13. Die Schlossvorstadt entstand zeitlich später als die Bernburger Vorstadt (vgl. auch Station 19), nämlich erst, als das Schloss im 14.Jahrhundert errichtet wurde (vgl. Station 11). Während die Bernburger Vorstadt schon vor 961 existierte (vgl. Reccius, S. 5),war zu dieser Zeit noch nicht an die Schlossvorstadt zu denken. Sie taucht in den Akten erst 1366 auf (vgl. ebenda, S. 20). Nördlich des Schlosses bildeten sich zwei Siedlungen, die Gröperei (Töpferei) und die Ketzerei, heraus.

Schlossstraße in der ehemaligen Schlossvorstadt

Das nördliche Tor in der Stadtmauer wurde ursprünglich "Gröper-Tor", später nach einer längeren Existenz des Schlosses "Schloss-Tor", genannt. Die Gröperei erstreckte sich von diesem Tor bis zur Südseite der Kleinen Angergasse. Die Gröper (Töpfer) holten sich ihr Arbeitsmaterial, den Ton, aus den so genannten Tonkuten (heute: "Grüne Lunge"). Das Wort Ketzerei könnte etwas mit dem norddeutschen Wort für Fänger ("Ketscher") zu tun haben. Die Frage wäre dann nur, was dort gefangen wurde, Fischer lebten jedenfalls nach Urkundenlage nicht in der Schlossvorstadt. Hanns Schwachenwalde vermutet, dass in der Ketzerei kirchliche Nonkonformisten, die im Volksmund Ketzer hießen, zwangsangesiedelt wurden, um unter erzbischöflicher Aufsicht zu sein. Klaus Herrfurt dagegen zweifelt an, dass man "Ketzer" ansiedelte, diese wären rigide bekämpft worden. Er vermutet das Wort "Kietz" = "slawische Dienstsiedlung" als Namensursprung (vgl. Etymologisches Wörterbuch [dtv] 1995, S. 653).  Die Bewohner der Ketzerei waren zum Teil Hörige (vgl. Feudale Abhängigkeit) der erzbischöflichen Güter und des "Amtes" Calbe. 6 Familien aus der Ketzerei waren Hörige und Leibeigene des Rittergutes (vgl. Station 8). 1467 wird die aus strohgedeckten Lehmhäusern bestehende Siedlung "Ketzerige" genannt, also eine Ketze(r)-Reihe, was als Katzen-, Ketten- oder tatsächlich als Ketzer-Reihe gedeutet werden kann. Eine "ketze" oder "kötze" war im Mittelalter aber auch ein Rückenkorb, und ein "ketzer" musste nicht unbedingt "verworfener Mensch" bedeuten, es konnte auch ein Schlepper oder Schleifer sein (vgl. Matthias Lexers mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, S. 106f., 113f.). Schleppten diese Leibeigenen eventuell Lastschiffe im Mühlgraben und waren Vorläufer der "Saalebuffer" (vgl. Station 11) Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Begriff von mhd. "kotsete", mnd. "kotze" ("Kotsasse", "Kossäte"), (vgl. Deutsches Rechtswörterbuch, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, seit 1896) für den halbfreien Bewohner einer Lehm-Kate herrührte. Möglich ist, dass das Wort "kotze-rige" zu "kötze- und schließlich zu "ketze-rige" abgeflacht bzw. vereinfacht wurde. Diese s. g. Ketzerei also erstreckte sich, wie das Grundbuch auswies, nördlich der Kleinen Angergasse (Nr. 7 - 10) und Schlossstraße 74 und 37 (vgl. Reccius, S. 29), damit bildete sie tatsächlich eine "Reihe".

Ehemalige "Ketzerige" (Kleine Angergasse 7 - 10, Schlossstraße 37 und 74, s. Text oben)

Die Gröperei, die 1366 erstmalig urkundlich erwähnt wurde (vgl. Reccius, S. 20), und die Ketzerei bildeten die Schlossvorstadt.
Alle Vorstädter waren politisch und sozial gegenüber den Bewohnern der Kern-Stadt stark benachteiligt, z. B. besaßen sie weder das Bürger- noch das Zunftrecht. Wer in die Stadt ziehen wollte, musste Bürgergeld, Einzugsgeld und Geld für ein Bürgermahl (aber nur für den Rat) bezahlen, alles in allem ein halbes bis ganzes Jahreseinkommen. Vorstädter hatten nicht das Recht, wie die Stadtbürger Bier zu brauen (vgl. Station 4). Nicht einmal pflügen durften sie das ohnehin geringfügige Stückchen Acker selbst, das verrichteten für sie die vermögenden Ackerbürger von Calbe, für Entgelt, versteht sich. Als es 1687 ein "Angestellter der Stadt", der aber aus hygienischen Gründen in der Schlossvorstadt wohnen musste, nämlich der Scharfrichter und Abdecker, wagte, selbst zu pflügen, wurde ihm das strikt untersagt.

Beide Vorstädte galten als Dörfer mit je einem Schulzen. Immer wieder wurde berichtet, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Schlossvorstadt aus elenden Hütten bestand und die Menschen in der Mehrzahl arm waren. 1706 bezeichnete Pfarrer Hövel die dort lebenden Menschen als "arme Schloßvorstädter" mit einer "sehr armen, aber zahlreichen Jugend" (Dietrich, Ein Gang..., S. 3).

Anzahl der Häuser in der Schlossvorstadt (s. Text unten)

