19. Und nun gehen wir durch die schmale Passage am oberen (südlichen) Ende der "Breite". Hinter der südlichen (zweifachen) Stadtmauer (vgl. Station 15) begann die Bernburger Vorstadt, die aus drei Teilen bestand, dem "Lorenz" (1600 und 1705 - 31 Häuser), der "Fischerei" (unterer Teil der heutigen "Großen" und "Kleinen Fischerei" mit 1600=36 bzw. 1705=44 Häusern) und weiter im Süden der "Unterwällischen Bauernschaft" (in der Bernburger Straße mit dem s. g. Hirtenwinkel mit 1600=19 und 1705=39 Häusern). Diese drei im Mittelalter noch stark getrennt existierenden dörflichen Siedlungsteile verschmolzen, während die Wunden des Dreißigjährigen Krieges verheilten, Ende des 17. Jahrhunderts allmählich durch Zwischenbau neuer Häuser zu einem Vorstadt-Ganzen (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, S. 32). Der Name "Lorenz" ist die Eindeutschung von Laurentius und bezieht sich auf die romanische Kirche gleichen Namens (vgl. Station 20).

 

Die Bernburger ist die ältere der beiden Vorstädte. Ob der Mittelpunkt des Burgwardbezirkes, wie ein solcher bereits im Jahre 961 urkundlich belegt ist (- calvo wird als burgwardium bezeichnet), hier zu suchen ist, kann nur durch Bodenbefunde sichergestellt werden. Der Begriff "Sudenburg" hängt nach Meinung von K. Herrfurth mit "suburbium" (=Vorstadt) zusammen, wie Analogien zu anderen "Sudenburgen" nahe legen. Allerdings gibt es auch genügend Beispiele dafür, dass gerade der Terminus "suburbium" eine "Vorburg" oder auch eine "Burgsiedlung" bedeutet hatte. Dann aber bliebe immer noch die Frage offen, wo sich in Calbe eine solche Burg befunden haben könnte (vgl. Station 21). Möglicherweise war es auch nur eine Anlage aus Holz, in der man sich ver"bergen" konnte, mit einem zentralen Schutz- und Verteidigungsgebäude. In diesem Fall wären Bodenfunde so gut wie ausgeschlossen. Wie M. Dietrich behauptete, gab es im Bereich der Bernburger Vorstadt ein Lehngut namens Sudenburg, dem Bewohner der Unterwällischen Gemeinde hörig waren (vgl. Station 21, vgl. Dietrich, ebenda). Ein Hörigkeit der Vorstadtbewohner bestand allerdings im Mittelalter gegenüber dem Schloss (vgl. Station 11), und auch später gehörte die Landgemeinde "Bernburger Vorstadt" in den Kompetenzbereich des Schlossamtes (vgl. Dietrich, Ein Gang..., a. a. O., S. 14). Als Landgemeinde hatte sie auch einen Dorfschulzen an ihrer Spitze (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, ebenda). 1660 betrug der Viehbestand der Südvorstädter 3 Pferde, 62 Kühe, 162 Schafe, 21 Schweine und etliche Hühner (vgl. Dietrich, Gang, S. 15,vgl. dazu den Viehbestand der Schlossvorstädter - Station 13). Die wohlhabenderen Stadtbürger sahen auf solche Vorstädte geringschätzig herab. Die Einwohner der Bernburger Vorstadt durften ihre Äcker selbst nicht bestellen, das taten wie in der Schlossvorstadt die Bürger - gegen Gebühren, versteht sich. Auch für die Nutzung der Stadt-Wiesen (- selbst durften sie keine besitzen -) mussten die Vorstadt-Bewohner laut Anordnung des Schlosshauptmanns Levin v. Barby vom 30. April 1667 je Stück Weidevieh 1 Groschen Weidegeld bezahlen. Nur die Fischermeister (vgl. Station 21) hatten zwei Stück Rindvieh gebührenfrei (vgl. Dietrich, Gang, S. 14 f.). Im Mittelalter durften die Vorstädter ihr Vieh nicht auf dem Thie weiden (vgl. Station 11).

In den mittelalterlichen Adelsfehden und den frühneuzeitlichen "Glaubenskriegen" hatten Vorstadt-Bewohner stets ein besonders schweres Los, da die Belagerer meist die armseligen Hütten vor den Mauern aus Wut abbrannten, wenn sie die Stadt nicht stürmen konnten, oder Inventar und Hausgebälk für ihre eigenen Soldatenlager benutzten (vgl. Station 6). Durch die Einwirkungen des Dreißigjährigen Krieges sank die Einwohnerzahl in der Bernburger Vorstadt um 28 Prozent.
 

