20. Zwischen dem Gelände des "Hauses des Kindes" und der ersten "Schule in der Bernburger Vorstadt" (vgl. vorherige Station) führt ein Weg in eine Parkanlage, die einmal ein Friedhof (Kirchhof) war. Gleich am nördlichen Eingang steht ein Luthergedenkstein, der zum 400jährigen Jubiläum der Reformation 1917 aufgestellt wurde. Der Kirchhof der Laurentii-Kirche wird heute der Alte Friedhof genannt, obwohl er nicht mehr als solcher genutzt wird und alle Gräber eingeebnet sind. Er hatte seine Zeit zwischen 1551 und 1844. 

Wegen Platzmangels auf dem Stadtfriedhof (Kirchhof bei der Stephani-Kirche - vgl. Station 6), hervorgerufen durch die hohe Sterblichkeit während der Pestwellen, musste nach einem neuen Kirchhof gesucht werden. Der Rat der Stadt kaufte das Gelände mit Genehmigung des Schlosshauptmanns Hyronimus von Breitenbach östlich vom schon vorhandenen Vorstadt-Friedhof bei der St.-Laurentii-Kirche. Die dort stehenden 2 Häuser wurden abgetragen, die vorhandenen 3 Gärten umgewandelt und das neu entstandene Friedhofsterrain mit einer hohen Mauer umgeben.

 

Der ehemalige Friedhof und die romanische Kirche St. Laurentii - deutlich sieht man die Erhöhung des Geländes.

Lutherstein

Das Eingangs-Doppeltor mit den angefügten Wappen Calbes und von Breitenbachs befand sich dicht am Bernburger Stadttor, denn der Friedhof begann damals direkt an der heutigen Neustadt. Das Gelände des Kindergartens "Haus des Kindes" (vgl. Station 19) gehörte ursprünglich dazu. Weiterhin bekamen die Maurer, Steinmetzen und Tischler den Auftrag, einen Predigerstuhl, d. h. eine Behelfs-Kanzel, im Freien zu errichten und neue Bänke für die Stadtbewohner in der Lorenzkirche zu installieren.

Am 29. September 1551 hielt der Stadtpfarrer (1547 - 1553) Leonhard Jacobi die Einweihungsrede anlässlich der Beerdigung eines sehr jung verstorbenen Menschen. In dieser Rede lobte Jacobi den Propst des Klosters Gottesgnaden Johann de Pusco (vgl. Station 12), weil dieser als ein Mensch bekannt sei, welcher dem "reinen Worte Gottes", also der neuen protestantischen Lehre, zugeneigt und durch sonstige Wohltaten bekannt sei (vgl. Dietrich, Calbenser Ruhestätten, a. a. O., S. 15 f.). Das war ungewöhnlich; nicht der Schirmherr v. Breitenbach, sondern der letzte katholische Propst des Klosters wurde von einem protestantischen Pfarrer gelobt. Wie aus der Rede weiterhin hervorging, hatte Jacobi ein persönlich gutes Verhältnis zum Propst.

Der uralte Vorstadtfriedhof lag nun auf der Westseite bei der Kirche, der neue Stadtfriedhof auf der Ostseite an der Bernburger Straße, beide durch eine Mauer getrennt, die nach dem Dreißigjährigen Krieg abgetragen wurde; Grenzsteine blieben jedoch. Die "städtischen Verstorbenen" wurden von dem oben erwähnten Predigerstuhl im Freien unter einem Mandelbaum verabschiedet, die vorstädtischen noch einmal durch "ihre" geöffnete St.-Laurentii-Kirche getragen. Damals gab es noch eine zweite Kirchentür, die jetzt zugemauert ist.

1844 wurde der (zweifache) Lorenzfriedhof geschlossen und 1875 die letzte Beerdigung (Ratsherr Friedrich Wermuth, geb. 1797) vorgenommen. 1898 senkte man noch die Urne des Sohnes Julius Wohlgemuth aus Bremen in das Grab des Vaters.

Es war wiederum eine hohe Sterblichkeitsrate gewesen, diesmal hervorgerufen durch die Cholera, die dazu führte, dass am 2. September 1844 - nur 150 Meter entfernt - ein neuer Friedhof (der auch heute noch genutzte) eingeweiht wurde. 8 Morgen Stadt-Acker (durch Tausch mit der Domäne) und 1 Morgen testamentarisch übereignetes Land von Fräulein Luise Justine Faulhaber waren erworben worden. Das somit 9 Morgen große Areal wurde mit einer 6 Fuß hohen Mauer aus Barbyer Bruchsteinen umgeben. Das heute noch am Eingang rechts stehende Haus war die Wohnung des Friedhofsaufsehers. Die Leichenhalle links neben dem Eingang existiert nicht mehr.

 

Dafür wurde 1898 eine Friedhofskapelle an der Westmauer des letzten (dritten) Friedhofsteiles (s. unten) im neogotischen Backstein-Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts errichtet (s. unten).

 

Der neue Friedhof um 1920 - Die ab 1898 gepflanzten Bäume haben jetzt riesige Ausmaße erreicht (nach: Heimatstube-Archiv)

In der Nacht vom 21. zum 22. Februar 1850 tobte ein solcher Sturm, dass nicht nur das Dach der Leichenhalle herunter gerissen, sondern auch die neben dem neuen Friedhof stehende Windmühle (- daher: Mühlenbreite -) umgeworfen !!! wurde. Die sich darin festklammernden Müllerburschen kamen wie durch ein Wunder mit dem Schrecken davon (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 24).

 