Kein Wunder, da ja die Bevölkerung zum überwiegenden Teil aus Leibeigenen und Hörigen bestand, denen es verboten war, ein Handwerk auszuüben. Anders war es dagegen bei der Scharfrichterei, Salpeterhütte, Ratsziegelscheune und den Gasthöfen in der Schlossvorstadt. Deren Angestellte, Pächter oder Besitzer konnte man durchaus nicht zu den armen Vorstädtern rechnen (vgl. weiter unten). Manchmal aber gelang es einigen wenigen Vorstädtern doch, Vermögen zu akkumulieren, wie dem späteren Bäckermeister Andreas Wernicke, der 1714 Acker für 1916 Taler kaufte (- nach heutigem Wert fast 1 Mill. € -) und die Ratsziegelscheune in Pacht hatte (vgl. Reccius, S. 67). Die Mehrzahl der Schloss-Vorstädter aber war bettelarm, sie alle besaßen nur 31 Morgen Ackerland, das vorwiegend der gärtnerischen Selbstverorgung dienen musste. 1660 wurden in den 42 (- in der Mehrzahl -) armseligen Haushalten sieben Kühe, zehn Schafe, zehn Schweine, ein Pferd und einige Hühner gezählt (vgl. Dietrich, Gang, S. 2). Besonders schlimm war, dass die zwei Brücken über den Hauptarm der Saale und über den Mühlgraben alle "Kriegsvölker", insbesondere die Mordhorden im Dreißigjährigen Krieg, geradewegs in die Schlossvorstadt führten. Da diese direkt am Schloss lag, fanden auch von hier aus die meisten und aufwändigsten Angriffe statt. Dabei wurden die ohnehin armseligen, leicht brennbaren Hütten der Vorstädter immer wieder vernichtet. Zu allem Unglück zerstörte nach dem Desaster des Dreißigjährigen Krieges noch einmal der Großbrand von 1683 die Schlossvorstadt zu 70 Prozent (vgl. Station 10). Aber schon 1705 waren es 41, 1781 dann 51 und 1899, im Jahr der Vereinigung mit der Stadt Calbe, 88 Häuser (vgl. Dietrich, Gang, S. 2, vgl. Abb. rechts oben). Die neue Zugehörigkeit zu Preußen, der Abriss der Stadtmauern und der Aufschwung der Tuchmacherei trugen dazu bei, dass ein juristisch-formales "Dorf" wie die Schlossvorstadt expandieren konnte. Im Siebenjährigen Krieg wurde 1759 die Schlossvorstadt durch Österreicher und Russen noch einmal schwer geplündert und gebrandschatzt.

Schauen wir uns nun einmal historisch interessante Gebäude in der ehemaligen Schlossvorstadt an.

Gleich an der nördlichen Stadtmauer zwischen den Wällen lag ein Haus der Elenden-Stiftung, ein Kranken- und Badehaus, das aber noch in den Verwaltungsbereich der Stadt gehörte. Ein Stück weiter nördlich begann die eigentliche Gröperei und damit die Vorstadt. Gleich am Anfang standen zwei Gasthöfe, der bedeutende "Zum Goldenen Stern" und nördlich daneben der "Zum Schwarzen Bären".

Der  nach dem Dreißigjährigen Krieg neu erbaute Gasthof "Goldener Stern" (Computer-Rekonstruktion nach einer Bauzeichnung in "Acta ... Schloßstraße Nr. 80 [83]", a. a. O.,  Zeichnung vom 6.11.1925 und ff., mit ArCon 4.0. Die Farbgebung ist fiktiv.)   

Der "Goldene Stern" war eine uralte Gaststätte, die durch ihre Lage direkt gegenüber den Saalebrücken große Vorteile, aber auch katastrophale Nachteile zu verbuchen hatte - Vorteile im Frieden durch die Fern-Reisenden, die, bevor sie die Stadt erreichten, zuerst im "Stern" abstiegen, Nachteile im Krieg durch die exponierte Lage. Im Dreißigjährigen Krieg wurde der Gasthof völlig zerstört. Nach dem Krieg baute ihn Christoph Deutschbein, ein Geleitsmann, d. h. ein höherer Zollbeamter des Schlossamtes (Amtszeit 1643 - 1670), wieder auf (vgl. Dietrich, Gang, S. 2), denn er war eine echte Goldgrube. Seit dem 15. Jahrhundert war der "Goldene Stern" privilegiert, auch fremde Biere, also nicht nur "Cälberei" (vgl. Station 4) auszuschenken. Der "Schwarze Bär", der - wie ausdrücklich vermerkt wurde - nicht zum Grundstück des "Goldenen Sterns" gehörte, war ebenfalls Eigentum Christoph Deutschbeins gewesen, denn 1685 waren sie Eigentum einer Erbengemeinschaft Deutschbeins (vgl. Reccius, S. 62). Den Gasthof "Zum Güldenen Engel" in der Bernburger Vorstadt (vgl. Station 21) besaß Christoph Deutschbein ebenfalls. Der sehr reich gewordene Geleitsmann hatte einen Erpresserbrief erhalten und musste 100 Taler zahlen, damit seine Gasthöfe nicht niedergebrannt wurden (vgl. Hävecker, a. a. O., S. 79). Einer der Deutschbeinschen Erben war der Ratsherr und spätere Bürgermeister Christian Friedrich Deutschbein gewesen. Dieser Christian Friedrich begegnet uns in einem anderen, recht bedeutenden Zusammenhang: Bürgermeister Deutschbein, der philologisch interessiert war, lieh einem damals noch unbekannten, wissenshungrigen Hauslehrer namens Jakob Friedrich Reimmann Schriften, sogar in arabischer Sprache, aus. Dieser Reimmann wurde einer der bedeutendsten deutschen und europäischen Aufklärer, der seit 1703 mit dem Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) befreundet war und mit ihm in einem engen wissenschaftlichen Kontakt stand. Reimmann war 1690/91 Hauslehrer für die Söhne des Oberamtmanns Hahnstein und heiratete  eine Brumbyer Nichte des Calbe-Chronisten Hävecker (vgl. Station 7). Der Theologe, Pädagoge, Historiker und Philosoph, der als Begründer der modernen deutschen Literaturwissenschaft und Genealogie gilt, wird im Zusammenhang mit den verschwägerten Häveckers auf Seite 7 ausführlicher behandelt. (Die Hinweise auf Reimmann in Verbindung mit den Häveckers verdanke ich dem Bonner Genealogie-Forscher und Esperantisten Bernhard Pabst.)

Im Vordergrund links das Haus des geschichtsträchtigen Gasthofes "Zum Goldenen Stern" (Schlossstraße 83). Rechts neben der breiten Einfahrt zum Gasthof das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert als Verkaufsstelle des Konsumvereins genutzte (gelb gestrichene) Gebäude; wiederum rechts daneben der ehemalige Gasthof "Zum Schwarzen Bären".

Als der Schlosshauptmann Günzel von Veltheim 1614 den Rat ersuchte, den Ausschank von Zerbster Bier im "Goldenen Stern" anlässlich der Hochzeit seiner Tochter zu gestatten, gab es Streitigkeiten, die aber dann doch positiv für Veltheim endeten. Das zeigte zweierlei, erstens, dass der Rat nicht den Ausschank eines jeden fremden Bieres gestattete und das schon gar nicht widerstandslos für einen von Veltheim, mit dem man im bitteren Zwist lag (vgl. Station 8), und zweitens, dass der "Goldene Stern" auch für große Festlichkeiten bedeutender Persönlichkeiten herhalten musste. Die Brautleute, die hier heirateten, waren später die Eltern der Anna Margareta von Haugwitz, jener schönen Calbenserin, die als Achtzehnjährige den schwedischen Feldherrn Carl Gustaf Wrangel heiratete (vgl. Stationen 5, 6 und 8 sowie die Website über das Leben des Ehepaares Wrangel).