Den Lorenz als Teil der Bernburger Vorstadt betreten wir, wenn wir durch den oben erwähnten schmalen Durchgang, der früher "Schweinetor" hieß, auf den "Neuen Markt" (auch "Schweinemarkt" genannt) gehen.

 

Das Schweinetor um 1930 (nach: Falt-Poster von 1986)

Schweinemarkt (Neuer Markt) und Schweinetor 2002

Der Neue Markt sollte nicht mit dem 370 m weiter südöstlich liegenden, von Erzbischof Wichmann Graf von Seeburg (Regierung 1152 - 1192) 1160 angelegten neuen Markt (vgl. Station 1) verwechselt werden. Der kleine Platz, auf dem wir stehen, wurde auch Schweinemarkt genannt, weil hier noch bis in die 1930er Jahre hinein Viehmärkte abgehalten wurden; besonders mit Ferkeln und Läuferschweinen. Ursprünglich hatte ein jährlicher Viehmarkt vor dem Brumbyer Tor am Dienstag nach Mariae Geburt (8. 9.) stattgefunden (vgl. Hävecker, Chronica..., a. a. O., S. 75). Erst als nach dem gescheiterten Kanalbau (vgl. Station 20) das angefangene Kanalbett wieder zugeschüttet worden war, wurde auf dem neu entstandenen kleinen Platz viermal im Jahr Viehmarkt abgehalten.
 

Im Bereich des Neuen Marktes wurde 1947 bis 1950 das "Haus des Kindes" errichtet. Vorher hatte hier seit 1889 die Turnhalle der Volksschule (vgl. Station 7) gestanden (vgl. Dietrich, Heimat, S. 25).

 

Haus des Kindes

Dieser Kindergarten ist ein Beispiel für die Aufbau- und Aufbruchstimmung im Nachkriegsdeutschland. Das Haus vermittelt uns einen Einblick in die optimistische Zukunfts-Sicht der Menschen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten.

Die erste "Kleinkinderbewahranstalt" in Calbe für 50 bis 60 Kinder  wurde 1851 gegründet. Sie lag in der westlichen Häuserzeile der Tuchmacherstraße. Eine Lehrerin übernahm die Betreuung der noch nicht schulpflichtigen kleinen Kinder für wenige Pfennige (um 1900 18 Pfennige pro Woche). Die Betreuung erfolgte den ganzen Tag über (vgl. Dietrich, Heimat, S. 23), ein deutlicher Hinweis darauf, dass mit voranschreitender Industrialisierung auch immer mehr Frauen aus den unteren Bevölkerungsschichten am Arbeitsprozess teilnahmen. Frauenarbeit fand man in jener Zeit besonders in den auch für Calbe typischen Tuchfabriken.

Schon 1802 hatte die Fürstin zur Lippe eine "Kinderbewahranstalt" gegründet. Den Begriff des Kindergartens und dessen inhaltliche Ausformung hatte 1837 der mit Pestalozzi bekannte deutsche Pädagoge Friedrich Wilhelm August Fröbel entwickelt. Kinder sollten sich so frei wie Blumen in einem Garten entwickeln, daher der Name Kindergarten. In der Vorstellung, dass freie Kinder durch Spiel erzogen werden sollten, witterte das preußische Kultusministerium revolutionäres Gedankengut und erließ in der nachrevolutionären Reaktions-Phase zwischen 1851 und 1860 ein Verbot für die sich rasch ausbreitenden Kindergärten. Danach aber war der Siegeslauf der Kindergarten-Idee weder im deutschen Kaiserreich noch in der ganzen Welt aufzuhalten, schon wegen der mit der Industrialisierung verbundenen zunehmenden Arbeitstätigkeit der Frauen.

So hatte wohl die Calber Kleinkinderbewahranstalt von 1851 wenig mit dem frischen, fröhlichen und spielerischen Geist Fröbels zu tun, aber ein Anfang war gemacht.

Es hatte einen erheblichen symbolischen Wert, dass 1947 in einer Zeit der großen Wohnungsnot, als Menschen in Baracken untergebracht werden mussten, ausgerechnet das Projekt eines Kindergartens in Angriff genommen wurde. Am 1. April 1950 fand die feierliche Einweihung statt.