Am Sonntag, dem Vorabend der Einweihung des neuen Friedhofs, läuteten um 19 Uhr die Glocken. Der Montag, der 2. September 1844, war ein innerstädtischer Feiertag. Um 8.30 Uhr versammelten sich ausgewählte Stadt- und Vorstadtbewohner in der St.-Stephani-Kirche, während sich die Jungen und Mädchen der oberen Bürgerschulklassen vor dem Altar aufstellten. Nach deren feierlichem Gesang bestieg Superintendent Friedrich August Scheele (vgl. Station 9) die schwarz dekorierte Kanzel und hielt die Festrede, in der er dem Bürgermeister, dem Magistrat, den Stadtverordneten und allen "edlen Spendern" dankte. Auf dem Marktplatz wartete eine große Menschenmenge, die Mehrzahl der Stadt- und Vorstadt-Einwohner, um die beiden Verstorbenen, die Frau des "Sonnen"-Gastwirtes (vgl. Station 4) Kreickemeier (vgl. Reccius, Chronik... , a. a. O., S. 88) und den Makler Kruse, zum neuen Friedhof zu begleiten. Der Fest- und Trauerzug hatte sich folgendermaßen formiert: vorn die Mädchen und Jungen der Bürger-, Volks- und Vorstadtschulen mit ihren Lehrern, dahinter die Musikkapelle und der Sängerchor, dann die Geistlichkeit, zwei Trauer-Marschälle, die Kreis-, Stadt- und Vorstadtbehörden sowie schließlich nicht nur viele Einwohner der Stadt und der Vorstädte, sondern auch der umliegenden Dörfer. Man kann sich denken, welches Gedränge auf dem Friedhof herrschte, nachdem der Zug eine Runde um das Friedhofsrechteck zurückgelegt hatte. Die Schulkinder bildeten einen Kreis um die beiden ausgehobenen Gruben. Von einer eigens für diesen Zweck errichteten Kanzel herab weihte Superintendent Scheele den Friedhof, und unter dem Gesang der Schüler wurden die beiden Särge hinab gesenkt.

Ein Jahr später (1845) hielt es der Rat für notwendig, einen städtischen Leichenwagen anzuschaffen, 1878 und 1892 wurden die Friedhofswege gepflastert.

Als 1831, 1855, 1866 und 1875 hochinfektiöse Choleraepidemie-Wellen auch Calbe erfassten, musste der Friedhof erneut, nach nur 22 Jahren, erweitert werden. Das aber war nicht der Hauptgrund, sondern das rasche Anwachsen der Bevölkerung.

 

 

Deutlich ist das sprunghafte Anwachsen der Bevölkerung zwischen 1850 und 1860 sowie zwischen 1890 und 1900 zu erkennen

Für 4422 Taler kaufte der Rat noch einmal 9 Morgen gleich neben dem Areal von 1844. Gegen Gebühren konnten Vorstädte und Domäne auch den neuen Friedhof nutzen. Eine feierliche Einweihung im September 1866 musste wegen der Choleraepidemie ausfallen. Die erste Begrabene im neuen Terrain war die Mutter Dr. Gustav Hertels, des verdienstvollen Heimatforschers. 1889 war auch das zweite Terrain voll mit Gräbern belegt, so dass man trotz massiver Proteste nach 45 Jahren erneut auf den ersten Friedhofsteil von 1844 zurückgreifen musste (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S 24 f.). Dieser war innerhalb von 8 Jahren erneut zur Hälfte mit neuen Gräbern angefüllt.

In der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 24. September 1897 beschlossen die Abgeordneten nach einer Vorlage des Magistrats, eine bis zum Jahre 1936 zurück zu zahlende Anleihe (3,33%) bei der Stadtsparkasse in Höhe von 31 745 Reichsmark und 85 Pfennigen aufzunehmen. Dafür wurden die westlich angrenzenden Ackerstücke (etwas über 10 Morgen) des Landwirtes August Denkert, des Fischermeisters Friedrich Scheele (vgl. Station 21) und des Ökonomen Louis Voigt gekauft. Die Steine für die Umfassungsmauer wurden diesmal aus dem Nienburger Steinbruch beschafft. Am 7. April wurde der erste Lindenbaum gepflanzt. Die Einweihung des dritten Teiles des neuen Friedhofes fand am 26. Juli 1898 um 17 Uhr, verbunden mit dem Begräbnis der Verstorbenen Maria Haring, der Ehefrau eines Bahnwärters, statt. An der Feier nahmen nicht nur der Erste Bürgermeister Mittelstaedt und sein Stellvertreter, sondern auch Rechtsanwalt Grobe als "Stadtverordnetenvorsteher", die Pfarrer Bodenburg von der St.-Stephani-, Ebeling von der St.-Laurentii- und Ehrig von der Schlosskirchengemeinde teil. Am Brücknerschen Erbbegräbnis, vor dem Eingang zum dritten Friedhofsteil, hielt der Zug mit der aufgebahrten Leiche an. Die Honoratioren stellten sich im Halbkreis auf, und Superintendent Hundt hielt eine Rede, bei der er nachdrücklich den Behörden für die zweite Erweiterung des neuen Friedhofes dankte. Zur Eröffnung waren auch viele Einwohner der noch nicht vereinigten 4 Teilgemeinden (Stadt, Vorstädte und Amt) erschienen. Nach der Rede setzte sich der Zug zur ersten Begräbnisstätte des neuen Teiles (auf der linken, südlichen Seite) in Bewegung (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 27, handschriftliche Ergänzungen).

 

Neogotische Friedhofskapelle aus rotem Backstein von 1898 (nach: Hertel, Geschichte... , a. a. O., S. 253)

"Am 22. Dezember 1898, einem Donnerstag, nachmittags 2 Uhr, wurde die auf dem dritten Teile des Friedhofes neu erbaute Friedhofskapelle in Gegenwart des Magistrats, der Stadtverordneten, der Ärzte, der Geistlichen, der Lehrer, der Behörden der beiden Vorstädte und des Amtes feierlichst eingeweiht", schrieb der Augenzeuge und Heimatforscher Max Dietrich (ebenda, S. 28). Die Einweihung fand wiederum mit Beerdigungen statt. Zur Ruhe gebettet wurden Fräulein Emma Schmohl und die Arbeiter-Ehefrau Johanna Wendt, geborene Seifert. Die Einweihungs-Rede hielt gleichfalls Superintendent Hundt, und für die Begräbnisreden waren die zwei Pfarrer Bodenburg (Stadt) und Ehrig (Amt) zuständig. Die Lehrer sangen vierstimmig unter Leitung des Kantors (Kirchenchorleiters) Clewe, und Organist Trenkner begleitete nach Schlusswort und Vaterunser den gemeinsamen Gesang, - wahrscheinlich auf einem Harmonium, einer  mit Hilfe eines Blasebalgs belüfteten kleinen, klaviergroßen  Orgel, ähnlich unserem elektronisch funktionierenden Keybord.

Im Sommer 1899 wurden in jedem der drei Friedhofsteile Wasserbecken zur Gräberpflege angelegt (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 28) .

Man geht gewiss nicht zu weit, wenn man in all diesen Aktivitäten für einen Friedhof, der auch die Vorstadtgemeinden mit einbezog, ein Bekenntnis zur Vereinigung der Stadt Calbe mit den Vorstädten und dem Amt sieht, wie sie dann auch tatsächlich unter Bürgermeister Mittelstädt am 1. Oktober 1899 vollzogen wurde (vgl. Station 18).