Bevor dieser Gasthof im Dreißigjährigen Krieg völlig zerstört wurde, sollen in ihm berühmte (- oder auch berüchtigte -) Feldherren Quartier genommen haben: Albrecht Wenzel Eusebius Graf von Wallenstein (Waldstein) - Herzog von Friedland (1583 - 1634), Johann Tserclaes Graf von Tilly (1559 - 1632), Graf Gottfried Heinrich zu Pappenheim (1594 - 1632) und Johan Banér (1596 - 1641) (vgl. Dietrich, ebenda). Für diese Überlieferungen gibt es aber keine urkundlichen Belege. Nach dem Wiederaufbau durch Deutschbein florierten die Geschäfte des "Goldenen Sterns" wieder. Im 18. Jahrhundert hieß der Gasthof kurze Zeit "Zum Güldnen Ring", wie aus alten Stadtplänen hervorgeht. Im "Goldenen Stern" fanden auch bedeutende politische Versammlungen im Vormärz und in der 1848er Revolution statt, wie z. B. die Calbesche Steuerverweigerungs-Volksversammlung Ende 1848 (vgl. Station 3).  In den Gründerjahren, als französische Vornehmheit in Mode kam, wurde aus dem Gasthof das "Hotel zum Goldenen Stern".

Von der Gaststätte "Zum Schwarzen Bären" ist nichts Denkwürdiges bekannt. Außerdem gab es wenige Meter weiter nördlich auf der Ostseite der Schlossstraße an der Einmündung der Kleinen Angergasse die 1723 erstmals erwähnte Gaststätte "Zum Weißen Schwan" (heute Schlossstraße 36), die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Besitz von Johann Andreas Erxleben und seiner Frau Christiane Dorothea Elisabeth (geb. Klinkerfuß) war.

Im schicksalhaften Jahr 1813 war der 21jährige Schiffer Johann Gottfried Heinrich Müller aus Roßlau an der Elbe zur Westfälischen Armee Napoleons (vgl. Stationen 18) gepresst worden.

Sohn Friedrich, der Lehrer wurde, schrieb in seinen biografischen Aufzeichnungen über seinen Vater:

"1813 mußte er gegen Preußen, Rußland und Österreich unter Napoleon I. in den Krieg ziehen. Bei Kulm [Chlumec u Chabarovic in der Nähe von Teplice - D. H. St.] verlor Napoleon die Schlacht und mein Vater wurde gefangen genommen. Die Gefangenen sollten nach Sibirien gebracht werden. Aber mein Vater und ein Landsmann von ihm desertierten. Er kam nach Linz in Österreich und vermietete sich bei einem Bauern.

Nach einem Jahr kehrte er zurück in die Heimat, indeß sein Vater gestorben war, und stand nun mit seinem Bruder allein. Er kaufte sich ein Fahrzeug und fuhr Holz und Güter.

Er kam damit auch öfters nach Calbe und lernte dort die Tochter des Gasthofbesitzers zum Weißen Schwan kennen, namens Erxleben, und vermählte sich im Jahre 1820 [richtig: 1821]. Sie hatten 8 Kinder... [2 starben jung].

Die Mutter besorgte die Wirtschaft und der Vater legte einen Holzhandel an, vergrößerte später sein Geschäft durch Kohlensteine, englische Kohle, böhmische Kohle und Bretterhandlung, bis er im Jahre 1848 starb. Die Mutter führte das Geschäft weiter und übergab es dann dem Christel [Christian], der sich 1855 mit Emma Schulze verheiratete... Ich, Friedrich Müller, erwählte den Lehrerberuf, den ich in Calbe ausübte." (nach: Archiv Dr. Wolfgang Cleve, Merseburg = Ahnenliste der Geschwister Cleve, in: Deutsche Zentralstelle für Genealogie Leipzig)

 

(Da Friedrich Müller, ein gutmütiger, heiterer und gebildeter Mensch, 1897 (laut Adressbuch) im alten Schulhaus der Vorstadt (heute Nr. 77 - s. unten) als Pensionär lebte, ist anzunehmen, dass er dort auch Lehrer gewesen war.)

Gasthausschild von 1819 Christiane Dorothea Elisabeth Müller (biedermeierlicher Schattenriss) Grab J. G. H. (Friedr.) Müllers, des Gastwirtes und Händlers, auf dem 1844 eingeweihten Friedhof
Schlossstraße 36/Ecke Kleine Angergasse: im 18.Jh. Gastwirtschaft "Zum Weißen Schwan", im 19. Jh. "Zum Halben Mond" Schlossstraße 32 während der Tausendjahrfeier Calbes 1936
(nach: Archiv Dr. Wolfgang Cleve, Merseburg)


Als sein Vater als junger Mann nach Kriegsdienst, zweitägiger, und schließlich für Napoleon verlorener Schlacht gegen die Übermacht der Verbündeten, nach Gefangenschaft, Flucht und Arbeit bei einem Bauern in der Nähe von Linz 1814 nach Roßlau zurückkehrte, waren seine Eltern bereits kurz hintereinander 1813 gestorben, möglicherweise infolge der durch den Kriegszustand verursachten Mangelsituation (vgl. Stationen
18). Kurz entschlossen kaufte er sich von seinem Erbe einen Lastkahn und kam so auch nach Calbe, wo in der Nähe des Anger-Frachthafens (vgl. Station 11) die kleine Gastwirtschaft "Zum Weißen Schwan" lag. Hier wird wohl der junge Schiffer öfters eingekehrt sein und sich schließlich in die Wirtstochter verliebt haben. Nach der Heirat 1821 führten die beiden das Geschäft für die betagten Eltern. 1823 kaufte Johann Gottfried, genannt Friedrich, das Grundstück. Sein Handelstalent als Lastenschiffer kam ihm auch als Gastwirt zugute. Als der Schwiegervater drei Jahre später gestorben war, legte der junge Wirt einen Holzhandel an und vergrößerte später sein Geschäft durch Vertrieb von Kohlensteinen (später Briketts genannt), böhmischer Kohle und Brettern. Die Gastwirtschaft bekam den neuen Namen "Zum halben Mond". Johann Gottfried Heinrich (Friedrich) Müller erwarb sich mit seinem Roh- und Brennstoffhandel ein ansehnliches Vermögen. Er starb 1848 im Alter von 56 Jahren in Calbe.

