieser Stelle keinesfalls verschwiegen werden, dass dieser körperlich geschwächte Stubengelehrte ein munterer, fröhlicher und bei Kindern beliebter Pädagoge war. Für die Kinder schrieb er seinen "Versuch eines kleinen biblischen Kinder-Katechismi" (1726). Seine Biographie "J. F. Reimanns eigene Lebensbeschreibung oder Nachrichten von sich selbst" gab sein Schwiegersohn Pfarrer Friedrich Heinrich Theune 1745 in Braunschweig heraus. In einem runden halben Jahrhundert seines wissenschaftlichen Schaffens hatte Jakob Friedrich Reimmann 14, zum überwiegenden Teil bedeutende und richtungweisende Werke geschaffen ( vgl. ADB, Bd. 27, S. 716ff, BBKL, Bd. XVIII, Sp. 1180ff., Zedler, a. a. O., Bd.1 [1732], S. 239ff..

Dieser ungeheuer fleißige und produktive Gelehrte, dessen Leben und Werk schon zu Lebzeiten in Zedlers Universallexikon (vgl. oben) gewürdigt wurde, war ein Pionier der Aufklärung, der Großes geleistet hat auf dem Gebiet der systematischen und historischen Betrachtungsweise der Philosophie, der Literatur und der Theologie. In den letzten Jahren rückte der fast vergessene Reimmann wieder in das Licht des wissenschaftlichen Interesses. Und wir Calbenser können sagen, dass er nicht nur familiär und freundschaftlich mit Menschen aus dieser Stadt verbunden war, sondern hier auch kurze Zeit gelebt, gelernt und gelehrt hat.

Die Calber Knabenschule war eine mehrklassige Lateinschule, die den Übergang auf auswärtige höhere Schulen ermöglichte (vgl. Herrfurth, Klaus, Das war vor 400 Jahren...).

"Was wir dann aus der Stadtrechnung 1594/95 erfahren, verdient besondere Beachtung und gereicht der Stadt auch heute noch zur Ehre, denn es war keineswegs selbstverständlich: >Zu Stifftung der Freyen Schulen allhier und damit alle und jede Schüler - einheimische sowohl als fremde - des Schulgeldes gar enthoben und frei sein mögen, ist auf Gutachtung des Herrn Hauptmanns (Regierungsbeamter auf dem Schloss), des Ehrbaren Rats (Ratsherren der Stadt) und des Ministeriums allhier (Geistlichkeit der Stadt) verordnet und bestätigt, daß der Schulrektor zur Besoldung jährlich 50 Gulden haben und dagegen von keinem Knaben, ohne was ihm gutwillig einer geben will, sonsten überall durchaus nichts zu fordern befugt sein soll.< Aufgebracht wurden die 50 Gulden aus Mitteln des Stadtrats, der Kirche sowie der Hospital- und Armenstiftungen. Einer von denen, die den Beschluss zur Schulgeldfreiheit fassten, war Magister Johannes Cuno, der aus Erfurt stammte und auf seinem Wege als Gymnasiallehrer und Pfarrer schließlich nach Calbe gekommen war, wo er 1591/92 als Rektor und seit 1593 als zweiter Pfarrer tätig war, bis er 1598 an der Pest starb." Von einer religiösen und moralischen "Erziehung sollten alle erreicht werden, und deshalb gehörte für Cuno Schulgeldfreiheit zu den Voraussetzungen sinnvoller und uneingeschränkt wirksamer Schultätigkeit." (Ebenda.)
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war es Brauch, dass Lehrer und Schüler an bestimmten kirchlichen Feiertagen für sich und die Schule bei den Bürgern Geschenke einsammelten, was dann unter preußischer Ägide wegen der Ehrenrührigkeit und des Verdachtes der Bettelei verboten wurde.
Ein schönes altes Ritual war es auch, Lehrer und Klassenräume am Johannistage (21. Juni) zu bekränzen und den Lehrern zu danken. Möglicherweise lehnte sich der in der DDR begangene Ehrentag der Lehrer am 12. Juni an diesen mittelalterlichen Brauch der Ehrung der Schulmeister an.