 

Die oben erwähnten Cholera-Wellen hatten nicht nur zur Folge, dass der neue Friedhof 1866 erweitert werden musste, sondern dass auch eine verbesserte Trinkwasserversorgung für Calbe gewährleistet wurde. 1894 wurde eine Wasserleitung, ausgehend von der Pumpstation am Kuhberg (nördlich vor der Stadt), in Betrieb genommen. Der Speicherbehälter war im Inneren eines Backstein-Wasserturmes auf der Anhöhe neben dem neuen Friedhof verborgen.

 

Pumpstation des ehem. Wasserwerkes am Kuhberg, im Hintergrund: ehem. Maschinenwärterhaus

Gebäude der ehem. "Chemischen Fabrik Calbe"

Der Kuhberg ist eine Erhebung (62m über NN) rund 2km nördlich vor der Stadt. Hier siedelte sich auch die "Chemische Fabrik Calbe" 1905, teilweise in den Gebäuden der zur Grube "Alfred" gehörenden Brikettfabrik (vgl. Station 22), an. Die "CFC" stellte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ähnlich wie ihre Nachfolgerin "VEB Gelatinewerk Calbe", Leim, Gelatine und Futtermittel her. Im Maschinenhaus des ca. 700m weiter nördlich liegenden Wasserwerkes am Kuhberg wurde das Wasser aus einem tief unter der Erde liegenden natürlichen Reservoir gepumpt, gereinigt und seit 1894 in einer fast 5 km langen Leitung bergauf zum Speicher auf dem Wasserturm befördert (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 37 u. 39) . Von hier aus wurde es zu den Calbeschen Haushalten geleitet. Seit 1996 war dieses System zum Wohl der Calbenser für 500 000 Reichsmark im Besitz der Stadt

 

Wasserturm um 1900 (nach: Hertel, a. a. O. , S. 141.)

Der Wasserturm vor der Sprengung (nach: Heimatstube-Archiv)

In diesem weithin sichtbaren Turm befanden sich zur Verbesserung der Volkshygiene im unteren Teil Kabinen mit Badewannen.

Dieses technische Architekturdenkmal aus der Zeit des Wilhelminismus wurde im Februar 1983 gesprengt und beseitigt.
 

Doch kehren wir wieder auf den nahe gelegenen "Lorenzfriedhof" zurück! Auffallend ist dessen ungewöhnlich unebenes Gelände. Das hat mehr oder weniger seine Ursache in den politisch-wirtschaftlichen Zwistigkeiten des Königreichs Preußen mit einem Nachbarn, dem Kurfürstentum Sachsen.

Im nördlichen Teil des Areals neben der Kirche wurde 1727 das Erdreich für einen Saale-Elbe-Kanal von Calbe nach Schönebeck-Frohse ausgehoben.

Preußen, das sich wie viele europäische Staaten in jener Zeit dem Merkantilismus verschrieben hatte, entwickelte eine gewisse Geschäftigkeit beim Bau von Chausseen und Kanälen. Das so genannte Saalhorn, die Mündungsstelle der Saale in die Elbe, 2 km südöstlich von Barby entfernt, befand sich mit einer dynastischen Nebenlinie, dem Hause Sachsen-Barby, in kursächsischer Hand. Hier traf man auf einen bedeutenden Umschlagplatz des gesamten Salz-, Holz- und Kohlehandels, aber hier wurde von den Kur-Sachsen auch kräftig durch Zölle abkassiert.

"Der Hauptvorteil des projektierten Kanals sollte nach des Königs Meinung darin bestehen, daß alle von und nach Halle und Schönebeck und den dortigen Salzwerken gehenden Sachen, als Salz, Stab- und Brennholz, Steinkohlen etc., dergestalt transportiert werden sollten, daß sie die kursächsischen Zölle beim Saalhorn bei Barby  nicht berührten." (Dietrich, Ruhestätten, S. 20).

Der sparsame König Friedrich Wilhelm I. wollte also nicht nur die Schifffahrtswege verkürzen, sondern in erster Linie den konkurrierenden Kursachsen ein Schnippchen schlagen, wenn er einen geraden Kanal von der Bernburger Vorstadt an Calbe entlang bis nach Frohse bei Schönebeck bauen ließ. Damit musste der Preuße aber nicht nur in Konflikte mit dem Hof in Dresden kommen, sondern auch mit dem Fürsten Johann August von Anhalt-Zerbst, einem Onkel der späteren russischen Zarin Katharina II., dem unter anderem auch das Gebiet um Klein-Mühlingen gehörte. Diese Enklave in preußischem Gebiet, die kurz vor der abzweigenden Straße (K 1298) nach Klein-Mühlingen begann, wurde bei dem Projekt unweigerlich durchschnitten. Unter diesem schlechten Stern der drohenden Auseinandersetzungen mit zwei nachbarlichen Territorial-Mächten, den Anhaltinern und den Kursachsen, wurde der Kanalbau in Angriff genommen.

 

Salz-Schiffe und stark besuchter preußischer Salz-Umschlagplatz ("Salzfaktorei") am Saalhorn um 1700, vorn: Saale, hinten: Elbe (nach: Heimatstube-Archiv). Auf alten Schwedenschanzen aus dem Dreißigjährigen Krieg (vgl. Station 6) wurden 1693 drei Salzmagazine erbaut, außerdem Baracken für Salzknechte, Böttcher und Schiffer und ein Wohnhaus für den Salzfaktor. Im Hintergrund links war kursächsisches und damit für die Preußen zollpflichtiges Gebiet.

Das Saalhorn bei Barby 2003 - Die auf der linken Abb. gezeigte Saalemündung lag damals noch auf Grund einiger inzwischen erfolgter künstlicher Veränderungen des Saalelaufes etwa 1km weiter südöstlich. Dort war die anderthalb Jahrhunderte bis 1847 existierende preußische Salzfaktorei zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch in einigen Mauerresten erkennbar. Bis in die 1930er Jahre gab es dort eine Ausflugsgaststätte und eine Kahnfähre. Heute ist die Stelle nur noch schwer zu erreichen.