Seine Frau führte das Geschäft bis zu ihrem Tode 1856 weiter. Anschließend übernahm Sohn Christian, der 1855 Emma Schulze geheiratet hatte, die Wirtschaft (nach: Archiv Dr. Wolfgang Cleve, Merseburg). Mit dem Handel wurden die Müllers so vermögend, dass laut Adressbuch von 1897 weitere zwei Grundstücke in ihren Besitz gekommen waren, heute die Häuser Schlossstraße 32 und 33. Später tauchte der Holz- und Kohlehandel der "Kaufleute" Müller zusammen mit der Gaststätte "Zum halben Mond" im repräsentativen Haus Nr. 32 auf. Bis in die 1980er Jahre war dort ein Kohlehandel zu finden.

 

Früher gebräuchlicher Trichter-Kalkofen

Wo heute die moderne Heger-Sporthalle steht, konnte man vor Jahrhunderten die Ratsziegelscheune und die Kalkhütte finden.

300 Meter östlich vom "Goldenen Stern" konnte man gleich in der Nähe der (seit 1637 nicht mehr vorhandenen) Saalebrücken zu Beginn der Neuzeit eine Baustoff-Manufaktur, die Ratsziegelscheune und später eine Kalkhütte mit Kalkofen, finden (vgl. Hävecker, S. 116). Hier wurden der nicht nur zum Bauen benötigte Kalk und die Backsteine (Ziegel) für den Hausbau gebrannt. Diese Manufaktur war wegen der Brandgefahr in der Nähe des Mühlgrabens und weiter weg von den Wohnhäusern errichtet worden. Sie war etwa an der Stelle der heutigen Heger-Sporthalle zu finden gewesen. Die Kalkherstellung aus Kalkstein ist den Menschen seit einigen Jahrtausenden bekannt. Kalk wurde zum Gerben, Bleichen, Malen, Düngen sowie zur Glas- und Mörtelherstellung benutzt. Römer und Kelten waren hier Pioniere gewesen. Erst im späten Mittelalter und in der Neuzeit wurde dieses alte Wissen wieder aufgefrischt und angewandt. Die Anlagen waren meist Schacht- und Trichteröfen (s. Abb. links oben). Ähnlich wie bei Metall-Schmelzöfen wurde der von unten belüftete Trichter mit abwechselnden Schichten von Holzkohle (später Koks) und Kalkstein gefüllt. Ganz unten lag Reisig zum Entzünden. Es dauerte mehrere Tage, bis aus Kalkstein gebrannter Kalk geworden war. Mit Wasser gelöschter Kalk war nicht nur ein wichtiger Bestandteil des Mörtels, er diente auch zum Tünchen der Wände, in südlichen Ländern zum Teil heute noch, sowie zum Entsäuern des Bodens und damit zur Ertragssteigerung. Die Calber Ratsziegelei war 1657 auf Anraten des Schloss-Hauptmanns Lewin von Barby durch einen Kalkofen erweitert worden (vgl. Dietrich, Gang, S. 7).

In der Nähe des "Goldenen Sterns" und des "Schwarzen Bären" stand das Haus des Forstbeamten, der damals Heide- oder Hegereiter genannt wurde. Die "Heydereutherei" befand sich in der Schlossstraße 77. Das Haus war im Dreißigjährigen Krieg und beim großen Brand von 1683 (s. oben und Station 10) total vernichtet, aber kurz danach von Meister Hans Steffen wieder aufgebaut worden (vgl. Dietrich, Gang, S. 2f.). Die folgenden zwei Jahrzehnte war es nun die Wohnung des Hegereiters. Die Förster hatten die Aufgabe, die umfangreichen Waldbesitzungen ihres Herrn, des Erzbischofs bzw. Administrators, und später ihres preußischen Königs um Calbe herum zu hegen und zu pflegen und vor Forstdiebstählen zu bewahren. Den größten Gehölz-Anteil dabei hatte aber der Hohendorfer und Schwarzer Busch (- damals noch in der Nähe von Schwarz vorhanden -), die eine große Waldfläche im Südosten der Stadt bildeten. Diese lag aber am anderen Ende der Stadt, etwa 3 km vom Haus des Hegereiters entfernt. Holzdiebstahl und Wilddieberei nahmen immer mehr überhand (vgl. Dietrich, Gang, S. 3). Auf Anraten seiner Vorgesetzten zog deshalb Förster Neidhardt 1705 direkt zum "Brennpunkt", d. h. in ein Gehöft an der Fähre im Schwarzer Busch, das ab etwa 1800 "Tippelskirchen" genannt wurde (vgl. Reccius, S. 86 und Station 11). 1709 wurde in der Heydereutherei und im Calbeschen Fährhaus (vgl. Station 11) Gottesgnadener Bier ausgeschenkt, was zu Beschwerden der Steuerbeamten  Johann Friedrich Reichenbach und Johann Ernst Strehle führte (vgl. Reccius, S.66). Jedoch schon 1781 wurde der Schwarz´sche Busch gerodet, und 1782 ging der Magistrat scharf gegen den Plan des Kriegsrates Avenarius vor, im Forstgebäude jenseits der Saale (heute Tippelskirchen, vgl. Station 22) eine Gastwirtschaft einrichten zu lassen. Dieser neue Gasthof würde dem Amt Gottesgnaden unterstehen und mit dem Ausschank fremder Biere nicht nur die Brauwirtschaft Calbes, sondern auch den für die Stadtkasse so wichtigen Ratsgasthof vor dem Brumbyer Tor (Zum Roten bzw. Schwarzen Adler) schädigen (- Wirt im Adler war der 1768 Calber Bürger gewordene ehemalige Student und Leutnant der Glasenapp´schen Dragoner Zacharias Kegel -, vgl. Reccius, S. 81).

