12. Wenn wir wollen, können wir auf dem rechten hohen Ufer der Saale die Reste eines einstmals sehr bedeutenden und berühmten Stiftsklosters der Prämonstratenser besuchen. Die Gierfähre bringt uns zum Dörfchen Gottesgnaden (jetzt Ortsteil von Calbe), welches an das Kloster und die Besiedlung der späteren Domänegüter erinnert. An einigen Stellen treffen wir noch auf die alten Klostermauern, die aber ursprünglich viel höher waren.

Gottesgnaden mit Klostermauern, von Osten gesehen

Die romanische kleine Hospitalkirche vor den Toren des Klosters

Eine alte Sage versucht die Gründung des Klosters auf dramatisch-gefühlvolle Weise zu erklären.

Ein Ritter (bzw. ein Graf) hatte ein fürstliches Mädchen (bzw. eine Königstochter) auf seinem Pferd entführt. Die Verfolger, die schon dicht hinter ihnen waren, jagten die Fliehenden mit Absicht bis in diese Gegend. Plötzlich scheute das Pferd. Sie standen an einem 10 Meter hohen Abhang. In seiner Not gelobte der Ritter (Graf), ein Kloster zu gründen, wenn der Sprung gelänge. Sprung und Flucht durch die Saale gelangen, und er hielt sein Wort.

Der Calber Mägdesprung an der Siedlung "Brotsack" Der Mägdesprung - ein steinzeitlicher Kultplatz am nordöstlichen Stadtrand

Blick vom Mägdesprung zum Stadtzentrum um 1850 (nach: Archiv Fam. Zähle)

Das erhöhte Ufer am Ende der Brotsack-Siedlung, bei einem Spaziergang am Nordrand der "Grünen Lunge" deutlich sichtbar, wurde über Jahrhunderte hinweg "Mägdesprung" genannt. Erstmalig ist der Name in Calbe 1446 nachweisbar, als Erzbischof Friedrich einige Leute mit einer Breite unter dem "Meigdesprunge vor Calbe" belehnte (vgl. Reccius a. a. O., S. 26). Reccius hält eine "Stelle, wo Tanzfeste abgehalten wurden" für möglich, schließt aber auch eine Quelle (Spring) nicht aus. Hävecker weist darauf hin, dass an dieser Stelle einstmals eine größere Anzahl steinerner Relikte gefunden wurde. Deshalb glaubte er sogar an die Existenz einer Burganlage im Norden vor der Stadt (vgl. Hävecker a. a. O., S. 19). Diese archäologischen Funde könnten durchaus auf einen alten Kultplatz hinweisen.

Der Name "Mägdesprung" könnte auf den Brauch kultischer Jungfrauentänze hinweisen. Mägdesprung-Sagen gibt es eine ganze Reihe im deutschen Bereich, am bekanntesten ist die aus Harzgerode. Auf Rügen findet man auf dem Gebiet der ehemaligen slawischen Rugard-Burg auch eine solchen Mägdesprung.  Meist sind Mägdesprünge ebenso wie die "Wunderburgen" und "Wunderkreise" (Calber Wunderburg in der Hohendorfer Feldmark) Kultplätze aus vor- und frühchristlicher Zeit (vgl. Station 21).

So ist die Verbindung von Mägdesprung und Klostergründung wohl das Grundgerüst einer so genannten erklärenden Sage.

Die Wirklichkeit sah jedoch etwas anders aus als die Erklärung durch die Sage!

Das Kloster verdankt seine Gründung dem Grafen Otto von Reveningen [Röblingen am salzigen See], der es auf Veranlassung des Magdeburger Erzbischofs Norbert von Xanten im Jahre 1131 erbauen ließ und einen Teil seiner Güter einbrachte. Der Graf wollte das Kloster ursprünglich auf seinen Gütern im Mansfeldischen gründen. Das hätte aber nicht ins strategische Konzept Norberts gepasst. Auf dessen eindringliche Bitten hin wählte Otto dann doch das hohe Ostufer der Saale bei Calbe. Beide legten gemeinsam den Grundstein in einer (damals) sumpfigen und waldreichen Gegend, die fast unbewohnt war. Otto von Reveningen hatte diesen Grund und Boden, wie es Norbert gewünscht hatte, durch Tausch erworben. Fast gleichzeitig wurde das Prämonstratenserkloster Leitzkau jenseits der Elbe gegründet. Auch im Kloster "Unser Lieben Frauen" in Magdeburg zogen die innovativen Prämonstratenser ein. Das Kloster bekam die Calbesche Mühle (vgl. Station 3), die ursprünglich den Siedlern und dem Königshof gehörte, sowie verschiedene Häuser, Kirchen und rent- und zinspflichtige Dörfer in der Umgebung vom Kaiser geschenkt.
 