Die 1695 erbaute neue Schule am Kirchplatz (nach: Reproduktion einer zeitgenössischen Tuschezeichnung [Stadtarchiv Calbe])

Auf dem Gebiet des Schulwesens machte sich Ende des 17.Jahrhunderts bemerkbar, dass Calbe und das gesamte Herzogtum Magdeburg seit 1680 zu Brandenburg-Preußen gehörten. Der preußische Staat war auf dem Wege, eine europäische Großmacht zu werden, seine Herrscher orientierten sich zunehmend an den fortschrittlichen Ideen der Aufklärung und des Merkantilismus. Es setzte sich immer mehr die Auffassung durch, dass es keinen modernen Staat ohne eine solide Bildung des Volkes auf pietistischer Basis geben konnte. Für die preußische Staatsmacht war ein Analphabet zwar ein leicht zu die regierender Untertan, jedoch mussten auch die Bürger in einer Zeit des geistigen und technischen Aufbruches in Europa bis zu einem gewissen Grade an die neuen Aufgaben herangeführt werden.

Beispielgebend für jene Zeit war das von August Hermann Francke (1663 - 1727) in Halle praktizierte neue Schulsystem, das sich auf einer allseitigen Förderung der naturwissenschaftlichen, mathematischen, geschichtlichen und künstlerischen Entwicklung der Schüler auf der Basis von viel Anschaulichkeit, so wie es den Idealen der Aufklärung entsprach, und auf strenger Zucht und Disziplin, wie es den pietistisch-preußischen Vorstellungen entgegen kam, begründete.

 

 

 

Schule am Kirchplatz um 1850 (nach: Archiv Fam. Zähle)

Übrigens soll Francke 1702, als er sich in Calbe aufhielt, in der Kirche der Armen, Kranken und Hilfsbedürftigen, der  Heilig-Geist-Kirche (vgl. Station 10), nicht in der Hauptkirche der Stadt, gepredigt haben!!! Allerdings ist diese Predigt bislang nicht aktenmäßig und durch zeitgenössische Zeugnisse belegbar. Warum Hävecker in seiner berühmten Chronik dieses Ereignis nicht erwähnt, ist unklar. War der mit ihm im Pietismus verbundene Francke ein unliebsamer Konkurrent oder hat es der alte Mann bei der Niederschrift ganz einfach vergessen?

 

Seine neuen pädagogischen Ziele waren zwar für die Calbenser neue Schule viel zu hoch gesteckt, denn hier wurde keine preußische Elite herangebildet; aber so ähnlich, wenn auch auf einfacherem Niveau, muss man sich die neue Art der Bildung und Erziehung um 1700 in der "neuen Schule an der Stephani-Kirche" vorstellen. Während sich in vielen kleineren Städten, besonders aber auf den Dörfern, das Schulwesen noch in einem erbärmlichen Zustand befand, besaß Calbe eine solche beachtliche Schule, die erst 1880 (vgl. Hertel)  wegen einer überholten Räumlichkeitssituation abgerissen wurde.

Als es noch keine elektrischen Klingelanlagen gab, hing hier vor hundert Jahren die Schul-Glocke am Haus des Schulkastellans

Das  Calbesche Bildungssystem war sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit durchaus sehr beachtlich.

Zu Beginn der zweiten Etappe der industriellen Revolution mussten neue, den kapitalistischen Bedürfnissen entsprechende Schulen gebaut werden. In der Mitte des 19.Jahrhunderts hatte das Schulwesen in Calbe einen für die damalige Zeit sehr hohen Stand erreicht. Es gab zwei Erste Bürgerschulen (Knaben- und Mädchenschule), zwei Zweite Bürgerschulen (vgl. Station 19) und zwei Volksschulen, wovon die Schule am Kirchplatz die neue Knaben- und Mädchen-Volksschule wurde.