Auf der westlichen Seite gegenüber dem Haus des Kindes befindet sich das Gerätehaus der Feuerwehr.

Feuer zu löschen, war gerade im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein existentielles Anliegen, das von allen Mitgliedern  der Kommunen getragen werden musste (vgl. Station 10).

Seit 1745 wurde an der Brandstelle eine Wasserpumpe (Spritze) benutzt. Das Gebäude zur Aufbewahrung der Pumpe war das Spritzenhaus an der St.-Stephani-Kirche (vgl. Station 5 und Dietrich, Heimat, S. 10). In einer Zeit der großen nationalen Begeisterung wurde in Calbe 1869 von der Bürgerschaft, besonders vom Männer-Turnverein die Gründung einer städtischen freiwilligen Feuerwehr wiederholt angeregt (vgl. Reccius, Chronik..., a. a. O., S 92). Es dauerte jedoch noch einige Jahre, bis dieser Plan nach der Reichsgründung verwirklicht wurde. Im "Gründer-Rausch" nach der Einigung Deutschlands erlebte die 1878 mit 42 Mitgliedern gegründete Freiwillige Feuerwehr der preußischen Kreisstadt Calbe eine erste Blüte.

Im Nachhinein sieht es fast so aus, als wären die Feuerwehren und Schützenvereine in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zum Ersatz für die Bürgerwehren der Revolutionszeit gegründet worden. 

 

Feuerwehr-Gerätehaus

Mit Wasserfass und Karrenspritze (wie im 18. Jahrhundert) hatte die erste "Wehr" angefangen, aber bald schon wurden, der wirtschaftlich-technischen Blütezeit Deutschlands angemessen, eine vierrädrige Saug- und Druckspritze und eine telegrafische Feuermeldeanlage angeschafft. Um 1900 besaß die Calbesche "FFW"  3 Handdruckspritzen, 2 Wasserwagen, 1 mechanische Leiter, 1 Wagen für die Leiter, 3 Hydrantenwagen, 1 Steigerwagen und 1 Pferdeomnibus zum Transport der Feuerwehrmänner. Der Alarm erfolgte nun nicht mehr durch die fast tausend Jahre geschwungene, wildromantische Sturmglocke, sondern durch Handsirenen, und der uralte Posten des Turmwächters wurde gestrichen. Von der Polizeiwache aus wurde im Alarmfall ein Klingelsignal bei einigen Wehrmännern in den einzelnen Stadtgebieten ausgelöst, die dann die Sirenen betätigten (vgl. R. Wilke, Freiwillige Feuerwehr in Calbe, in: Heimatfest 1957 Stadt Calbe Saale, Calbe/S. 1957, S. 19). So ist es dann im Grundprinzip ca. 100 Jahre lang geblieben. Neben dem Kirchplatz bei der Volksschule (vgl. Station 7) war ein Steigerturm zwischen den Mädchentoiletten und der Abfall- und Aschengrube errichtet worden (vgl. Dietrich, ebenda, S. 6). Das Spritzenhaus befand sich zu  jener Zeit auch weiterhin an der Südseite des Chorhauses der Stadtkirche und ein anderer Teil der Geräte (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) in der Hospitalkirche. Natürlich machte die Motorisierung auch vor der Feuerwehr, und besonders vor dieser, nicht halt. 1888 hatte Gottlieb Daimler sein Patent für eine „Feuerspritze mit Motorbetrieb” erhalten. 1925 wurde in Calbe eine Motorspritze mit dem dazu gehörenden Zugwagen angeschafft. Nun aber reichten die bescheidenen Geräteräume an der Stadtkirche und in der Hospitalkirche nicht mehr aus. 1928, also 50 Jahre nach ihrer Gründung,  erhielt dann die FFW Calbe das schon lange erwünschte Feuerwehrdepot mit Wohnungen am Neuen Markt (vgl. Wilke, a. a. O.). Zum Löschen der  verheerenden Brände in Hannover, Magdeburg und Dessau, die durch die anglo-amerikanischen Bombenmassaker während des Zweiten Weltkrieges ausgelöst worden waren, wurde auch die Calber Wehr, zumindest das, was davon noch übrig geblieben war, herangezogen.