Norbert von Xanten - früheste Darstellung aus dem Kloster in Orvieto in Norditalien (nach: Praemonstratensi Illustri.)

Norbert von Xanten und Köln (um 1080 - 1134), aus einem niederrheinischen Adelsgeschlecht (von Gennep) stammend, hatte eine große Karriere als Kleriker und Vertrauter Kaiser Heinrichs V. vor sich, wandelte sich aber radikal durch ein Nah-Tod-Erlebnis, bei dem ihm angeblich Engel erschienen, die ihm befahlen, auf einer angezeigten Wiese (pratum monstratum) zwischen Reims und Laon einen neuen Orden zu gründen. Norbert machte sich ans Reform-Werk und entwickelte neue Ordensregeln auf der Basis der Lehren von Augustinus. Seit 1118 durchzog er mit großem Erfolg Deutschland, Frankreich und die Niederlande als charismatischer Wanderprediger. Auf der Reichssynode 1118 in Fritzlar, auf der Heinrich V. auf Antrag des Papstes wegen seiner unnachgiebigen Haltung im Investiturstreit gebannt wurde, sollte auch der Reformer Norbert mundtot gemacht werden. Er rechtfertigte sich aber geschickt und eloquent mit der Berufung auf Johannes den Täufer und wurde freigesprochen. Mit Hilfe des Bischofs von Laon gründete er 1120 in Prémontré (pratum monstratum) jenen Orden der Prämonstratenser, der sich rasch ausbreitete und ein Leben zu praktizieren versuchte, das dem der frühen Christen entsprach und durch den Kirchenvater Augustinus seine Form gefunden hatte. Diese rasche Ausbreitung ist unter anderem auch auf das Streben jener Zeit nach einer grundlegenden Reform der inzwischen verweltlichten und stagnierenden Kirche zurückzuführen. Schon am 18. Juli 1126 wurde Norbert zum Erzbischof von Magdeburg, dem wichtigsten weltlichen und kirchlichen Vorposten im Osten des Reiches, berufen. 1129 verlegte er den Schwerpunkt des Prämonstratenserordens in dieses Gebiet mit dem Ziel der Ostkolonisation. Mittelpunkt wurde das Magdeburger Marienstift, das spätere Kloster "Unser Lieben Frauen". Der Mann, der barfüßig und im Büßergewand in seine Erzbischofsstadt eingezogen war, ging sofort daran, Missstände und Lotterleben abzustellen sowie Veräußerungen von Kirchengut rückgängig zu machen. Von hier aus reformierte er seinen Klerus im Sinne einer Rückkehr zu urchristlichem Verständnis. Norbert von Xanten war auch politisch aktiv für eine starke Zentralgewalt und deren Verbindung zur Kirche. Er setzte sich besonders und erfolgreich für einen Kompromiss zwischen Kaiser Lothar III. und Papst Innozenz II. ein. Als er erkrankte und 1134 in Magdeburg starb, wurde er im Kloster "Unser Lieben Frauen" beigesetzt, seine Gebeine jedoch in den Wirren der Reformation nach Strahov in Prag überführt.

Altarplatte aus dem Kloster "Gratia Dei"

(jetzt auf dem Gelände der ehemaligen Nicolaischen Wolldeckenfabrik)

Eines der ersten Klöster, das hier auf Norberts Anweisung hin gegründet wurde, aber nicht mehr von ihm eingeweiht werden konnte, war das Prämonstratenserstift "Gratia Dei" (Gottes Gnade) gegenüber von Calbe (s. oben).

Am 4. März 1135 bestätigte der Nachfolger Norberts, Erzbischof Konrad von Magdeburg, ein Vetter Kaiser Lothars III., die Gründung des Klosters "Gratia Dei". Unter den Zeugen erschienen hervorragende Zeitgenossen, Konrad von Wettin, Albrecht der Bär und Heinrich von Groitzsch (vgl. Reccius, S. 7). Die drei waren Markgrafen von östlichen Gebieten und damit Grenzland- und Expansionsexperten. 1136 weihte Erzbischof Konrad das Kloster Gratia Dei, die Bestätigung durch Papst Innozenz II. erfolgte 1138 (Dietrich, Ruhestätten, S. 16).  1147 tauschte das Kloster den Hof in Chörau bei Kühnau (26 km von Gottesgnaden entfernt) gegen einige seiner weiter gelegenen Besitzungen von Albrecht dem Bären und dessen Vasallen Hermann von Severitz. In Chörau waren die Wenden schon von deutschen Siedlern verdrängt worden (vgl. ebenda). 1151 bestätigten König Konrad III. und um 1160 Erzbischof Wichmann (vgl. Station 1), der Nachfolger Erzbischof Konrads von Magdeburg, das Kloster Gratia Dei in seinen Besitzungen (vgl. ebenda, S. 8). Es fügte sich gut in die strategische Kette zur Ostkolonisation entlang der Elbe/Saale: Magdeburg (Marienkloster), Calbe (Gottesgnaden), Nienburg, Alsleben, Petersberg (bei Halle), Neuwerk (inzwischen abgerissenenes Kloster in der Nähe des Moritzburgringes in Halle, noch als Straßenname erkennbar), Merseburg (Domstift), Goseck, Naumburg und Pforta (heute: Schulpforta).