Die  "neue Volksschule" wurde im Jahr 1857 mit einem Kostenaufwand von 13.683 preußischen Talern durch den Bauunternehmer Daniel Traut - direkt südlich neben der alten Knabenschule von 1695 - errichtet. - Dietrich rechnete das in Reichsmark um und gab 42 000 Mark an (vgl. Dietrich, Heimat, S. 5). Auch sein Bericht über die feierliche Einweihung dieser Schule vermittelt uns einen kleinen Einblick in das städtische Kulturleben jener Zeit. Max Dietrich, der selbst als Lehrer in dieser Volksschule sowie als Küster an der St.-Stephani-Kirche tätig war und der sich auch hervorragend um die Heimatforschung verdient gemacht hat, schrieb (ebenda, S. 5f.):

"Die Grundsteinlegung fand am 2. Mai 1857, vormittags 11 Uhr, in feierlicher Weise durch den Oberpfarrer Stöckert statt. Am 15. April 1858 wurde das Schulhaus eingeweiht und bezogen. Sämtliche Schulkinder hatten sich zu dieser Feier im Festanzuge klassenweise auf dem Schulplatz versammelt. Auch waren der Landrat, die Mitglieder des Magistrats, die Stadtverordneten und die Lehrer zu der Feier erschienen. Durch Glockengeläut wurde die Feier eingeleitet. Der folgende gemeinsame Gesang der vier ersten Strophen des Liedes: <Ach bleib mit deiner Gnade> wurde durch Musikbegleitung unterstützt. Oberpfarrer Stöckert hielt die Weihrede auf Grund des Schriftwortes: <Wo der Herr nicht das Haus baut etc.>. Nach der Weihrede erfolgte die Schlüsselübergabe zum Hause. Rektor Dölske öffnete nach abermaligem gemeinsamen Gesange der beiden letzten Strophen des genannten Liedes die Türen des Schulhauses. Die Knaben zogen in den ersten, die Mädchen in den zweiten Eingang. Das Haus erhielt 16 Klassenräume, zwei Giebelstuben und in der Mitte des oberen Stockwerkes einen Schulsaal. Unter dem Schulsaal, der auf 8 steinernen Säulen ruhte, führte bis zum Jahre 1880 der gepflasterte <Kirchweg> auf den Kirchplatz. Saal und Kirchweg sind 1880 in zwei Klassenzimmer verwandelt worden."

Ein Beispiel für ökologisch-praktische Bauweise im 19. Jahrhundert zeigen die Wände im Inneren dieser Schule, sie sind aus Holzbalken, Lehm und Stroh gebaut.

Doch gleich nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches musste ein Erweiterungsbau, diesmal im Gründerstil, her. Er wurde auch wieder südlich an die Schule von 1858 angesetzt. Dafür trug man nach Fertigstellung des neuen Backstein-Erweiterungsbaues das alte nördliche Gebäude von 1695 ab. Lehrer Max Dietrich (ebenda, S. 4f.) sah das als Zeitzeuge so:

"Das Schulhaus ist in den Jahren 1879 - 1880 vom Maurermeister Förster erbaut. Die Baukosten betrugen 48 000 Mark. Als Platz zum Bau diente ein Teil des Schulhofes und der frühere Oberpfarrgarten. Das Schulhaus wurde am 1. November 1880, vormittags 9 Uhr, feierlich eingeweiht. Zu der im früheren Schulsaal abgehaltenen Feier waren die Mitglieder des Magistrats, die Stadtverordneten, die Schuldeputation, die Bau- und Werkmeister, die Lehrer, die oberen Klassen der Töchterschule und Mädchen-Bürgerschule, die erste Klasse der Knaben-Bürgerschule und der Knaben-Volksschule sowie je drei Kinder aus allen übrigen Klassen erschienen. Gemeinsamer Gesang der Strophe: <Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren> leitete die Feier ein. Bürgermeister Biermann übergab darauf das Gebäude seiner Bestimmung. Kreisschulinspektor Pastor Hundt weihete das Gebäude ein; und Rektor Schulze sprach im Namen der Lehrer gleichfalls seine besten Wünschen für das Bestehen der Schule aus. Mit dem gemeinsamen Gesange der Strophe: <Nun danket alle Gott> wurde die Feier beendet. Im Jahre 1899 wurde der Schulsaal ... durch eine Wand geteilt. Auch wurde die ... 5a-Klasse nach Osten hin durch Versetzung einer Wand vergrößert und durch das eingesetzte große Glasfenster besser beleuchtet. Dadurch ging ein kleines Klassenzimmer verloren. Ein Teil dieses Zimmers bildet jetzt den vergrößerten Flur und den Zugang zu der 2a-Klasse. Im März 1906 wurde im südlich angrenzenden Nachbarhause für den Rektor der Mädchen-Volksschule ein Geschäftszimmer und darüber ein Zimmer für die Lehrer eingerichtet. Die Stadt hat dieses Grundstück für 7000 Mark angekauft. Der ursprünglich dahinter liegende Garten wurde abgetragen und der so entstandene Platz als Schul- und Spielplatz für die Kinder benutzt."