Schon am 23. Januar 1726 war der ausgearbeitete Plan für den Kanalbau dem König vorgelegt worden. Für Anwerbungen, Anmeldungen und Anweisungen wurde der Oberstleutnant von Wallrave, gleichsam als Koordinator und Bauleiter, in der Anfangsphase verantwortlich gemacht (vgl. ebenda). Der ehemals in holländischen Diensten stehende Bauingenieur Wallrave war 1715 vom König zum Festungsbau nach Magdeburg geholt und nun für die Kanal-Logistik verpflichtet worden. Bereits am 4. Mai 1725 hatte Wallrave zusammen mit dem Magdeburger Kammerpräsidenten (Chef der Magdeburger Regierung) von Katte und anderen Regierungsmitgliedern sowie dem Oberamtmann Stecher das in Frage kommende Terrain zwischen Frohse und Calbe besichtigt. (Möglicherweise war der Kammerpräsident mit dem unglücklichen, 1730 hingerichteten Hans Herrmann von Katte verwandt.) Insgesamt veranschlagte man als Baukosten 200 000 Taler, die erste Zahlung von vorläufig 50 000 Talern erfolgte am 29. Juni 1726. Arbeitswerkzeug mussten die Zeughäuser in Berlin und Magdeburg bereitstellen. Um von den veranschlagten 200 000 wenigstens 5000 Taler zu sparen, sollten die Steine der schon halb abgebrochenen Stiftskirche in Gottesgnaden (vgl. Station 12) zum Bau der geplanten 5 Schleusen benutzt werden. Der Gottesgnadener Oberamtmann Laue erhielt königliche Order, sich beim Abriss kooperativ zu verhalten. Die Strecke war in 139 Stationen zu je 30 Ruten (etwa 120 bis 150 Meter) eingeteilt worden. Die Kanaltiefe sollte durchschnittlich etwa 5 Meter betragen, die Breite an der Sohle 10 Meter.

Beim Baubeginn in Frohse am 3. Februar 1727 waren die neu ernannten Kanalbau-Kommissionsräte Fürst Leopold II. von Anhalt-Dessau (der "Alte Dessauer"), Gouverneur der Magdeburger Festung, sowie die Kriegs- und Domänenräte Kollern und Wernicke anwesend. Vom Februar stieg die Zahl der Arbeiter innerhalb weniger Wochen von mehr als 1000 auf 2500. Diese hier nie zuvor gesehenen Arbeitermassen wurden in Calbe, Schönebeck, Salze, Frohse, den umliegenden Dörfern und verschiedenen Gasthäusern untergebracht. Von ihrem Arbeitslohn zahlte man ihnen immer nur einen geringen Teil aus, damit sie auch bis zum Schluss beim Kanalbau blieben. Als die Scharen von Kanal-Arbeitern in Calbe die Früchte auf den Feldern, wohl aus Hunger, plünderten, versuchte der Feldhüter, "Bannemann" genannt, einige von ihnen festzunehmen. Daraufhin wurde der Feldhüter so stark mit Steinwürfen attackiert, dass es zur Katastrophe gekommen wäre, wenn nicht der Rat mit Bewaffneten die Arbeiter in die Flucht geschlagen hätte.

 

Die Entwicklung der Arbeiten verdeutlicht diese Übersicht:

 

 

15.März Die Ausschachtungsarbeiten sind von Frohse bis diesseits von Klein-Mühlingen (2/3 der Strecke) vorangeschritten (94 Stationen von 139), es kann aber wegen eindringenden Wassers oft nur eine Tiefe von 1 Meter erreicht werden. Bei fallender Elbe soll auf die angestrebte Tiefe von 5 Metern gegangen werden.
29. März Die 3. Station vor Calbe ist erreicht, bei Salze hat der Graben seine Zieltiefe erreicht.
1. April Ortstermin aller Hauptverantwortlichen mit Fürst Leopold II. in Calbe, um den Kanalverlauf bei möglichst geringem Häuserverlust festzulegen. Das Kanal-Bett soll hinter den Häusern der Neuen Sorge (Gärten auf der Westseite der Arnstedtstraße) und beim Zollhaus (später hier Woll-Magazin), welches abgerissen wird, entlangführen.
2. Mai Erneuter Ortstermin der Verantwortlichen. Nur noch wenige Meter trennen den Kanal in der Bernburger Vorstadt von der Saale. Auch an diesem Grabungsende ist die Zieltiefe von 12 - 16 Fuß erreicht. Die Hauptarbeiten sind beendet und die Arbeiter werden großenteils, bis auf 400, die an den Wasserpumpen und Rammen bleiben, entlassen. Der Ausbau der Schleusen und die Durchstiche bei Frohse und Calbe werden erwartet.
28. Juli Die Arbeiten am Kanal werden bis auf weiteres eingestellt und alle Arbeiter entlassen. Bis auf 149 Taler sind die ein Jahr zuvor ausgezahlten 50 000 Taler verbraucht worden. Die Geräte und das restliche Geld werden in den nächsten Wochen und Monaten zurückbefohlen.

Nachdem das wenige übrig gebliebene Geld 1730 der "Generalkriegskasse" einverleibt worden war, gab der König zerknirscht mit den "preußisch" knappen Worten auf: "Soll cessiren [aufhören, Schluss machen - D. H. St.], schade daß das Geld soll in Dreck geschmissen werden." (Dietrich, Ruhestätten, S. 21). Wahrscheinlich trugen diplomatische Interventionen und hohe Entschädigungsforderungen des Fürsten Johann August von Anhalt-Zerbst für die Nutzung seiner Mühlinger Enklave (s. oben) dazu bei. Es waren aber wohl hauptsächlich die massiven wirtschaftlichen Drohungen Augusts des Starken, des mächtigen kursächsischen Herrschers, gewesen, die Friedrich Wilhelm I. in die Knie gezwungen hatten. Dieser sächsisch-preußische Zwist war ein Vorgeplänkel der wenige Jahre später offen unter Friedrich Wilhelms I. Sohn, Friedrich II., ausgetragenen Vorherrschaftskriege zwischen Sachsen und Preußen. Zum Abbruch trug wohl auch die Berechnung der erheblichen Folgekosten zur Erhaltung des recht langen Kanals (17km) bei.

1799 wurde der Plan des Kanals erneut von der Magdeburgischen Kammer aufgegriffen, was bei Friedrich Wilhelm III. von Preußen begeisterte Zustimmung fand, jedoch durch die antifranzösischen Koalitionskriege wieder beiseite geschoben wurde. Einen letzten Anlauf unternahm man 1810 und plante Kosten von 2000 000 Talern ein. Da war es das negative Gutachten des Schönebecker Salinendirektors, das  die Magdeburger Regierung von einem solchen Kanal endgültig Abstand nehmen ließ.