Die ersten Bewohner des Stiftes Gratia Dei waren 22 Kanoniker (Domherren) aus Prémontré und Florac, 19 Laienbrüder und 17 Laienschwestern. Die Prämonstratenser trugen wie ihr Ordensgründer ein weißes Gewand aus grober Wolle und wurden deshalb im Volk auch die "weißen Brüder und Schwestern" genannt. Die Frauen (inclusae) waren streng abgeschlossen und durften keinen Mann, nicht einmal den eigenen Vater oder Bruder, auch nur sehen. Die Kanoniker stellten die führenden Strategen der Prämonstratenser bei der Ostkolonisation dar. Ihre Verbindung war besonders eng zu den Brüdern und Schwestern in Jüterbog. Jüterbog war ein wichtiges Kloster im politischen Kalkül des Erzbischofs Wichmann. Das Stift Jüterbog war unter Norbert und Wichmann (vgl. Station 1) der wichtigste weit vorgeschobene Vorposten der deutschen Ostkolonisation. Den Laienbrüdern und -schwestern in Gottesgnaden wurde die praktische landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit überlassen. Ihnen blieb die Gartenarbeit, der Acker- und Obstbau, die künstlerische Tätigkeit, das Bücherschreiben, der Unterricht und die Krankenpflege vorbehalten.

 

Teilstück eines romanischen Portals aus dem Kloster "Gratia Dei" (Fundstück aus dem alten Schleusengraben - heute: Kreismuseum Schönebeck)

Bei der teilweisen Trockenlegung der Saale anlässlich der Sanierungsarbeiten am Calber Wehr 2001 kam dieser behauene Stein mit wahrscheinlich romanischer Gravur  zum Vorschein. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um ein Element aus der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts abgerissenen Stiftskirche des Klosters "Gratia Dei" handelt. Foto: Oskar-Heinz Werner


Das Kloster muss im Mittelalter mit seiner alles überragenden Haupt- und Stiftskirche, seinen hohen Mauern und mit seinen für die damalige Zeit gewaltigen Ausmaßen einen imposanten Eindruck gemacht haben. Würde man das Kloster in den Grundriß der Stadt Calbe projizieren, hätte es eine Ausdehnung von der Neustadt bis jenseits der Wilhelm-Loewe-Straße und von der Breite bis zur Bernburger Straße gehabt. Im Zentrum dieses beachtlichen Areals befand sich das eigentliche Kloster mit der Stiftskirche, dem Kreuzgang und der 1357 erwähnten St.-Andreas-Kapelle (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 16). Die große basilikale, romanische Klosterkirche besaß zwei hohe Türme mit spitzen Schieferdächern wie die St.-Stephani-Kirche in Calbe sowie sechs Glocken. Hävecker, selbst erst 1640 geboren, hatte aber glaubwürdige Augenzeugen, die ihm das ehemalige Kloster in Einzelheiten beschrieben. Einiges von der verfallenden Pracht hat er selbst noch gesehen. Die Kirche des Klosters "Gottesgnaden", wovon nur noch Ruinen zu sehen wären, schrieb er, sei vor Zeiten von gutem Aussehen gewesen, denn sie wäre geräumig und groß, mit schönen Steinquadern gebaut und mit kostbaren Verzierungen ausgestaltet gewesen. Sonderbar fand Hävecker die eigenartigen Figuren am Gesims (vgl. Hävecker, S. 110). Diese hat Max Dietrich so beschrieben: "Ihre Deutung kann wohl eine allegorische als auch eine biblische sein. Allegorisch der angebundene Drache, der wohl die Begierde darstellt. Die Kriegergestalt stellt wohl... den heiligen Viktor dar, der reitende Mann vielleicht den auf einem Esel einziehenden Christus in Jerusalem, und jener Mann mit dem Krummstab vielleicht Moses vor dem Pharao, wo sein Stab sich den eine Schlange verwandelt. " (Dietrich, Ruhestätten, Seite 17 f.). Das Kloster war reich, mächtig und stark; seine Ökonomie blühte. Um das sakrale Kloster herum befanden sich die vielen Wirtschaftsgebäude, die das gesamte Areal so gewaltig, wie oben erwähnt, ausdehnten. Der aus der späteren Domäne hervorgegangene Ortsteil Gottesgnaden zeigt in etwa zwei Drittel des ursprünglichen Komplexes. Unterhalb der Wirtschafts- und Wohngebäude befand sich ein ausgedehntes Kellersystem. Hävecker berichtet von einer metallenen Rohrleitung, die von der klostereigenen Bierbrauerei, in der ein guter Trunk gebraut worden sei, direkt in die Bierkeller unter den Wohngebäuden führte. Auch geräumige Weinkeller seien vorhanden gewesen (vgl. Hävecker, S. 117).