Die ehemalige "Heydereutherei" und spätere Schule der Schlossvorstadt von 1707 - 1852

1706 wandte sich der für beide Vorstädte zuständige Pfarrer Johann Georg Hövel (vgl. Station 20) an die Königlich Preußische Amts-Kammer in Magdeburg, sie möchte in die Wege leiten, dass in dem leer stehenden Förster-Haus eine Schule für die "erbarmungswürdigen, unerzogenen armen Kinder" der Schlossvorstädter eingerichtet werde (vgl. Dietrich, ebenda).  Bis dahin gab es nur eine Dorfschule für beide Vorstädte in der Bernburger Vorstadt (vgl. Station 19), die von ganz wenigen Schlossvorstadtkindern besucht wurde. Die Zustimmung kam tatsächlich auch bald aus Magdeburg. Das Haus wurde für 100 Taler gekauft und für 50 Taler als Schule eingerichtet.  Unten befand sich die bescheidene Wohnung der Lehrerfamilie und oben die Schulstube. Dass innerhalb kurzer Zeit in Calbe (zwischen dem ausgehenden 17. und dem beginnenden 18.Jahrhundert) drei neue Schulen entstanden (vgl. Station 7), eine davon im Stadtzentrum, hing sicherlich mit der neuen Zugehörigkeit (seit 1680) zu Preußen zusammen. Am 26. 10. 1707 wurde der neue Lehrer, der Student der Theologie Christian Bartenstein, vom Oberpfarrer Johann Heinrich Hävecker (vgl. Station 7) in Gegenwart Pfarrer Hövels, des Amtsvorstehers und einiger Gemeindevertreter feierlich in sein Lehramt eingeführt. Jedes der 52 Kinder bekam zur Eröffnung der neuen Schule ein Weißbrot geschenkt. Die Amts-Kammer in Magdeburg billigte Bartenstein im ersten Jahr  50 Taler als Lohn, ab 1708 dann 60 Taler pro Jahr zu. Allerdings musste er sich von diesen 60 Talern allein 20 durch Zusatzarbeiten wie Briefeschreiben und durch Erbetteln bei so genannten Umgängen selbst "verdienen". Die Unsitte der "Umgänge" zu bedeutenden kirchlichen Feiertagen wurde im 19. Jahrhundert wegen ihres entehrenden Charakters abgeschafft. Während seine Schüler vor den Türen der Einwohner sangen, musste der Lehrer milde Gaben einsammeln, die dann ein Teil seines "Gehaltes" waren. Ein Rest dieses Brauches ist noch im Drei-Königs-Singen erhalten geblieben. Bartenstein starb anerkannt und geachtet im Jahr 1719. Sein Nachfolger Johann Georg Schmackpfeffer gab "wegen gar zu schlechter Subsistenz" [Lebensunterhalt - D. H. St.] schnell wieder auf. Da man keinen neuen Lehrer bekommen konnte, versah der Kantor (Kirchenchor-Leiter und Lehrer) der Bernburger Vorstadt Georg Thiele den Unterricht für die Schlossvorstadt-Kinder bis 1725 notdürftig mit. Bis 1745 versahen 5 Prediger-Anwärter den Unterricht, und danach wurden Katecheten als Lehrkräfte eingesetzt, bis 1843 waren es 6 hintereinander. Diese "Hilfskräfte" waren außerdem auch Handwerker, wie z. B. Eintragungen zeigen: "der Katechet und Schneider...". Nach 1843 übernahmen seminaristisch ausgebildete Lehrer das Lehramt. 1852 wurde an der heutigen Gartenstraße ein neues Vorstadt-Schulgebäude mit einem Lehrer (bzw. ab 1875 mit zwei Lehrern) eröffnet. Der von Zimmermann Seume und Bauführer Riemann aus Sandau errichtete neue Bau hatte 2265 Taler und 15 Silbergroschen gekostet. Im Jahr der Vereinigung mit der Stadt, 1899, gingen 93 Kinder in diese Schule. Das ehemalige Heydereuther- und spätere Schul-Haus war 1855 für 1100 Taler verkauft worden (vgl. Dietrich, Gang, S. 5). Hier  wohnte u. a. der Lehrer Friedrich Müller, Sohn des Halb-Mond-Wirtes und Händlers von gegenüber (s. oben). Sein Werdegang wirft ein interessantes Licht auf die pädagogische Situation in Calbe und seinen Vorstädten in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Friedrich Müller wurde am 26.10.1831 in Calbe geboren als Sohn des Gastwirts und Holzhändlers Gottfried Müller und seiner Ehefrau Christiane Dorothea geb. Erxleben. Er besuchte erst die Schule in der Vorstadt, seit 1845 die Schule am Kirchplatz (vgl. Station 7). Da der begabte Junge Lehrer werden wollte, bezog er 1847 die Bürgerschule in Magdeburg, dann die dortige Präparandenanstalt und anschließend 1850—1853 das Seminar.
1853 kam Friedrich Müller nach Calbe zurück, wurde erst Lehrer an der Volksschule [Vorstadtschule] und später an der Bürgerschule. 1858 vermählte er sich mit Franziska Fuchs, Tochter eines Auktionskommissars. 1896 trat der geachtete und mit dem preußischen Hausorden dekorierte Lehrer in den Ruhestand. Er wohnte noch drei Jahre in dem ehemaligen Vorstadt-Schulhaus, wo er einst eingeschult worden war, und zog später zur Familie seiner Tochter in die Tuchmacherstraße. 1911 starb der heitere, bescheidene und liebenswürdige Mann
(nach: Cleve-Archiv, a. a. O.).

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit das Hochnotpeinliche Gericht und die Scharfrichterei, im 19./20. Jahrhundert eine Zichorien-Darre

 

