8. In der Ritterstraße (ehemals: "Herrengasse") auf der Westseite - hinter der ehemaligen Volksschule (vgl. Station 7) - befand sich ein Rittergut. Das Herrenhaus existiert noch. Vor 50 Jahren waren hier am Türportal ein Wappen der Ritter von Ha(c)ke und eine Inschrift zu sehen.
Dieses ehemalige Rittergut steht auf einem Gelände, wo in etwa im 9.Jahrhundert der "Königshof" zu finden war. K. Herrfurth hat Indizien dafür gefunden, dass sich das Zentrum des Hofes ca. 220 Meter weiter südlich, an der heutigen Kuhgasse befand (s. drittfolgender Absatz).
Diese Königshöfe bildeten die wirtschaftliche Grundlage des Königtums. Der nächste Königshof von Calbe aus liegt in Frohse. Im mittelalterlichen Deutschland gab es noch keine Hauptstädte. Die Könige, auch die Kaiser, zogen von einem Wirtschaftshof zum anderen, wobei sie meist in den Wintermonaten dort blieben und im Sommer mit einem großen Hofstaat und vielen Bewaffneten reisten. So wurden einige Königshöfe auch zu politischen Zentren, sie wurden besonders ausgebaut, und die Pfalzen entstanden. Natürlich hatten die Könige auch Lieblingspfalzen, wo sie sich besonders gern und öfter aufhielten, z. B. Aachen, Goslar oder Magdeburg. Der Schutz und die besondere Förderung dieser Pfalzen durch die Herrscher schufen günstige Voraussetzungen für die Entwicklung bedeutender Städte. Es gibt jedoch keine Quellenbelege oder Bodenbefunde dafür, dass der Königshof in Calbe den Schritt zur Pfalz schaffte.
Die Verwaltung eines solchen Königshofes wurde von einem "maior" (Meier) bzw. Grafen für die Zeit, in der sich der König oder Kaiser nicht in der Pfalz bzw. im Königshof aufhielt, wahrgenommen. Dieser Meier hatte die Aufgabe, die Abgaben der hörigen Bauern einzutreiben und die Fronarbeit auf dem Königsgut zu organisieren. Bei Kriegszügen dienten die Königshöfe zur Bergung des eigenen Heeres, also als "Her-berge". Deshalb waren sie auch stark mit Gräben und Palisaden befestigt und ständig mit Verpflegung für eine militärische Einheit für zwei Tage ausgerüstet. Ein solcher Königshof war für damalige Verhältnisse recht groß, etwa ein Achtel bis ein Viertel Quadratkilometer im Rechteck. Darin befanden sich das "Herren"-Haus, das Back-, und das Brauhaus, die Scheunen und Ställe sowie der Brunnen.
Über die Frage, welche die Taufkirche des karolingischen oder ottonischen Königshofes war, gehen die Meinungen auseinander. Die einen Forscher favorisieren die Hauptkirche der Stadt, die St.-Stephani-Kirche, die anderen denken an eine nicht mehr existierende, jedoch noch im 18. Jahrhundert nachweisbare kleine Kirche, die St.-Johannis-Baptistae-Kirche. Die Indizien K. Herrfurths für eine Kirche Johannes des Täufers scheinen mir durchaus einleuchtend zu sein. Er führt in einem Beitrag in "Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt" (vgl. Herrfurth, Königshof und Kaufmannssiedlung..., a. a. O., S. 7 ff.) folgende Fakten an: 1. 1986 wurde Ecke Ritterstraße (damals Straße der Opfer des Faschismus)/Kuhgasse ein baufälliges Wohngebäude abgetragen. Dabei barg man einen Hausstein des Magisters Georg Bölau (Belau) von 1667. Nach Aussage Beteiligter wurde auch eine sehr alte Gebäudemauer mit einer Art Kirchenfenster gefunden, die jedoch undokumentiert beseitigt wurde. Eine Einwohnerliste von 1682 führt als Nachbarn des Magisters Bölau einen "Hans in der Capelle" auf. Auf einem Stadtplan der Hävecker-Chronik von 1720 ist diese Kapelle noch eingezeichnet. Ein Vergleich der Calber Abgaben- bzw. Steuerlisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit führt zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Kapelle um eine Kirche Johannes' des Täufers handelte. Diese aber wird öfters mit einem großen Hof in Verbindung gebracht. So ist u. a. im Stadtbuch Calbe (Landesarchiv Magdeburg Cop. 406b) für das Jahr 1510 die Rede von der "Kirche und Kapelle Sancti Johannis Baptistae in unserer Stadt gelegen am großen hoffe". 1777 wurde dieser "Hof mit der ehemaligen Johanniskapelle" noch der abgabefreie "Erbzinshof des Vizedominats zu Magdeburg" genannt (vgl. Reccius, S. 80). 2. Das bezeichnete Gebiet liegt am südlichen Rand und am höchsten Punkt des ältesten Stadtgebietes. 3. Das Patrozinium Johannes´ des Täufers macht eine frühe Kirchenentstehung wahrscheinlich, da es sowohl für die karolingische als auch für die ottonische Zeit geradezu typisch ist. |
Schon zur Zeit der Karolinger waren entlang der Elbe-Saale-Linie verstärkt solche Königshöfe und Pfalzen angelegt worden, so dass angenommen werden kann, dass dieser Königshof in caluo (=calvo) schon seit dem 9. Jahrhundert existierte. Erfahrungsgemäß bildeten sich in der Nähe solcher Königshöfe sehr bald Siedlungen heraus, aus denen Städte wurden. So konnten z. B. die Heerstraßen der fränkischen Krieger auch als Handelsstraßen genutzt werden. Zum Königshof kam wahrscheinlich eine Burg, 300 Meter weiter südlich gelegen, hinzu, so dass sich die Siedler, meist Handwerker und Händler, relativ sicher fühlen konnten. Diese so genannte Sudenburg (vgl. Station 21) muss aber durchaus nicht eine stolze Burganlage in unserem heutigen Wortsinne gewesen sein, es könnte sich auch um einen befestigten, geschützten Platz für die Stadtbewohner gehandelt haben, zumal bis jetzt noch keine als solche identifizierten Reste eines Burggebäudes gefunden wurden ("Burg" kommt von "bergen", "verbergen".)