Allmählich beseitigte man wieder die Kanalspuren. Das unebene Kirchhofgelände wurde einigermaßen planiert. Die Bewohner der Alten und der Neuen Sorge füllten den Graben und legten neue Gärten an. Der Landgraben (heute noch im Volksmund: "der Kanal") an der heutigen Straße nach Schönebeck und der Schönebecker Solgraben sind übrigens Relikte dieser Ausschachtungsarbeiten für den geplanten Saale-Elbe-Kanal.

Der Neue Markt ("Schweinemarkt") (vgl. Station 19) ist ein Ergebnis der dort erst 1873 erfolgten Wiederauffüllung und Planierung (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 21). Wie wir aus einer alten Stadtrechnung wissen, wurde das Friedhofstor 1731 neu gemauert, wobei 11 Fuder Steine aus der obsoleten Stadtmauer gebrochen wurden (vgl. Reccius, Chronik, a. a. O., S. 72). Der Eingang lag nun nicht mehr am Bernburger Tor, sondern in der Neustadt. Bäume wurden angepflanzt und neue Friedhofs-Wege angelegt.

Bei der Zuschüttung des Kanalgrabens auf dem Lorenzfriedhof ließ man wohl nicht genügende Sorgfalt walten, denn bei dem Versuch einer anschließenden Planierung blieb das Erdreich ungleichmäßig liegen. Auch die Kirche wurde ringsherum mit Erde eingeschüttet. Bei den Verschönerungsarbeiten (s. unten) 1887/88 wurde der Friedhof erneut planiert und  1899 die Kirche  wieder etwa 1 Meter ausgegraben. Trotzdem liegt ihr Fußboden immer noch bedeutend tiefer, so dass man heute in sie hinunter steigen muss. Die Epitaphe und Grabmäler wurden nach dem gescheiterten Kanalbau bei dem Versuch der Wiederherstellung eines möglichst ursprünglichen Zustandes harmonisch auf dem Friedhof angeordnet. Es ist verständlich, dass dabei die Grabplatten meist nicht an die richtige Ruhestätte kamen.

 

Verwitterte Epitaphe an der westlichen Friedhofsmauer Stark beschädigtes Renaissance-Epitaph des 1571 verstorbenen Bürgermeisters Lorenz Stock (Aufn. 2003)

1959 war das Stock-Epitaph noch in diesem Zustand (Aufnahme von Fotograf Max Pietzner, Calbe - Faksimile freundlicherweise von Familie Steinhausen, Schwerin )

Das bedeutende Renaissance-Epitaph für Lorenz Stock (Bürgermeister 1559-1561, vgl. Abb. oben) erhielt einen Platz an der St.-Laurentii-Kirche neben der Sakristei. Darüber wurde das barocke Relief "Gott Vater" angebracht, das sich seit der General-Renovierung der Kirche im Jahr 1890 über der Sakristeitür befindet (vgl. Abb. unten). Das Epitaph besteht aus zwei Teilen. Das untere, von Säulen eingerahmte Bild zeigt Christus am Kreuz. Rechts vom Kreuz knien zwei Frauen, links fünf Männer und ein Kind. Darunter die Inschrift: "Der erbar und wolweiser Lorentz Stock Burgemeister rut in Got selig entschlaffen den 25. July Anno 1571, Die erbar und tugentsame Anna Lorentzin Lorentz Stock seligen nachgelassene Witwe ist selig in Gott entschlaffen." Das obere Bild des Epitaphs zeigt, ebenfalls von Säulen eingerahmt, den auferstandenen Christus mit der Kreuzfahne, Tod und Teufel bekämpfend. Der Gedankenwelt des 16. Jahrhunderts entsprechend, stehen und liegen dem Messias Landsknechte zur Seite. Darunter ist das Bibelzitat (Hiob XIX., 25-27.) zu lesen: "Ich weiß das mein Erlöser lebet und er wirdt mich hernach aus der Erden aufferwecken und werde mit diser meiner Haut umbgeben werden und werde in meinem Fleisch Got sehen. Denselben werde ich mir sehen und meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder."

Bei den "Aufräumungsarbeiten" des verdienstvollen Calbeschen Verschönerungsvereins unter der Schirmherrschaft des Unternehmers Hans Nicolai Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Grabsteine und Epitaphe an der westlichen Friedhofsmauer und an der Nordseite der Kirche aufgestellt. 1877 hatte man schon die Akazien aus dem 18. Jahrhundert gerodet und dafür Linden gepflanzt.

Heute noch geben die alten, oft sehr ausführlichen Grabstein-Inschriften wertvolle Einblicke nicht nur in die Gedankenwelt, sondern auch in das soziale Gefüge der betreffenden Zeit. Leider konnten sich nur wohlhabende Bürger solche kunstvollen Grabmäler leisten.

 

 

Die Inschrift des links abgebildeten Grabmals lautet in heutiger Rechtschreibung:

Hier erwarten das künftige Machtwort "Stehet auf ihr Toten"! die erblassten Gebeine der seligen Frau Anna Lucia Helm[e]cken, geb. Müllern. Sie erblickte das Licht der Welt 1710 d. 19. Febr., verheiratete sich zum ersten Mal 1730 d. 26. Septbr. mit Meister Johann Zacharias Klotz, Bürger, Brauherr und Fleischhauer, aus welcher mit 13 Kindern gesegneter Ehe ein einziger Sohn seiner Mutter kindliche Tränen opfert. Zum zweiten Male verband sie sich 1747 d. 12. Novbr. mit Herrn Johann Friedrich Helm[e]cke, Bürger, Brauherr und Fleischhauer, wie auch Kauf- und Handelsmann, welcher der selig Verstorbenen jetzt weinend diese Zeilen setzt, da sie 1756 d. 15. Mai aus der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit ging, ihres Alters 46 Jahre, 2 Monate, 3 Wochen,5 Tage.

Eine andere Grabinschrift lautet in heutiger Rechtschreibung:

Hier deckt der Friede Gottes die Gebeine seines treuen Dieners, des Hochehrwürdigen und Hochgelehrten Herrn Johann George Werth, treuverdienten Kirchen- und Schulinspektors der Calbeschen Inspektion und Pastoris Primarii zu Calbe. Er ward geboren zu Kötzig in der Neumark den 5. April Anno 1696, wurde 1736 Garnisonprediger zu Magdeburg und 1752 Königl. Preuß. Inspektor zu Calbe, lebte 81 Jahr und im Predigtamt 47 Jahr. Er entschlief den 12. Juli 1777 sanft in Gott. Ihn beweinte seine im 44jährigen Ehestande geliebte Gattin Frau Sophie Marie Werthin, geb. Meyern, die 1711 d. 23. Novbr. zu Nordhausen geboren und den 24. April 1797 im Tode mit ihm vereinigt ward. Es ist genug, so nimm nun Herr meine Seele von mir.