Wenige Meter weiter nördlich auf der gleichen Straßenseite befand sich um 1900 die Zichoriendarre (von Kricheldorff), in der die Wurzeln der damals als Kaffee-Ersatz beliebten Wegwarte (Zichorie) getrocknet wurden (s. dazu Station 15). Dieses Gebäude Schlossstraße 75 wäre aber weniger erwähnenswert, wenn es nicht ehemals das Haus des Scharfrichters (Henkers) und Abdeckers auf dem Gelände des Hochpeinlichen Halsgerichts gewesen wäre. Wie Hävecker berichtet, soll hier vor dem Nordtor in alten Zeiten ein Ältestengericht (- wie am Südtor -) existiert haben. Solche patriarchalischen Geschworenen-Gerichte freier Männer stammten aus der germanischen Tradition her und waren auch im Alten Orient zu finden gewesen. Hävecker schreibt darüber: "Es wollen einige sagen, daß vor Alters auch ein Gericht am Schloß-Tor gehalten worden sei, davon man aber, worin es bestanden, keine Auskunft geben kann." Eine alte Urkunde, die Hävecker noch gesehen habe, hätte verkündet, dass in ottonischer Zeit an solchen Orten wie calvo " im Felde frei das Gerichte mit entblößten Häuptern gehalten" wurde. Die Ähnlichkeit mit germanischen Gerichten kann man deutlich erkennen. Hävecker erklärt weiter, dass Otto I. seinen gelehrten Ministerialen Hermann von Stupperhorn zum Richter in Magdeburg mit Curien in Calbe und Gommern gemacht habe, wo "die freien Gerichte unterm freien Himmel vor Gott und seinen Heiligen gehalten, auch jeder frei zutreten durfte und Recht suchen, welches denn das Älteste Gericht genennet, und eine Kapelle vor dem Tore St. Jacob zu Ehren aufgerichtet. Die Stände wurden beschieden ad sedilia judicum publica [zum Sitz des öffentlichen Rechts - D. H. St.], und dieses bestunde aus einem Stargar, oder Richter, und elf Beisitzern, davon der Richter und fünf ältesten Edelleute, die übrigen aber Unbescholtene auf dem Lande sein mussten." (Hävecker, S. 33, angepasste Rechtschreibung). Im Klartext: Das feudale Ältest-, Eldist- bzw. Ältesten-Gericht bestand aus 12 Männern, wovon 6, einschließlich dem Richter (Stargar), Adlige und 6 angesehene Ackerbürger waren. An alte germanische Zeiten erinnerte übrigens auch die mythische Zahl 12. Am Bernburger Tor gab es eine Säule mit dem Stuhl des Ältesten-Gerichts, welcher noch 1615 ausgebessert wurde (vgl. Station15). An solch einen frühmittelalterlichen Stuhl zur Rechtssprechung erinnern noch heutige Begriffe, wie z. B. "Schöffen-Stuhl". Wenn auch Hävecker nicht ganz sicher war, ob es nicht nur vor dem Süd-, sondern auch vor dem Nordtor einen Sitz des Ältestengerichts gegeben hatte, schrieb er weiter: "Dieses aber ist gewiß, daß vor diesem Tore nahe bei der Scharfrichterei, ein Platz, welcher nunmehro bebauet ist, gewesen, auf welchem ein hochpeinliches Hals-Gericht noch bei Menschen Denken geheget worden." Noch in den 1650er Jahren war dort  von "Richter und Schöppen über einen flüchtigen Totschläger, namens Barthel, nach vorhergegangener dreimaligen Citation [Gerichts-Vorladung] ein solches gehalten, und der Stab über denselben, wie in Gerichten üblich, gebrochen worden." (Hävecker, ebenda, angepasste Rechtschreibung).

Bis 1700 wurde auf dem Gelände (heute Schlossstraße 75) durch den Henker und seine Knechte gefoltert, mit dem Schwert gerichtet, aufs Rad geflochten oder am Galgen gehenkt. Zur Rechtsfindung war es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit üblich, das so genannte Gottesurteil (Zweikampf, Wasser-, Feuerprobe u. a.) anzuwenden und das Geständnis unter der Folter zu erzwingen. Auch dabei wurden der Henker und seine Gesellen eingesetzt (s. Abb. unten links).

Hinrichtungen im 16. Jahrhundert - Auf dieser Grafik bleibt den Geräderten der qualvolle langsame Tod erspart, sie werden nach dem Zerschlagen der Glieder  geköpft.

Im August 1539 wurde auf dem Gelände der Scharfrichterei ein Mann namens Heinrich Wendt, welcher die Witwe Röber erschlagen hatte, gerädert. Zuerst wurden dem auf der Erde ausgestreckt gefesselten Delinquenten mit einem eisenbeschlagenen Rad die Extremitäten-Knochen gebrochen (zerstampft). Danach wurden seine zerschlagenen Gliedmaßen durch die Speichen des Rades "geflochten" und das Rad auf einer hohen Stange zur Schau gestellt; eine besonders qualvolle Art zu sterben und eine grausame Todesstrafe. Die Gerichtskosten betrugen 116 Gulden und 8 Groschen, einschließlich der 7 Gulden 3 Groschen für die Extra- Anfertigung des eisenbeschlagenen Rades und der 23 Gulden Henkers-Lohn (vgl. Dietrich, Gang, S. 6).

Verbrannt wurde in der Schlossstraße 75 nicht, das Gelände lag wohl zu dicht an der Stadt. Die Brandsäule, die 1715 beseitigt wurde, befand sich weiter nördlich, dort, wo heute das Ärztehaus steht (s. Abb. unten rechts).

1700 wurde das Halsgericht, die Hinrichtungsstätte, in die Amtsbreite weit hinter dem Brumbyer Tor verlegt (vgl. Station 17).

Über Schuld und Unschuld, über Leben und Tod und über das Strafmaß befanden im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit der vom Schloss-Amt eingesetzte Stadt- und Landrichter (eine Person) und die berufenen 5 (1371) bzw. 6 (1568) Schöffen. Das Eldist-, Eltest- oder Ältesten-Gericht existierte wahrscheinlich für einfache Streitfälle auch weiterhin im 17. Jahrhundert. Ein Beispiel von 1606: "Der Bürger Karl Mörß zu Calbe hat von den Vicarien zu Magdeburg 100 Taler geliehen. Matthias von Latorp und die verordneten Starger [hier wird von mehreren gesprochen!! - D. H. St.] des Eltestgericht zu Calbe geben ihre Einwilligung, daß Mörß eine halbe Hufe Landes zu Slannewitz [Feldmark vor Zens und Klein-Mühlingen nach einer Wüstung benannt - D. H. St.] gelegen, welche er von dem Eltestgericht zu Lehen trägt, verpfändet." (Reccius, S. 45).

Herren des Gerichtes nehmen die "Geständnisse" der von den Henkersknechten Gequälten zu Protokoll

1685 gab der Henker (Nachrichter) Jacob Gerhardt als Netto-Einkommen 100 Taler jährlich an, also doppelt so viel wie der Schullehrer (vgl. Reccius, S. 62). Für seine Exekutionsleistungen erhielt der Henker außer dem recht großzügigen Lohn vom Rat stets eine Extra-Vergütung, z. B. 1492 für das Auspeitschen einer Hure (- wahrscheinlich wegen eines kleineren Deliktes, z. B. Diebstahls -) einige Maß Bier. Auch der Türmer, der für die Scheiterhaufen an der Brandsäule das Brennholz besorgte, wurde belohnt. Es war streng verboten, mit dem Henker freundschaftlichen Umgang zu pflegen. Als der Türmer in der Öffentlichkeit mit dem Henker gemeinsam trank und im Rausch lauthals verkündete: "Du bist mein Bruder, ich ziehe den Strick nach unten und du nach oben", wurde er umgehend zu einer Strafe verurteilt und von seinem Posten entlassen. In der Gastwirtschaft "Zum Goldenen Stern" mussten der Henker und seine Gesellen stets für sich allein an einem Tisch in der Ecke sitzen, möglichst so, dass man sie nicht sah.