 

Hofseite des Feuerwehr-Gerätehauses

Die Entwicklung der FFW Calbe ist eng verbunden mit dem Wirken Willy Heinemanns. Die Positionen der Feuerwehr-Hauptleute hatten seit 1878 stets die angesehensten Bürger der Stadt inne gehabt. Einer dieser geschätzten und geachteten Calber Bürger war Willy Heinemann. Er, dessen Vater Leiter der jüdischen Synagogen-Gemeinde in Calbe war (vgl. Station 4 unterer Teil), hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und das Eiserne Kreuz II. Klasse bekommen. Heinemann, Inhaber des Konfektionsgeschäfts Markt Nr. 6, war Mitglied der SPD und Abgeordneter im Stadtparlament. Der aktive und sportliche  Mann hatte den Radfahrverein in Calbe mit begründet, war der Freiwilligen Feuerwehr 1900 beigetreten und 1919 deren Branddirektor geworden. Unter seiner Leitung entwickelte die Calber Feuerwehr eine beachtliche Leistungsstärke, und er war es gewesen, der die Errichtung des Depots mit den Wohnungen vehement angeregt und vorangetrieben hatte. Die Einweihung 1928 wurde für ihn und für Calbe zum Triumph, aber schon 1931 waren die rechtsradikalen Kräfte so stark, dass der in Calbe geachtete und beliebte Mann vom Posten des Branddirektors zurücktreten musste. Als die nationalsozialistischen Faschisten an der Macht waren, wurde der Jude Heinemann, dem die Calber Wehr so viel zu verdanken hatte, auf "einstimmigen Beschluß" !!! am 31. März 1933 aus der FFW ausgeschlossen. Als die Mitgliederzahl der Feuerwehr am Ende des Krieges immer mehr schrumpfte, aber die Lösch-Aufgaben durch die Bombenangriffe immer größer wurden, wurde auch Willy Heinemann, der wegen seiner Verdienste um die Stadt und seiner Ehe mit einer "Arierin" "nur" zu Hausarrest gezwungen worden war, auch wieder zur Feuerwehr- und inoffiziell auch zu deren Leitungs-Tätigkeit herangezogen. Nach Kriegsende beauftragte der erste sowjetische Stadtkommandant in Calbe Willy Heinemann mit dem Wiederaufbau der Freiwilligen Feuerwehr. Nach 48 Dienstjahren in der Wehr wurde der Ehrenbranddirektor Heinemann feierlich verabschiedet, er starb in den 1960er Jahren (Informationen über Branddirektor Heinemann nach Recherchen von Hanns Schwachenwalde).
 

Das Gehöft an der südöstlichen Seite des Schweinemarktes war bis 1700 oder 1720 (vgl. Dietrich, Gang, S. 16, ders., Heimat, S, 25, Hertel, Geschichte..., a. a. O., S. 134) das Pfarrhaus der Laurentiikirche. Bei der vom König Friedrich Wilhelm I. befohlenen Erweiterung der St.-Laurentii-Kirche (vgl. Station 20) ist auch "eine neue Pfarr-Wohnung erbauet und die alte dem Cantori eingeräumet worden..." (Hävecker, S. 48). Dieses neue Pfarrhaus wurde nur wenige Meter weiter südlich vom alten entfernt errichtet. Seit 1826, 1829 oder 1833 (- die unterschiedlichen Angaben stammen von Dietrich und Hertel -)  diente es dann auch als Schulhaus für die Kinder der Bernburger Vorstadt (vgl. Station 13). Bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte deren Unterrichtung im Haus des Kantors bzw. vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts im alten Pfarrhaus an der Ost-Ecke Großer Lorenz/Neuer Markt (vgl. Hertel und Dietrich, a. a. O.). Hertel und Dietrich erklärten, dass 1854 neben dem Schul- und Pastorenhaus vom Anfang des 18. Jahrhunderts noch ein weiteres erbaut wurde, in dem auch die Lehrer wohnten (vgl. Hertel, Geschichte, S. 134, Dietrich, Calbenser Ruhestätten, a. a. O., S. 19 ), und Dietrich als Zeitzeuge wusste, dass das barocke Pfarr- und Schulhaus 1883 nach der Einrichtung der neuen Schulstraße abgerissen worden ist (vgl. Dietrich, Gang, S. 16, ders., Heimat, S. 25). Nach diesen Angaben wäre also das wie eine ehemalige Schule  aussehende gelbe Gebäude im Großen Lorenz nicht das barocke Pfarr- und Schulhaus, sondern der Ergänzungsbau von 1854. Die bauliche Lücke zwischen den beiden ehemaligen "Schulen" könnte ein Indiz dafür sein.