Beide Gebäudeteile nahmen jetzt die zwei Volksschulen auf, der südliche die Mädchen-, der nördliche die Knaben-Volksschule. Da aber der Backsteinanbau kleiner war, kamen im Bau von 1858 14 Jungen- und 5 Mädchen-Klassen, im Backsteinteil 10 Mädchen- und eine Jungen-Klasse unter. Die vereinigte städtische Volksschule im Zentrum Calbes beherbergte also 30 Klassen mit meist 28 Schülern. Das bedeutete eine Kapazität von ca. 840 Schülern.

Über die an die Volksschule angrenzenden Örtlichkeiten schrieb Dietrich in seiner kleinen "Heimatkunde" für seine Schülerinnen und Schüler (ebenda, S. 6 ff.)

"Vor dem Schulhause liegt nach Osten ... der Schulhof. Er ist durch ein eisernes Gitter in zwei Teile getrennt. Auf dem kleineren, südlichen Teile stehen die Aborte der Mädchen und der Steigerturm für die freiwillige städtische Feuerwehr. An diesem Turme führt die Feuerwehr ihre Steigerübungen aus. Neben dem Steigerturme liegen die Aschen- und Müllgruben. Dieser kleine Platz ist mit Kugelakazien bepflanzt. Der große, ebenfalls ungepflasterte Platz ist auch mit Bäumen bepflanzt. Unter den Bäumen, Kastanien, Ahorn, Rüster und Eschen, befindet sich auch eine Eiche. Sie heißt die Luthereiche ... Der jetzige Baum ist am 29. November 1899 gepflanzt. Die Südseite des großen Teiles vom Schulplatz bilden die Aborte der Knaben, das Wohnhaus des Schuldieners oder Schulkastellans, das Pastorhaus und die Seitengebäude der Apotheke. Im Kastellangebäude liegt auch die Volksküche, in welcher für Arme und Arbeitslose zur Winterszeit für geringes Geld ein schmackhaftes Mittagbrot zubereitet wird. Die Ost- und Nordseite des Schulplatzes werden von Geschäftshäusern des Marktplatzes und der Querstraße umgrenzt. An der West- oder Abendseite des Schulplatzes liegt der Rolandgarten. In ihm steht das Standbild des Roland."

Der Rolandgarten war, wie oben schon erwähnt, an der Stelle entstanden, wo bis 1880 das alte Schulhaus von 1695 gestanden hatte. 1889 war für die Volksschule eine Turnhalle an der Ostseite des Neuen (Schweine-) Marktes, da wo heute das Haus des Kindes steht (vgl. Station 19), erbaut worden (vgl. Dietrich, Heimat, S. 25).

Zum Abschluss werfen wir noch mit Hilfe des Zeitzeugen Max Dietrich einen Blick in ein Klassenzimmer um 1900.