Eine scheinbare Gruft der Familie Tournier (vgl. Station 1) befand sich an der Südmauer des Friedhofs gleich neben dem Ostausgang zur Bernburger Straße, bevor sie, stark beschädigt, in den 1980er Jahren beseitigt wurde. Eine Restaurierung fand deshalb nicht statt, weil es sich um eine "blinde" Grabanlage handelte, d. h. es waren gar keine Särge vorhanden. Die Nachfahren wollten wohl nur eine "Gedenkstätte" für ihren berühmten Ahnen Jean Tournier errichten? Wohin die Särge der Gründerfamilie gekommen sind, ist aber nicht zu ermitteln gewesen.

 

Die Kirche, die dem ganzen Viertel ihren Namen gab, war dem Heiligen Laurentius (Lorenz) geweiht.

 

 

Er ist der Patron der Armen, der Bibliothekare, der Schüler und Studenten, der Köhler und Bäcker, der Köche und Glasbläser; er wird angerufen gegen Verbrennungen, Fieber, Hexenschuss und Feuersgefahr. Laurentius war im 3. Jahrhundert Diakon von Rom. 257 hatte Kaiser Valerian ein Edikt erlassen, das unter Androhung der Todesstrafe die Feier des christlichen Kultes und die Versammlungen der Christen in den Katakomben verbot. Eine Verschärfung stellte im Jahr darauf ein weiterer Erlass des Kaisers dar, nach dem alle christlichen Amtsträger (Papst, Bischöfe, Priester und Diakone) bei ihrer Ergreifung sofort hinzurichten waren. Laurentius wurde erwischt und nach schrecklicher Folter hingerichtet. Im früheren und hohen Mittelalter war Laurentius ein beliebter Namenspatron; der Genitiv von Laurentius lautet Laurentii.

 

Sakristeitür mit barockem Relief "Gott Vater"

Die St.-Laurentii-Kirche war für die Bewohner beider Vorstädte zuständig (vgl. Hävecker, Chronik..., a. a. O., S.18). Zunächst gab es aber bis zum 14. Jahrhundert nur die Bernburger Vorstadt (vgl. Station 19)  mit einer Burganlage (vgl. Station 21), die etwa 300 Meter von der Kirche entfernt lag. Als dann die Schlossvorstadt entstand (vgl. Station 13), gehörte diese auch mit zum seelsorgerischen Bereich der Kirche in der Bernburger Vorstadt.

Wahrscheinlich wurde die St.-Laurentii-Kirche, im Volksmund "Lorenzkirche", schon im 10. Jahrhundert gegründet, denn sie gehörte zu jener Kategorie von Triumph- und Dankeskirchen, die Otto I. nach seinem wahrhaft historischen Sieg auf dem Lechfeld über die Ungarn im Lande errichten ließ. Otto der Große, wie er nach diesem Sieg genannt wurde, hatte am Tag der Schlacht, dem 8. August 955, der auch der Tag des Heiligen Laurentius war, gelobt, Kirchen zu Ehren dieses Heiligen zu errichten, wenn er gegen die Ungarn siegen würde. So gab es im 10. und 11. Jahrhundert eine regelrechte Welle von Gründungen solcher dem Laurentius geweihten Kirchen. Es ist ziemlich sicher, dass auch die Kirche in der Bernburger Vorstadt in diese Reihe gehört. Wie die Calber Stadtkirche wird man auch die St.-Laurentii-Kirche zuerst aus Holz gebaut haben. Die erste romanische Laurentiuskirche aus Sandstein wird im 12. Jahrhundert entstanden sein. Möglicherweise stammt die noch vorhandene Rundapsis aus dieser Zeit (vgl. Heiber, Kultur- und Naturdenkmale..., a. a. O., S. 22). Bis heute blieb die schlichte Kirche einschiffig. Ein Kirch-Turm, der nicht mehr existiert, war auch vorhanden. Die ursprüngliche romanische Sandstein-Kirche war, wie Baunähte heute noch zeigen, etwa halb so groß wie die heutige und etwas niedriger, was auch an der Rundapsis gut zu erkennen ist. H. Teitge vermutete die Entstehung der Laurentius-Vorstadtkirche in etwa der gleichen Zeit wie die der romanischen Stephanus-Kirche in der Kernstadt (vgl. Station 5, wird bis zum Sommer bearbeitet). Allerdings war für diesen Kulturhistoriker das 12. Jahrhundert der späteste Termin (vgl. Teitge, Zur Baugeschichte..., a. a. O., S. 3). Gehen wir also davon aus, dass die ältesten (östlichen Teile) der Kirche aus dem 11. oder 12. Jahrhundert stammen. Wann diese Kirche im gotischen Baustil umgebaut wurde, ist nicht gewiss. Ihre zwei Glocken zumindest stammen  aus spätgotischer Zeit. Die größere der beiden ist mit der Jahreszahl 1411 (Hertel las "1401", a. a. O., S.148)  versehen und trägt in gotischen Majuskeln (Großbuchstaben) die Inschrift: "Consolor viva, fleo mortua, pello nociva" (Ich tröste das Lebende, ich beweine das Tote, ich vertreibe das Schädliche). Auf ihr sind auf der einen Seite Maria und auf der anderen Jesus als Weingärtner abgebildet.  Die kleinere Glocke, wahrscheinlich vom Ende des 15. Jahrhunderts stammend, trägt in Minuskeln (Kleinbuchstaben) eine ähnliche Inschrift: "Defunctos plango, vivos voco, fulgura frango" (Die Gestorbenen beklage ich, die Lebenden rufe ich, die Blitze breche ich). Sie zeigt die Abbildungen eines Kreuzes und eines Medaillons mit Engelskopf und Flügeln (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 19).