Siegel des Klosters "Gottes Gnade" mit dem Bild des Heiligen Victor und der Umschrift "Victor dux gloriosus" (Der ruhmreiche Führer Victor) aus der Lade der Nicolai-Brüderschaft (vgl. Station 21)

(mit freundlicher Genehmigung von Herrn Steffen Held aus Hamburg)

Bald wurde das Klostergut zu einem herausragenden Musterhof für die wendische und deutsche Bevölkerung der Gegend und darüber hinaus.

"Gratia Dei" wurde Mutterkloster für eine Reihe von bedeutenden Tochtergründungen, die wiederum jeweils bis zu 7 "Töchter" hervorbrachten, die auch wieder neue Töchter und so fort. Die katholische Kirche funktionierte wie ein religiöses und wirtschaftliches Multiplikationssystem, wie ein heutiges Strukturunternehmen. So reichte schließlich die Gottesgnadener "Familie" von Stade (1132 St. Georg) bis Riga (1200), von Obernhof im Rheinland (Kloster Arnstein a. d. Lahn 1139) bis Jüterbog (1170). Der erste Klostervorsteher aus Gratia Dei, Emelrich oder Almerich, ein ebenso begabter Prediger wie Norbert, wagte sich sogar mit einigen Ordensbrüdern bis nach Palästina, um dort an der Heerstraße zwischen Joppe (später: Jaffa, heute: Tel Aviv) und Jerusalem, angeblich in der Heimat des Propheten Habakuk und Josephs von Arimathia, ein Kloster zu Ehren dieser beiden biblischen Persönlichkeiten zu gründen. 1152 wurde Emelrich aus Gottesgnaden zum Erzbischof von Lydda (heute: Lod, 18 km südöstlich von Tel Aviv) geweiht. 1163 starb er, sein neues Kloster im Heiligen Land aber fand unter dem berühmten Sultan Saladin 1187 ein jähes Ende (vgl. Dietrich, Ruhestätten, Seite 17).

Die oben schon erwähnte romanische Stiftskirche, eine Basilika, deren zwei Türme höher als die der Stephani-Kirche gewesen sein sollen, wurde 1164 durch Erzbischof Wichmann im Beisein mehrerer Bischöfe geweiht.

Wichmann hatte dem Gratia-Dei-Kloster nicht nur zwei von seiner gefahrvollen Pilgerfahrt ins Heilige Land, bei der er in sarazenische Gefangenschaft geraten war, mitgebrachte Reliquien der Heiligen Victor und Pontianus (vgl. Ausführungen in Station 1) geschenkt, sondern auch 50 Hufen Land (ca. 350 - 500 ha) im Jüterboger Gebiet, zwischen Luckenwalde und Stülpe gelegen (vgl. "Wüstungen bei Jüterbog" von Andreas Trotz). In einer Urkunde von 1161 war dem Mutter-Kloster vom Erzbischof ein Areal  „ ... mit 50 ... Hufen in den beiden Dörfern, deren eines Dike, das andere Rothe genannt wird, ... ..., und überdies die Besorgung [Frondienste - D.H.St.] der 4 umliegenden Dörfer, deren Namen sind Rutenisse, Rothwiensdorp, Brodesse und Grardestorp“ übergeben worden (Carl Christian Heffter: Urkundliche Chronik der alten Kreisstadt Jüterbock und ihrer Umgebungen..., Jüterbock 1851, zitiert nach: ebenda).

Eine kleinere romanische Klosterkirche wurde 1207 geweiht (vgl. weiter unten). Sie steht heute noch. (Es handelt sich dabei um eine so genannte Hospitalkirche vor den ehemaligen Klostertoren - "ante fores monasterii -, das heißt, sie diente Gästen, Pilgern und Kranken.)