 

Altes Pfarr- und Schulhaus vor 1700 (Hier hatte auch C. Müller, der erste evangelische Pfarrer der Vorstadt und Pestpfarrer von Calbe, vgl. Station 10 und 20, gewohnt) Teil der Schule in der Bernburger Vorstadt von 1854 - nach 1882 war hier ein Büro des Schlossamtes eingerichtet (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 19)
Pfarrhaus der Lorenzgemeinde nach 1882 in der Bernburger Straße

(vgl. Dietrich, Heimat, S. 26)

Die Schulstraße war 1882 eingeweiht worden. Hier hatte man 1881/82 ein neues zweistöckiges Backstein-Schulgebäude für die Landgemeinde Bernburger Vorstadt gebaut, denn immerhin war die Bevölkerungszahl gerade im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark gestiegen (s. Abb. oben). Nach der Vereinigung der Vorstädte mit der Stadt im Oktober 1899 (vgl. Station 13 und 18) setzte man dem Gebäude 1905 jedoch ein drittes Stockwerk auf und fügte 1906 einen gewaltigen Ostanbau hinzu. Nunmehr war aus der "Dorf"- eine Real-Schule geworden. Die Baukosten beliefen sich auf 80 000 Reichsmark (Die Volksschule auf dem Kirchplatz hatte ca. 90 000 Mark gekostet). Um 1910 brachte man in diesem hohen Ostanbau zwei 6. Klassen, "Vorschulklassen" genannt, die Aula und die Prima (12. Klasse) sowie im Dachgeschoss die Turnhalle unter. Im westlichen Teil lagen "im Erdgeschoss eine Vorschulklasse, die Klassen Sexta, Quinta und Quarta [7., 8. 9. Klasse - D. H. St], im Oberstock die Tertia und Sekunda [10., 11. Klasse - D. H. St], das Lehrmittelzimmer, das Zimmer des Direktors und das Lehrerzimmer, im dritten Stock der Zeichensaal, der Physiksaal und die Bibliothek." (Dietrich, Heimat, S. 26, s. Abb.).

Grundriss Realschule, 1. Etage (nach: Dietrich, Heimat, s. 27)

Am 15. April 1901 war gleich westlich neben der Realschule der Grundstein für die "Gehobene Bürgerschule für Mädchen" gelegt worden, die Einweihung des 69 000 Reichsmark teuren, roten Backsteinhauses im damals so beliebten Neorenaissance-Stil erfolgte am 7. April 1902. Nachdem sich die Schülerinnen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, den Magistratsmitgliedern und Stadtverordneten in der am Neuen Markt gelegenen Turnhalle (s. oben) zu einer Vorfeier versammelt hatten, begab sich der festliche Zug zu dem neuen Gebäude. Nach der Schlüsselübergabe an den Rektor Schünz folgten die unvermeidlichen Ansprachen des Bürgermeisters Mittelstädt, des Kreisschulinspektors und Stadtpfarrers Müller, des Superintendenten Hundt und des Rektors. Dann durften die Schülerinnen ihre Klassenräume und das Schulgebäude klassenweise besichtigen. Im Keller dieses Gebäudes waren die Wohnung des Schuldieners (heute: Hausmeisters), der Dampfheizungsraum und ein Brausebad, im Erd- und Obergeschoss die Unterrichtsräume sowie im Dachgeschoss das Rektor-Zimmer, das Lehrerzimmer und der Zeichensaal untergebracht (vgl. ebenda).

In Zeiten der DDR wurde aus der Gehobenen Bürgerschule für Mädchen die Grundschule (Klassen 1 - 8), später die Polytechnische Oberschule (Klassen 1 - 10) "J. W. Goethe" und aus der Realschule die Oberschule (Klassen 9 - 12), später die Erweiterte Oberschule (Klassen 11 - 12) "Karl Marx". Heute ist in beiden Gebäuden die Goethe-Grundschule (Klassen 1 - 4) untergebracht.