Lorenz-Kirche und -Friedhof um 1840

Im Dreißigjährigen Krieg wurde auch die St.-Laurentii-Kirche schwer beschädigt. In einer Visitations-Akte der Kirche von 1694 fand sich die folgende Notiz, die sich auf Ereignisse des Jahres 1640 (vgl. Station 6) beziehen könnte:

"Die Kirche St. Laurentii in der Vorstadt vom Bernburgischen Tore ist bei dem starken Marsch der kurbayrischen Armee und zumalen, da die Brücke über die Saale geschlagen, durch die unmenschliche Grausamkeit der ganz eifrig papistischen Soldaten und Zimmerleute über die Maße übel zugerichtet und ruiniert worden, indem die oberste Decke herunter, die Ständer unter der Porkirche [Empore - D. H. St.] weg, die Stühle aus der Kirche herausgerissen, die Treppe vom Predigtstuhl weg und alle Fenster ausgebrochen; das Dach, welches mit doppelten Ziegeln gedeckt gewesen, so hoch, als ein Mann mit einer Zimmeraxt reichen können, mitsamt den Latten weg und entzwei geschlagen, dass es keiner Kirche mehr ähnlich gewesen, welches Dach dennoch durch frommer Leute Vorschub [Unterstützung, Hilfe - D. H. St.] wiederum mit Latten beschlagen und mit Ziegeln in etwas behängt worden, dass der Regen und andere Nässe so leicht nicht hineinfallen können." (In heutiger Rechtschreibung, zitiert nach: Hertel, Chronik..., S.148).

Unter preußischer Landesherrschaft wurde alles unternommen, um die Kriegsschäden nicht nur zu beseitigen, sondern alles noch bedeutender und vorteilhafter aufzubauen. Hävecker berichtete, "daß Seine Königliche Majestät von Preussen aus sonderbahrer [außerordentlicher - D. H. St.] Gnaden eine Collecte [Geldsammlung - D. H. St.] nicht allein im gantzen Hertzogthum Magdeburg, sondern auch im Fürstenthum Halberstadt verwilliget haben (Hävecker, S. 48)", um die Laurentii-Kirche renovieren und erweitern sowie eine neue Pfarr-Wohnung (vgl. Station 19) bauen zu können (vgl. ebenda). Die Renovierungsarbeiten an der Kirche könnten um 1699 begonnen haben, denn in diesem Jahr gab Schulmeister Hans Schuldert zu Protokoll, dass man Holz aus der Kirche des inzwischen wüsten Dorfes Hohendorf (vgl. Station 22) zum Auf- und Ausbau der Vorstadt-Kirche benutzt habe (vgl. Hertel, Die Wüstungen..., a. a. O., S. 171). Diese Arbeiten zogen sich bis etwa 1711 hin. Wie aus den alten Bauunterlagen (nach einer Information von K. Herrfurth) hervorgeht, wurde dabei die Kirche nach Osten und Westen erweitert, nicht wie Dietrich und sein Mentor Hertel behaupteten (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, S. 25, derselbe, Ein Gang..., S.15, Hertel, Geschichte..., S. 148), nur nach Westen. Als Jahreszahl für diese Erweiterung gab Hertel das Jahr 1720 an. Wenn also die Erweiterung auch nach Osten geschah, wie u. a. an den Nähten zu erkennen ist, muss zwangsläufig die Rundapsis neu aufgebaut worden sein. Dabei hat sie außerdem eine Erhöhung erfahren, was an den unterschiedlichen Steinen erkennbar ist. Ob die Apsis davor in dieser Form überhaupt existiert hat oder ob sie einer architektonischen Laune der Erneuerer entsprang, bleibt eine offene Frage. In dieser Zeit am Anfang des 18. Jahrhunderts wurde das romanische Bild der Kirche beseitigt. Man trug den Turm ab, ersetzte ihn durch einen kleinen barocken Fachwerk-Dachreiter, der die Glocken aufnahm, und die romanischen Rundbogen wurden in gotische Spitzen umgewandelt (vgl. Dietrich, Gang, S. 15). Die unter Friedrich I. begonnene und unter Friedrich Wilhelm I. abgeschlossene Erweiterung und Veränderung der St.-Laurentii-Kirche wurde u. a. vorgenommen, weil die Bevölkerungszahl der Vorstädte ein halbes Jahrhundert nach dem verheerenden Krieg gegenüber dem Vorkriegsstand um etwa 50 Prozent angewachsen war (vgl. Stationen 13 und 19). Die Nicolai-Fischer-Brüderschaft (vgl. Station 21) hatte, nachdem die Hohendorfer St.-Nicolai-Kirche wüst geworden war (vgl. Station 22), bis zum Ende ihres Bestehens 1945 einen Altar in der Lorenzkirche und war ins Kirchengebet eingeschlossen.

St.-Laurentii-Kirche

Rundapsis

 

Als nach der Reichsgründung 1871 in Calbe durch die Tätigkeit des Verschönerungsvereins vieles anders und schöner wurde, ging man auch daran, diese alte Kirche wieder stilgerechter auszugestalten. 1876 wurden neue Stühle eingebaut, ein Jahr später die Butzenscheiben in den Fenstern entfernt und im Inneren der weiße durch einen grünlichen Wandanstrich ersetzt. Für einen vom Fabrikanten Hans Nicolai gestifteten Preis von 3300 Reichsmark wurde im August 1876 eine neue Orgel feierlich eingeweiht. Außen entfernte man den Kalkputz, die Fenster und das Hauptportal wurden wieder mit romanischen Rundbogen versehen und gekoppelte Fenster im unteren Teil neu eingebrochen. Auch das hatte der Kunstgeschichts-Liebhaber Nicolai finanziert (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 19). 1964/65 wurde das Gesamtbild des Innenraumes noch mehr vereinfacht, man entfernte die beengenden Emporen und den die Apsisnische verdeckenden Altar, so dass zusammen "mit der flachen Holzdecke ein Innenraum von romanischer Formgebung entstanden ist." (Heiber, S. 22).

Auch heute muss noch viel getan werden, um den stets drohenden Verfall aufzuhalten und das Innere schöner auszugestalten. Eine Renovierung steht dringend an!

Zum Abschluss soll noch etwas über die Pfarrer an dieser Kirche berichtet werden.