Der heilige Viktor wurde auch der Schutzpatron des gesamten Klosters. Das Klostersiegel (siehe oben) zeigte ihn mit Schuppenpanzer, spitzem Helm, einer breitwimpligen Rennfahne und einem spitzen Schild mit Kreuz (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 16).

 

So könnte ein Wanderer vor 700 Jahren das Kloster aus südöstlicher Richtung erblickt haben. Im Hintergrund links hinter den Klostermauern die Stiftskirche, vor den Mauern rechts die kleinere Hospitalkirche (Simulation mit der noch existierenden Kirche des Führungsklosters in Magdeburg, der Klosterkirche "Unser Lieben Frauen")

Der Stifter Graf Otto von Reveningen hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst als Laienbruder in seinem Kloster zu leben. Nach einiger Zeit kehrte er jedoch auf seine Burg im Mansfeldischen zurück. Als er gestorben war, wurde seine sterbliche Hülle ins Kloster zurück überführt. Seine Grabstelle war bis jetzt noch nicht zu lokalisieren.
1280 trennte man die Gottesgnadener Nonnen von den Mönchen und überwies sie nach Magdeburg ins Laurentii-Nonnenkloster. Einige Jahre später wiederum geschah die Übersiedlung dieses Frauenkonvents aus Magdeburg ins Prämonstratenserstift Jüterbog  (laut einer Information des Berliner Geschichtsforschers Andreas Trotz).

Die Hospitalkirche "Maria und Johannes" vor den Klostermauern. Sie diente, wie ihre Bezeichnung schon sagt, als Kapelle für Gäste, Pilger und Kranke. (S. auch weiter unten)

Wie in den meisten klösterlichen Orden wurde zwar in den ersten Jahren extrem streng nach den Regeln gelebt, nach zwei oder drei Jahrhunderten verweltlichten aber auch diese ehemaligen Eliteklöster in erschreckender Weise. Da halfen  Kirchenreformen des 15. Jahrhunderts kaum noch.
In den spätfeudalen Fehden des 15.Jahrhunderts entging das ständig belagerte und bedrohte Kloster der Zerstörung wie durch ein Wunder, während die Stadt Calbe durch die blutigen Zwistigkeiten der Partikulargewalten schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Erstmalig wurde das Kloster 1525 etwas beschädigt, als es im Rahmen des Bauernkrieges zu Tumulten und Angriffen kam. Die plebejischen Angriffe gingen von Calbe unter dem Anführer Lorenz Böddeker aus. Truppen der erzbischöflichen Beamten stellten die "Ordnung" jedoch bald wieder her (vgl. Reccius, S. 34). Während in der Stadt Calbe sich die evangelische Lehre bereits 1542 (erste evangelische Predigt am 21. 4., vgl. Station 5) durchgesetzt hatte, blieb das Kloster noch 11 Jahre länger katholisch.

Gekuppeltes Rundbogenfenster, getragen von einer romanischen Säule mit Würfelkapitellen

Einfacher, aber ursprünglicher Sachsenturm der Hospitalkirche

Im Schmalkaldischen Krieg (Konfessionskrieg zwischen Protestanten und Katholiken 1546/47) wurde das Kloster hart attackiert, und die Mönche mussten Schlimmes erleiden.

Nach dem Sieg der katholischen Partei 1547 und der vom Kaiser Karl V. gegen das Magdeburger Land verhängten Acht hat auch das Kloster Gottes Gnade "zum ersten Mal mit herhalten müssen; da denn zwar die Privilegia und Siegel desselben an sichere Örter gebracht, allein die Kleinodien und Ornat sind von einem Kriegsobersten Severin Lorentz hinweg genommen worden. Doch ist diesmal das Kloster nicht ganz ruinieret worden." (Hävecker, S. 116, angepasste Rechtschreibung). Wahrscheinlich ist diese Härte von der katholisch-kaiserlichen Seite auf die pro-evangelische Einstellung des Propstes Johann de Pusco (von Busch) zurückzuführen (vgl. weiter unten) oder aber ganz einfach die unersättliche Habgier der Besatzer.