Um die Figur des Scharfrichters, Henkers bzw. Nachrichters rankten sich auch noch andere Geschichten. Seit dem Mittelalter war es Brauch, dass der Henker den Mitgliedern des Rates Handschuhe anfertigen lassen musste, was später durch Handschuhgeld abgelöst wurde. Wahrscheinlich wurde hier auf seine zweite Funktion als "Schinder", also als Enthäuter des verendeten Viehs angespielt. 1652 erhielt die Magd des Scharfrichters 6 Groschen, als sie dem Rat die Sommerhandschuhe präsentierte (vgl. Hertel, Geschichte, S. 75). 1709 beschloss man, dem Nachrichter (Henker) Farnecke zu gestatten, dass er seine jährlich im Rathaus abzuliefernden 5 Paar Sommer- und 5 Paar Winterhandschuhe durch Erstattung einer Geldsumme von 3 Talern und 8 Groschen abzulösen (vgl. Reccius, S. 66). Henker Gebhardt wurde 1716 das Handschuhgeld bereits von seinen Entlohnungen einfach abgezogen  (vgl. Reccius, S. 68). Da der Scharfrichter und seine Gesellen stets von besonders scharfen Hunden begleitet wurden, passierten ab und zu Unglücke. Einmal hatten die Henkers-Hunde einen wehrlosen Laufburschen vor der Scharfrichterei zerrissen. Weil die aggressiven Hunde neulich auch den Hund eines Bürgers zerfleischt hatten,  wurde dem Scharfrichter-Gehilfen 1683 verboten, mit dem Schinderkarren durch die Stadt zu fahren, was den zornigen Protest seines Chefs, des Henkers Jacob Gebhardt, bei der Regierung in Magdeburg hervorrief (vgl. Reccius, S. 62). 1747 wurde sogar eine Entführung in Henkerskreisen vereitelt. Die 15jährige Tochter des Henkers Georg Kalo (Cahlo), den man nun vornehmerweise "Nachrichter" nannte, hatte in Magdeburg Nähen und Tanzen gelernt, wie es sich für ein preußisches Beamtenkind gehörte. Ein Fähnrich von Dame vom Borckschen Regiment hatte sich in das Mädchen verliebt, weshalb sie schleunigst von ihrem Klan wieder nach Calbe zurückgeholt wurde. Doch der Fähnrich bestieg eine Post-Kutsche und beeilte sich, seiner Geliebten hinterher zu fahren. In Calbe nahm er im "Goldenen Stern" (s. oben) Quartier. Der Möchtegern-Bräutigam erbat sich von Mutter Kalo 400 Taler als Mitgift, bekam jedoch nur 20. In der Zwischenzeit hatte das Mädchen die Kutsche bestiegen, der Fähnrich sprang dazu, und ab ging die Post im wahren Sinne des Wortes. Als der Henker bald darauf von diesem Husarenstückchen erfuhr, nahm er mit einigen anderen Vorstädtern zu Pferde die Verfolgung auf, stellte die Flüchtigen und brachte seine 15jährige Tochter wohlbehalten wieder ins Scharfrichter-Haus zurück (vgl. Reccius, S. 75 f.). Wie es wohl dem Mädchen weiter erging? Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, dass der Bruder des Mädchens, Johann Andreas Kalo (Cahlo), Doktor der Medizin geworden war und 1779 die Tochter eines preußischen Beamten geheiratet hatte (Anna Maria, Tochter des Königlich Preußischen Mühleninspektors Johann Matthias Böhne, vgl. Reccius, S. 80). Ende des 18. Jahrhunderts unter Friedrich dem Großen hatte der im Mittelalter und in der frühen Neuzeit  noch "unehrliche" Beruf des Henkers also durchaus den Status des "ehrlichen" preußischen Beamten erlangt.

Ärztehaus der Stadt Calbe - Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit loderten auf der "Radelbreite" die Scheiterhaufen - Hier befand sich die "Brandsäule".

Nicht weit von der Scharfrichterei entfernt  standen zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch zwei Sühnekreuze, ähnlich dem Steinkreuz in der Nienburger Straße (vgl. Station 22), ein drittes in der Nähe war schon zu Häveckers Zeiten verschwunden. Die Kreuze waren einem uralten Brauch entsprechend an den Stellen errichtet worden, wo Menschen ein plötzlicher Tod durch Fremdeinwirkung, beispielsweise durch Mord oder Totschlag, ereilt hatte, weshalb sie damals auch "Mordkreuze" genannt wurden. Ein Kreuz war laut Hävecker für den unglücklichen Laufburschen, den des Henkers Hunde zerrissen hatten (s. oben), errichtet worden. Zwei andere galten einer bizarren Form von Lynchjustiz durch eine blutrünstige Pöbel-Meute: Als dem Henker und seinen zwei Knechten die Hinrichtung eines Delinquenten misslang, wurden sie von den aufgebrachten Zuschauern durch Steinigung getötet (vgl. Hävecker, S. 18).

Da man nicht täglich hinzurichten oder zu foltern hatte, gingen die Henkersleute noch einer anderen Beschäftigung nach, sie versahen den Beruf des Abdeckers. Verendetes Vieh wurde entsorgt, enthäutet ("abgedeckt") und entfleischt. Ein anderer Begriff für enthäuten oder abdecken war "schinden", weshalb man den Henker auch "Schinder" nannte. Die Knochen aus der Abdeckerei wurden den Seifensiedern, die verfaulte Fleischmasse den Salpetersiedern und die Häute den Gerbern zugeführt. Sehr angenehm wird es in der Nähe des Henkerhauses nicht gerochen haben.

Praktischerweise befand sich schräg gegenüber der Scharfrichterei auf der östlichen Seite der Schlossstraße (Nr. 42) eine Salpeterhütte, die ursprünglich aus drei Gebäuden bestand, dem Wohn-, Erde- und Siedehaus (vgl. Dietrich, Gang, S. 7).