Zeichnung Max Dietrichs in seinem Heimatkundebuch mit Beschriftungen vom Webautor

Im Zentrum der Nordseite der von Dietrich als Beispiel hervorgehobenen Mädchenklasse 5b stand ein erhöhtes Pult mit Stuhl, das so genannte Katheder. In dem Kathederpult bewahrte der Lehrer seine Bücher auf. Daneben bzw. schräg hinter dem Katheder standen ein Schulschrank (mit Arbeitsheften, Handarbeitsgeräten, Lehrergeige und einer großen Tintenflasche) sowie zwei transportable Tafeln auf Stativen.  An der Ostseite befanden sich verschiedene Bilder und die Büste des Kaisers. In der Südostecke stand ein großer Kachelofen. Jedes der drei hohen Fenster hatte ein Kreuz mit vier Flügeln. Jede der 14 doppelt besetzten Schulbänke bestand aus einem Sitz, einer Tischplatte und einem Bücherbrett darunter. In der Tischplatte waren die Tintenfässer eingelassen, die aus der großen Tintenflasche, welche sich im Klassenschrank befand, bei Bedarf nachgefüllt werden konnten.

Eine der je nach Klassenfrequenz hintereinander zu stellenden Doppelbänke, wie sie etwa sieben Jahrzehnte in den Volksschulen benutzt wurden

Ähnliche Schulbank-Variante

Einige  der älteren Besucher der Seite werden sich noch an diese orthopädisch durchaus vertretbare Sitzart erinnern können.

Etwa so wie in diesem Klassenraum einer Stettiner Volksschule 1914 sah es auch in unserer Schule zu jener Zeit aus. Interessant: Jungen und Mädchen wurden dort bereits 1914 gemeinsam unterrichtet. (Nach: Ebeling, Hans / Birkenfeld, Wolfgang, Die Reise in die Vergangenheit, Bd. 4, Ausgabe Berlin ... , Braunschweig 1991, S. 159)

 

Von M. Dietrich (Unsere Heimat, a. a. O.) angefertigter Grundriss der städtischen Volksschule um 1900 (Den Backsteinbau von 1880 habe ich hellgrau unterlegt - D.H.St.)

Die Knaben- und Mädchen-Volksschule um 1900, rechts: Rolandgarten mit Rolandhäuschen, wo bis 1880 noch die alte Schule von 1695 gestanden hatte (nach: Dietrich, Unsere Heimat...). Jetzt befindet sich an der Stelle des länglichen helleren Baues ein Parkplatz.

 

Knaben-Volksschule und Rolandgarten (vgl. Station 2) um 1930, im Hintergrund rechts das ehemalige Rittergutsgebäude (vgl. Station 8)

 

Knaben- und Mädchen-Volksschule, später Heinrich-Heine-Schule - deutlich sieht man den Unterschied zwischen dem Bau von 1858 (vorn rechts) und dem hinteren Backsteinanbau im Stil des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts (nach: Foto von Dorothea Kraatz [Stadtarchiv Calbe])

In dieser Konstellation war die Schule bis zum Jahr 2000 in Betrieb, zuerst als Knaben- und Mädchen-Volksschule, zuletzt als Heinrich-Heine-Schule und als Außenstelle der Musikschule Magdeburg. Aus der Zeit vom Ende des 19.Jahrhunderts stammt auch das Backsteinhaus des Schulkastellans gegenüber der Schule.

Ein Schulkastellan war früher ein Schuldiener, später wurde daraus die Funktion des Hausmeisters. Der Begriff "Kastellan" ist durchaus heiter gemeint, denn eigentlich bedeutet er "Burghauptmann" (vgl. Kastell=Burg).

Alles in allem war diese Schule am Kirchplatz bis zu ihrer Schließung im Jahre 2000 die älteste, mit kleinen räumlichen "Verschiebungen" bis ins 14. Jahrhundert (siehe oben), zurückzuverfolgende "aktive" Schuleinrichtung in Calbe.

Im August 2002 wurde der älteste noch erhaltene und am längsten genutzte Schulbau Calbes mit bedeutender Tradition, die Knabenvolksschule von 1858, abgerissen.

1945 bis 2000 die Heinrich-Heine-Schule (Nordtrakt)

Der Backstein-Südteil der ehemaligen Volksschule