Grabstein des letzten katholischen Propstes Johann de Pusco in der Hospitalkirche von Gottesgnaden

1548 brannte das Kloster fast völlig nieder. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch zwei Mönche mit dem letzten katholischen Propst (Klostervorsteher) Johann de Pusco (von Busch) in dem verfallenden Gemäuer. Der Propst sprach von Brandstiftung durch die Klosterfeinde. Im Volke dagegen ging das Gerücht um, der Propst hätte Ostern mit einer Schar Weiber (- offizielle Huren gab es allerdings in Calbe seit 1543 nicht mehr -) gefeiert und sich dabei so "vol getruncken" (Chroniken..., Bd. 27, S. 132), dass er in dem Chaos seine Schlafkammer selbst angesteckt habe. Wer lügt, ist heute nicht mehr zu belegen. Denkbar wären beide Versionen, vielleicht auch eine Verbindung aus beiden: Die letzten Mönche feierten verzweifelt in ihrer maroden Zufluchtsstätte, und die reformatorisch eingestellten Gegner der Klöster nutzten die Gelegenheit, das Klostergemäuer endgültig zu vernichten.

Grabstein des ersten und letzten evangelischen Propstes Lambert Werner in der Hospitalkirche

De Pusco (von Busch) war der evangelischen Lehre durchaus zugeneigt gewesen, wie wir aus der Einweihungsrede für den neuen Stadtfriedhof am Laurentiusfriedhof 1551 (vgl. Station 6 und Station 20) durch den Pfarrer Leonhard Jacobi wissen (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 15). Als Johann von Busch 1553 starb, bekam das Kloster den ersten und einzigen evangelischen Propst, Lambert Werner, der anfänglich - im Gegensatz zu seinem Vorgänger - der neuen Lehre ablehnend gegenüberstand. Der Gesinnungswandel kam erst, als auch sein Herr, der 1553 an die Regierung gelangte Erzbischof Sigismund, Markgraf von Brandenburg, sich "mit Hand und Mund" der evangelischen Lehre verschrieb. Die Epitaphien des letzten katholischen sowie des ersten und einzigen evangelischen Propstes befinden sich in der noch erhalten gebliebenen Hospitalkirche St. Mariä und Johannis in Gottesgnaden (vgl. Dietrich, Ruhestätten, Seite 16).

Nach dem Tode von Lambert Werner 1569 wurde das Kloster für aufgehoben erklärt. Klöster waren in einem evangelischen Land unzeitgemäß und nicht der öffentlichen Meinung entsprechend. Selbst ein gemäßigter und anerkannter Mann wie Johann von Busch war 1548 angefeindet worden (siehe oben), weil er einem Kloster vorstand. Nach 1569 wurde ein weltlicher Verwalter des Klostergutes eingesetzt, der Schlosshauptmann (später Amtmann genannt) Melchior von Wellen (vgl. Dietrich, ebenda, S. 17). Das Kloster war nun zum ersten Mal säkularisiert.

In den Glaubenskriegswirren ging der Ruin der Klosteranlage, besonders der Stiftskirche, weiter voran. Vorher seien über den Mauern des Klosters von der Stadt aus noch "zwei solche blaue Türme und Spitzen wie auf der Stadtkirche zu Calbe zu sehen gewesen, welche aber nachgehends in dem Spanier-Kriege niedergerissen, die sechs Glocken, so in den Türmen gehangen, weggeführet, und also die Kirche verderbet worden." (Hävecker, S. 116, angepasste Rechtschreibung). Mit dem "Spanier-Krieg" meint Hävecker das Eingreifen von ca. 800 Spaniern unter dem berüchtigten Herzog Alba in den Schmalkaldischen Krieg, die in der Woche vor Pfingsten 1547 einen Plünderungszug durch das Magdeburger Land unternahmen und die Beute in ihrem zeitweiligen Lager in Barby zusammentrugen (vgl. Der Kreis Calbe, a. a. O., S. 164) .

Blick in die verwilderten Überreste des Kloster-Baumgartens

Klostermauer und Klosterpforte - zumindest das, was davon noch übrig geblieben ist

Im Dreißigjährigen Krieg (vgl. Station 6) starteten die Prämonstratenser einen Versuch der Rekatholisierung, als die Kaiserlichen zeitweilig die Magdeburger Gegend beherrschten. Das traurige Bild der Ruinen schilderte der neu eingesetzte (nun wieder: katholische) Propst Deodat Mans. Er fand außer den Wänden der Kirche und Trümmern kein Inventar vor, Säulen waren eingestürzt, der Kreuzgang, die Altäre, selbst der Estrich waren nur noch Schutt oder fehlten gänzlich. Die Vorratshäuser seien aber noch in Ordnung gewesen, --- bis die Kaiserlichen gekommen seien. Jetzt säßen dort 12 Wallensteiner mit 24 Pferden und fräßen alles auf. Auch das ist wieder ein Beispiel dafür, dass die Gier der Soldateska selbst vor den Würdenträgern der eigenen Konfession nicht Halt machte.