Die ehemaligen "Höheren Schulen" in der Schulstraße (vorn die "Gehobene Schule für Mädchen", dahinter die Realschule)

Hier im Lorenz-Gebiet, gleich neben dem Vorstadt-Kirchhof, befanden sich im Hochmittelalter wie in anderen Teilen der Stadt Weingärten. Noch heute heißt ein Hang im Bereich der Hohendorfer Feldmark der "Weinberg" (vgl. Station 22), im Winter bei Calber Kindern eine beliebte Rodelpiste. Die Quellen belegen, dass bei Calbe schon im 12. Jahrhundert unter Erzbischof Wichmann (vgl. Station 1) Wein angebaut wurde. 1168 belehnte er das Kloster Gottesgnaden (vgl. Station 12) mit einem Weingarten bei Gribehne (seit vierhundert Jahren Wüstung, vgl. Reccius, Chronik..., a. a. O., S. 8), 1289 schenkte der Magdeburger Erzbischof Erich Graf von Brandenburg (Regierung 1283 - 1295)  dem Deutschen Orden einen Weinberg bei Hohendorf (seit vierhundert Jahren Wüstung), den bisher ein Ministeriale namens Friedrich von Calbe zum Lehen hatte (vgl. ebenda, S. 14) usw.

Aber bereits im 15. Jahrhundert tauchten die ersten Nachrichten auf, dass Calbesche Weingärten wüst lagen oder in Ackerland umgewandelt wurden. Der Weinanbau ging allmählich zurück. Um 1700 ist vom Calbeschen Wein kaum noch die Rede.

Wie kam es, dass zu jener Zeit Wein selbst im heute eher kühlen England angebaut werden konnte, einmal ganz davon abgesehen, dass der Weinanbau sich durch die Ausbreitung des Christentums nach Norden und die damit verbundene  Feier des christlichen Abendmahls notwendig machte?

Es steht fest, dass zwischen 1100 und 1300 in Europa eine kleine Warmzeit herrschte, das so genannte Mittelalterliche Optimum. Die Durchschnittstemperaturen lagen in unseren Breiten um etwa 1,5 Grad Celsius über dem heutigen Stand. Dieses Mittelalterliche Optimum machte es zum Beispiel möglich, dass die Wikinger Grönland als "grünes Land" besiedeln konnten und Leif der Glückliche und seine Mannen das nordöstliche Nordamerika als Vinland (Weinland) erlebten. Dass seit dem 16. Jahrhundert  in Calbe eine Reihe von Weingärten wüst lag und anderweitig genutzt wurde, ging einher mit einem Absinken der Durchschnittstemperaturen in Europa ("Kleine Eiszeit" zwischen 1350 und 1750). Große Klimaveränderungen traten in Europa ein und wirkten sich auf das Leben der agrarisch-bäuerlichen Gesellschaft aus. Wetterkapriolen und missratene Ernten erschütterten die Menschen existentiell bis in ihre seelischen Wurzeln. Hinzu kamen verheerende Naturkatastrophen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts: mehrere, aufeinander folgende Erdbeben in Mitteleuropa auf einer Breite von sechshundert Kilometern mit Tausenden von Toten, die große Flutkatastrophe 1362, welche erhebliche Landmassen an der Nordsee wegriss und etwa 100 000 Menschen verschlang sowie die verregneten und zu kalten Sommer im 14./15.Jahrhundert. In relativ kurzer Zeit verschwanden auch die Wikinger wegen des erheblichen Absinkens der Temperaturen und der extremen Verschlechterung der Umweltsituation fast spurlos aus Grönland. Unter Umwelt- und Klimaforschern hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass offenbar eine Korrelation der Häufigkeit und Schwere der Umweltdesaster zur Sonnenaktivität bestand. Zu allem Unglück kamen noch die seit 1347 periodisch über Europa hinweg rollenden Pestwellen hinzu. In einer Zeit, als wissenschaftliche Analysen im Denken der Menschen noch weitgehend unbekannt waren, wurden die sich häufenden Umweltunglücke auf Sündenböcke zurückgeführt, auf Juden (vgl. Station 4), "Ketzer" und seit dem 16.Jahrhundert verstärkt auch auf die "Hexen" bzw. Schadenszauberer (vgl. Station 1).

Es wird aber nicht nur die Kleine Eiszeit gewesen sein, die den Weinanbau in Calbe zurück gehen ließ, sondern auch der verstärkt ausgebaute Handel mit Ländern, die bessere Weine produzieren konnten, und schließlich auch die allmählich zunehmende Beliebtheit des deutschen "Nationalgetränkes", des Bieres.