Wohnhaus der ehemaligen Salpeterhütte

Im Erdhaus wurden an dafür errichteten Tonziegel-Mauern, an mit Exkrementen angereicherten Erdhaufen und an speziellen Dunggruben, die mit Urin und den Verwesungsprodukten aus der Abdeckerei gefüllt waren, die weiß-glänzenden Kristalle des Kaliumnitrats "gezüchtet", die man abkratzte und im Siedehaus in Pfannen weiterverarbeitete. Deshalb hieß die Salpeterhütte auch die Salpetersiederei. Nichtmineralisches Salpeter entstand besonders aus Harn, durch Abbau und Verwesung organischer Stoffe bzw. durch die von Bakterien bewirkte Nitrifikation.

Drastisch beschrieb der Technologe F. Knapp 1847 die unter den damals recht lax gehandhabten hygienischen Bedingungen überall zu entdeckende Salpeterbildung. „In stark bevölkerten Städten in engen Straßen, wo sich die Exkremente der Zugtiere, der Abfall der Schlächtereien, Spülwasser aus den Häusern, Abfälle von den Märkten, wo man Fleisch, Geflügel, Fische und andere Nahrungsmittel verkauft, wo sich diese und viele derartige Dinge mit dem flüssigen Inhalt der Gossen vermischen und in fortwährender Fäulnis begriffen sind, sieht man, wie der Mörtelverputz an dem Fuße der Außenmauern nach und nach zerfressen wird und sich mit schneeartigen, weißen, kristallinigen Ausblühungen bedeckt und ,Salpeterfraß' genannt wird."

Salpeter-"Ausblühungen" an alten Klosterwänden

Mit dem erhöhten Schießpulverbedarf im 15. Jahrhundert tauchten auch die Salpeterhütten als Lehen der Landesherren auf. 1419 wurde unter Erzbischof Günther (Regierung 1403 - 44) eine solche erwähnt (vgl. Dietrich, ebenda, S. 6). Sein Nachfolger Friedrich (1444 - 61) verpachtete 1455 die "Salpeterhütte vor Calbe" an den Magdeburger Fritz von Erfurt. Als Zins musste von Erfurt (ein Ministeriale?) jährlich zwei Tonnen Salpeter abliefern. Die Pächter wechselten nun oft (1473 Berthold Swisow, 1473 Paul Dithmar), wahrscheinlich war das "Geschäft" zu mühselig. Den Pächtern war inzwischen erlaubt worden, im ganzen Calbeschen Bereich Salpeter zu sammeln. So ging es vermutlich auch im 16. Jahrhundert weiter, die Hütte blieb ein erzbischöfliches Lehensgut. Seit dem 7. September 1619, als Bürgermeister Friedrich Abt die Hütte erblich für 4000 Taler kaufte, war sie Calbesches Bürgergut (vgl. ebenda). Reccius dagegen berichtete, dass die Hütte 1620 Bürgergut wurde und der Käufer Bürgermeister Wilke war (vgl. Reccius, S. 66 unter 1706). Wer und wann auch immer das war, 1640 wurde die Salpeterhütte total von bayrischen Soldaten "demontiert" (s. oben). Nach dem Krieg erwarb Administrator August, Herzog von Sachsen-Weißenfels (vgl. Stationen 6 und 12), das Grundstück mit der zerstörten Hütte und ließ sie wieder aufbauen. Er erhoffte sich dadurch, seine Einkünfte etwas aufzubessern.

Wappen des Administrators August, Herzog von Sachsen-Weißenfels, im Siegel einer Nicolai-Fischer-Urkunde (vgl. Station 21)

(mit freundlicher Genehmigung von Herrn Steffen Held aus Hamburg)

August, der zweite Sohn des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., residierte seit 1642 in Halle. Der aufgeklärte Barock-Fürst war Mitglied der "Fruchtbringenden Gesellschaft" und verzichtete 1647 auf seine Erzbischofs-Würde. Unter Administrator August war wieder fast alles beim Alten: die Salpetersiederei war erblich verpachtetes landesherrliches Gut.

Erst unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft kam es dann zur allgemeinen Verpachtung. Für eine Pacht von 200 Talern jährlich nutzten Hofrat Steinhäuser, Kommerzienrat Guischard und Geheimer Kriegsrat Krug von Nidda das Gut, das nun mit einer niederen Gerichtsbarkeit über die Hüttenarbeiter ausgestattet war. 1696 kaufte Rittergutsbesitzer Syndikus Reichenbach (vgl. Station 8) den um 1620 angelegten Obstgarten der Salpeterhütte. 1748 erließ der preußische König Friedrich II. wegen seines großen Schießpulverbedarfes den Befehl, dass die Salpeterhüttenpächter verpflichtet seien, Salpeter nicht nur an hütteneigenen, sondern an allen Mauern der Stadt, auch an und in den Häusern der Bürger und Vorstadtbewohner, abkratzen zu lassen, was natürlich zu Empörungen führte. Eigens zur Salpetergewinnung sollten Salpeterwände errichtet werden (vgl. Reccius, S. 76). 1767 wurde das gesamte Grundstück, das mit seinen Obstgärten inzwischen bis in die heutige Große Deichstraße hinein reichte, an Kriegs- und Domänenrat Schlutius verpachtet. Allerdings musste sich dieser verpflichten, jährlich 1000 Zentner Salpeter, den Zentner für einen Preis von 15 Taler, nach Berlin zu liefern. Der Obstgarten wurde in eine Maulbeerplantage für die von Friedrich II. verordnete allgemeine Seidenraupenzucht verwandelt. Maulbeergärten fand man auch im Süden vor der Stadt im Bereich der "Wunderburg" (vgl. Station 21) und auf der Westseite der heutigen Magdeburger Straße.

Am 1. 10. 1899 wurden die Dörfer und "Anhängsel" der Stadt, die Vorstädte, durch Vereinigung mit Calbe und dem Schlossamt, abgeschafft. Alle Einwohner Calbes gingen gemeinsam als Stadtbürger in das 20. Jahrhundert. Die Initiative dazu war vom Bürgermeister Mittelstaedt unter der Schirmherrschaft des Magdeburger Regierungspräsidenten v. Arnstedt ausgegangen. Arnstedt wurde deshalb auch 1902 Ehrenbürger der Stadt Calbe, und nach ihm wurde eine wichtige Straße dieser Stadt benannt (vgl. Station 18).