Wie siegesgewiss die katholische, aber auch die evangelische Seite waren, zeigt eine Anekdote, die Hävecker erzählt: Nach dem Einmarsch der Kaiserlichen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges "sandte Vater Ludowig des Klosters Gottesgnaden dem hiesigen [evangelischen - D. H. St.] Pastori ein paar Schuhe mit dem Bedenken, er sollte die Pfarre räumen und sich so fort machen, der sie ihm aber wieder zurück schickte mit der Antwort: Er sollte seine Schule nur behalten, denn er möchte derselben vielleicht selbst bedürfen; welches auch nicht lange hernach also geschehen..." (Hävecker, S. 59, angepasste Rechtschreibung).

Nicht identifizierbare Grabsteine an der Hospitalkirche,

bei dem linken erkennt man noch den Barockstil und die Fürstenkrone

Nach dem Einmarsch der Schweden und der Re-Evangelisierung, so berichtet Hävecker nach Erzählungen "alter Leute" jedenfalls, hatte der schwedische Kanzler Johannes Stalmann, der 1632 Gottesgnaden von seinem König Gustav Adolf als Besitztum geschenkt bekommen hatte, den in einem Steinsarkophag verborgenen Klosterschatz geraubt. Sicherlich aus Wut darüber, dass ihm Stalmann zuvorgekommen war und die Kursachsen ihm "seine" vom König geschenkte Stadt Egeln abgenommen hatten sowie sicherlich auch, um den Kaiserlichen und Sächsischen "verbrannte Erde" zu hinterlassen, ließ Johann Banér das Kloster und gleich auch noch die Brücke über die Saale niederbrennen. (Die Brücke war damals ein ganz wichtiger strategischer Knotenpunkt der Truppenbewegungen.) Hävecker wusste von alten Gewährsleuten, "daß die Einwohner zu Schwarz und Trabitz dazu gezwungen worden, daß sie Reiß-Holz und Stroh zuführen müssen; daß also die Gebäude an der Kirche, Häuser, Scheunen und Ställe in die Asche geleget sind." (Hävecker, Seite 116, angepasste Rechtschreibung).

Eine Inventur nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650) ergab, dass die Gebäude ohne Dach mit in die Luft ragenden Sparren und teilweise eingefallenen Mauern da standen. Die große Kirche war total ruiniert und verwüstet, die Wirtschaftsgebäude nur notdürftig mit Stroh abgedeckt.

Nach dem Kriege ließ Administrator Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614 - 1680) die Wirtschaftsgebäude durch Albrecht Heinrich von Welchhausen, dessen Wappen noch um 1900 an einer nicht mehr vorhandenen Kanzel der Hospitalkirche zu sehen war, wieder aufbauen bzw. reparieren. August, der zweite Sohn des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., war 1635 Nachfolger des verstorbenen Magdeburger Administrators, des brandenburgischen Markgrafen Christian Wilhelm, geworden und residierte seit 1642 in Halle. Der aufgeklärte, kunstliebende und -fördernde Fürst war Mitglied der "Fruchtbringenden Gesellschaft" und verzichtete 1647 auf seine Erzbischofs-Würde. Das nun zum zweiten Mal säkularisierte Kloster war zusammen mit Trabitz, Schwarz und den Vorwerken Chörau und Patzetz sowie den Mühlen Calbe und Chörau ein Amt unter der Verwaltung eines Amtsschreibers geworden (vgl. Hävecker, S. 118).
1720 sah Hävecker keine Zukunft mehr für die Stiftskirche; die Ruine wäre eine Behausung für Fledermäuse, Igel, Greifvögel und Marder geworden, wie er nach eigenem Augenschein schilderte (vgl. Hävecker, S. 118). Selbst dieser Klostergegner war enttäuscht darüber, dass die Ruine der Stiftskirche nun Stück für Stück abgetragen wurde. Nach seiner Meinung hätte man nicht die Hospitalkirche ausbauen, sondern die große Hauptkirche wieder aufbauen sollen. Der Calber Oberpfarrer beklagte das Aussehen der einstmals stolzen Kirche. Bevor das Kloster nach 1680 ein "Königlich Preußisches Amt" geworden sei, habe es sogar als Gestüt herhalten müssen (vgl. Hävecker, S. 116).

Das Vorhaben, aus der Anlage eine Landesschule (Gymnasium) zu machen, für die sogar 1653 schon eine Schulordnung ausgearbeitet worden war, sei an einigen "politici" (Politikern) gescheitert (vgl. Hävecker, S. 83 und S. 116). Hätte man diesen Plan angenommen, wäre Gottesgnaden ein zweites "Schulpforta" geworden.
 