Der Pfarrer der Stadtkirche Magister Hävecker als "Stadtpatriot" und Pastor primarius (später Superintendent genannt) in Calbe und Umgebung war natürlich der Meinung, dass die St.-Laurentii-Kirche eine Tochterkirche (Filial) der St.-Stephani-Kirche wäre. Somit hätte auch der Magistrat der Stadt das Besetzungsrecht der Lorenz-Pfarrstellen gehabt. Immerhin, so Hävecker, wären die Vorstadtpfarrer "Subdiakone" genannt worden. In seiner phantasiereichen Art leitete Hävecker dieses Recht sogar aus einer vermeintlichen Rangordnung der beiden Heiligen ab (vgl. Hävecker, S. 46 f.). Dietrich übernahm die Meinung, dass die Pfarrer der Laurentius-Kirche der Stadt und der Stadtkirche unterstellt gewesen seien (vgl. Dietrich, Gang, S. 16). Hertel aber wies überzeugend nach, dass es nie ein Patronatsrecht der St.-Stephani- über die St.-Laurentii-Kirche gegeben hatte, weder vor noch nach der Reformation. Wie aus einer in den Magdeburger Geschichtsblättern XXXI. (S. 83) abgedruckten Urkunde vom 20. März 1439 hervorgeht, hatte die Lorenzkirche bereits im Mittelalter einen eigenen Pfarrer, der wahrscheinlich dem Archidiakon (1. Stellvertreter des Bischofs) des Kirchenbannes (-bezirkes) Calbe und damit letztendlich dem Magdeburger Erzbischof unterstand (vgl. Hertel, S. 150).

"In der Zeit der Reformation, wo hinsichtlich der von geistlichen Stiftungen ausgeübten Patronate so große Veränderungen vorgingen, müssen auch hier die ursprünglichen Verhältnisse verändert sein. Es scheint, daß zunächst gar kein Prediger für die Vorstadt vorhanden gewesen ist, denn die Gemeinde war zu klein und zu arm, einen solchen zu halten, und Kirchenvermögen war nicht oder nur unzulänglich vorhanden. Erst 1566 finden wir einen Pfarrer Cyriacus Müller, sonst Stockau genannt. Als nämlich in diesem Jahre ein großes Sterben die Stadt heimsuchte, ist für billig erachtet worden, daß die Stadtprediger M. Valentin Sporer und der Diaconus M. Matthias Steinhausen mit dem Besuch der Kranken verschont würden, um nicht diese der Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Statt ihrer wurde der Vorstädter Pastor Cyriacus Müller als Pestpriester (pestilentiarius) verwendet." (Hertel, ebenda).

In den Kirchenvisitationsprotokollen von 1583 wurde Müller (geb. 1533, gest. 1587, 1557 in Wittenberg ordiniert, seit 1564 auch Pfarrer in Trabitz, verheiratet mit Gertrud Kretzmar, gest. 1578, vgl. Hävecker, S. 47, vgl. Stationen 6 und 10) als Spittelpfarrer von Calbe bezeichnet, wodurch er eindeutig unter dem Patronat der Stadt stand. Also hatte Hävecker mit seiner Behauptung doch Recht? Wahrscheinlich nicht, denn Müller wird den Gottesdienst neben seinem hauptamtlichen Dienst an der Heilig-Geist-Kirche versehen haben. Die Vorstadtkirche war nämlich ohne Priester, und die Vorstädter hatten während dieser Zeit den Stadt-Gottesdienst besucht, die Beichte und das heilige Abendmahl in der Stadtkirche mit den Städtern gemeinsam empfangen. Müller half als Pfarrer in der St.-Laurentii-Kirche aus, so gut es ging. Er selbst bezeichnete sich immer nur als "Subdiakonus der Kirche von Calbe und als Pastor von Trabitz". "Subdiakon" scheint aber ein Ehrentitel gewesen zu sein, denn er taucht sonst nie in den Verzeichnissen der Calbeschen Kirchenämter auf, auch nicht auf der Tafel in der Calber Stadtkirche (vgl. Station 5, wird bearbeitet). Dieser Ehrentitel wird einmalig Müller für seinen selbstlosen Einsatz als Pestpfarrer verliehen worden sein.

St.-Laurentii-Kirche um 1930 (nach: Heimatstube-Archiv)

 

Nach seinem Tode 1587 jedoch machte der Rat der Stadt den Versuch, sich das Patronatsrecht über die Lorenzkirche anzueignen. 1588 berief ordnungsgemäß der Schlosshauptmann Melchior von Arnstedt als Vertreter des Administrators in Magdeburg einen neuen Vorstadtpfarrer, den Barbyer Bürger und Gastwirt Johann Ebenhoch. Der Rat nutzte die vorangegangene Notlösung mit Cyriakus Müller und wollte nun sein altes Kompetenz-Gerangel mit dem Schlossamt auch auf Kirchenpatronatsebene fortführen. Der Rat der Stadt Calbe und der Erste Pfarrer Crato (vgl. Station 4) sowie der Diakon Cuno protestierten, aber Ebenhoch starb schon 1589, ehe der Streit eskalierte. Nun ging alles wieder in den alten Bahnen: Der Schlosshauptmann berief den neuen St.-Laurentii-Prediger Valentin Baumgarten, welcher vom Magdeburger Domkapitel bestätigt wurde. Als Baumgarten 1626 starb, blieb die Vorstadtkirche wegen der Wirren des Dreißigjährigen Krieges bis 1654 ohne Pfarrer. Als dann am 21. Februar 1654 der Rat Peter Siemann einsetzte, kam vom Schloss kein Protest. Es gab in dieser schrecklichen Zeit wohl wichtigere Dinge zu erledigen. (Weitere Vorstadt-Pfarrer: 1655 Paul Hülse, 1683 Gottfried Elste, 1691 Christian Gillmeister, 1695 Johann Georg Hövel). Mit der Zugehörigkeit Calbes zu Brandenburg-Preußen ab 1680 kam wieder "Ordnung" in die Patronatsangelegenheit. Hävecker berichtete, dass 1719 der Nachfolger Hövels, Bernhard Baumgart, vom König zusammen mit drei anderen Kandidaten dem Rat präsentiert worden sei (vgl. Hävecker, S. 47 f.). König Friedrich Wilhelm I. sah sich korrekterweise als Rechtsnachfolger der Erzbischöfe und Administratoren, machte aber das Zugeständnis, den Rat unter vier vorgeschlagenen Kandidaten auswählen zu lassen.

Die Pfarrer der St.-Laurentii-Kirche hatten zusätzlich die Seelsorge auch in der Schlossvorstadt (vgl. Station 13) und den Gottesdienst im Filial (der Tochterkirche) Trabitz mit zu übernehmen.

Wer sich auf den Spuren der älteren Geschichte entlang der neu geschaffenen "Straße der Romanik", wie auch immer, bewegt, kommt auch in dieses bedeutende und interessante Calbesche Viertel. Mögen die vorliegende und die anderen Seiten ihr bzw. ihm helfen, das zu Sehende oder Gesehene besser zu durchschauen.