Der Stich "Gegend der Stadt Calbe" (Ausschnitt daraus) des Kaufmanns Walther in der Hävecker-Chronik von 1720 zeigt den desolaten Zustand des Klosters Gottesgnaden um 1700

Als 1695 eine neue Schleuse gebaut wurde (vgl. Station 3), kam der Befehl, den Chorraum von Osten her so abzureißen, dass die Steinquader, aber auch die Steinmetz-Skulpturen zum Schleusenbau verwendet werden konnten. So geschah es auch. Der Materialwert der abgetragenen Steine für den Schleusenbau betrug 5000 Taler (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 17), ein Schnäppchen für den brandenburgisch-preußischen Kurfürsten Friedrich. Als sein Sohn, der noch sparsamere König Friedrich Wilhelm I., 1727 den Kanal von Calbe nach Frohse bauen ließ (vgl. Station 20), sollten auch diese Stiftskirchen-Steine zum Bau der drei geplanten Schleusen dienen. Das Fünfzigtausend-Taler-Projekt scheiterte jedoch aus außenpolitischen Gründen (vgl. ebenda), und die Steine verschwanden in anderen staatlichen und in privaten Bauvorhaben. Ab und zu, aber höchst selten, tauchten hier und da steinerne Relikte dieser bedeutenden Kirche auf (s. Abb. oben). Hoffen wir, dass bei Sanierungsarbeiten noch diese und jene Skulptur aus der großen Klostervergangenheit zutage kommt.

Als Friedrich Wilhelm I. sein merkantilistisches Programm zur Sanierung der preußischen Wirtschaft verwirklichte, stützte er sich, ähnlich wie sein Großvater, der "Große Kurfürst", auf protestantische Einwanderer (vgl. Station 1). So siedelte er nicht nur die wegen ihrer Konfession verfolgten Salzburger Exilanten in Ostpreußen, sondern auch die böhmischen protestantischen Spinner und Weber in Brandenburg, vorwiegend in Berlin, an. Eine ihrer Kolonien wurde die Friedrichstadt, in der die Bethlehem-, auch Böhmische Kirche genannt, errichtet wurde. Zum Guss der vorgesehenen zwei Glocken ließ der sparsame König die große Glocke aus dem inzwischen zur Ruine verfallenen und als Materialspender dienenden Kloster "Gottes Gnade" einschmelzen. Eine dieser beiden Glocken wurde nach einem Luftangriff 1943 gerettet und befindet sich heute im Kirchsaal der Evangelisch-Reformierten Bethlehemsgemeinde in Neukölln (vgl. www.berlin-topographie.de/strassen  unter "Bethlehemkirche" - Für den URL-Hinweis bedanke ich mich bei Herrn Wolfram.)


Auf dem Klosterterritorium blieb nur die kleinere Kirche im Klosterfriedhof erhalten. Sie wurde 1190 vom Prior Bernhard, dem Stellvertreter des Propstes Heidenreich, aus eigenen Mitteln gebaut  (vgl. Dietrich, Ruhestätten, Seite 16) und 1207 von Erzbischof Albrecht den Heiligen Maria und Johannes geweiht. Sie bekam als Kapelle vor dem Klostertor ("ante fores monasterii") die Funktion einer Hospitalkirche (vgl. oben). Der so genannte Sachsenturm ist noch im romanischen Stil erhalten geblieben; er trägt ein Satteldach und ist mit gekuppelten Rundbogenfenstern, die jeweils von einer Säule mit romanischen Würfelkapitellen getragen werden, versehen (vgl. Heiber, a. a. O., S. 32). Das Langhaus wurde 1710 nach einem Brand teilweise gotisch umgebaut und erweitert. Diese Kirche gehört bis auf die heutige Zeit zum Ortsteil Gottesgnaden.

Blick vom s. g. Sandhof auf die königlich-preußische Domäne Gottesgnaden um 1850 (nach: Archiv Fam. Zähle)

Nach 1680 wurde der Wirtschaftsteil in eine preußische Domäne umgewandelt, und als solche blieb er bis zur Bodenreform nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen. Heute noch lassen die alten landwirtschaftlichen Industrieanlagen im Ortsteil Gottesgnaden das Aussehen der preußischen Domäne erahnen. Nach der Bodenreform wurde der Grund und Boden Neubauern-, später LPG-Land, und ein Teil davon die Gärten des Kleingartenvereins "Neue Zeit".

Seit 1940 führt ein neuer Kanal zur Umgehung des Wehres (vgl. Station 3) mit einer modernen Schleusenanlage direkt (östlich) am Ortsteil Gottesgnaden vorbei.

Der seit 1940 existierende neue Kanal mit Schleuse bei Gottesgnaden