Den frühen Siedlern mag nicht nur die politisch und wirtschaftlich günstige Position, sondern auch die "liebliche Auenlandschaft" gefallen haben. Selbst noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts schwärmte der Chronist Hävecker: "Es lässet sich allhier bequemlich genug wohnen, weil der Circul [Horizont] nicht mit allzu groben Dünsten, wie sonst vieler Orten geschieht, verdunkelt, sondern mit einer gesunden angenehmen Luft temperieret wird. So ist auch hier kein ungesundes und Unfruchtbarkeit verursachendes Wasser... Denn auf der Seite gegen Mittag, Abend und Mitternacht sind die tragbaren Felder zur Saat für die Menschen und die grünen Auen und Anger zur Weide für das Viehe..." (Hävecker, a. a. O., S. 3) [Zur fruchtbaren Magdeburger Börde s. a. Station 15.]
Caluo gehörte in frühfeudaler Zeit zum sächsischen
Nordthüringgau. Die Sprachgrenze zwischen Platt- und Hochdeutsch verlief damals
noch bedeutend südlicher als heute. Die höhere Amtssprache war nur noch selten das
Neulateinische, das Volk und die niederen Beamten sprachen und schrieben bis zum
Ende des 15. Jahrhunderts ein reines Niederdeutsch, wie die Quellen belegen.
Der Umbruch vom Nieder- zum Hochdeutschen zeigte sich in einer
Erbteilungsurkunde von 1489, die schon mehrheitlich hochdeutsche Lautbilder
aufwies (vgl. Reccius, S. 30).
Ein Vergleich zwischen der Willkür (selbst gegebene Stadtordnung - s. Station
2) von 1450 und 1525 führt deutlich den
Sprachumbruch vor Augen.
Ein Artikel lautete 1450:
"Vortmer vorbeiden
de Herren, dat
neymant dorschen laten
bii Lechte, yd sii in Huse
edder in Hove, by
eyner Mark."
1525 lautete der gleiche Artikel:
"Es sal auch nimants bey
Lichte dreschen lassen,
in Scheunen, Hauße
odder Hoffe, bey
eynner Margk."
(Reccius, S. 34)
In der letzteren Version wird bereits die hochdeutsche Lautung sichtbar.
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So könnte der Königshof calvo mit Herrenhaus (Mitte links), Stephani-Basilika (Mitte rechts) und Mühle (rechts), wenn man nach Norden schaute, ausgesehen haben, wenn man von der Meinung ausgeht, die St.-Stephani-Kirche hätte im Zentrum des Königshofes gestanden. (Computer-Simulation) |
Da der Königshof etwa seit dem 9.Jahrhundert existierte, wird auch die erste Siedlung caluo schon zwischen 800 und 850 zu finden gewesen sein. Die nahe dabei stehende St.-Stephani-Kirche, die wahrscheinlich die Hauptkirche der Burgwardsiedlung darstellte, wurde ohne Zweifel durch den Halberstädter Bischof Hildegrim(m), der 827 starb, gestiftet.
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Ansicht von Osten - im Vordergrund die Mühle - Brunnen (dahinter) , Vorratshäuser und Befestigungsanlagen waren überlebensnotwendig. Für diese Lageversion spricht allerdings, dass die so wichtige Mühle Bestandteil des Königshofes gewesen wäre. |
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Die Urkunde vom 13. September 936 |
Ausschnittvergrößerung mit den karolingischen Minuskeln "in caluo" (s. rosa Markierung linkes Bild) |
Urkundlich erwähnt wurde caluo (lat. calvus = kahl, mittelhochdeutsch kalwe = kahl) erstmals am 13. September 936, als Otto I. das Servatii-Nonnen-Stift in Quedlinburg, in dem seine Tochter Mathilde Äbtissin wurde und wo sein Vater Heinrich I. begraben lag, mit Grund und Boden u. a. in Mühlingen und 15 slawisch-wendischen Familien in Calbe und Frohse belehnte.
Der Inhalt der in Kanzleilatein und karolingischer Minuskelschrift verfassten und geschriebenen Urkunde ist folgender:
Otto I. gründet zu seinem und seiner Eltern und Nachfolger Seelenheil das Kloster zu Quedlinburg [gemeint ist das St.-Servatius-Nonnenkloster], bestimmt zu dessen Ausstattung die Burg auf dem Berge daselbst mit ihren Baulichkeiten und den dortigen Klerikern bisher gemachten Schenkungen, den neunten vom Erträgnis des Hofes daselbst sowie von Marsleben [nördlich von Quedlinburg, später Wüstung], Harkerode [?, eventuell Harzgerode] und von 11 anderen Orten, darunter Mühlingen [mulingo], Westerhüsen [uuesterhuse- heute Stadtteil von Magdeburg] und Beyendorf [südlich von Magdeburg], seinen Besitz zu Rieder, Hebenrothe [unbekannt], Orda und Quarnbeck (später Wüstungen östlich und südlich von Quedlinburg), 15 Familien höriger Wenden [Slawen] zu Frohse [heute Ortsteil von Schönebeck/Elbe] und Calbe, den Jagdzehnt zu Bothfeld und Siptenfelde, Wein- und Honiggeld zu Ingelheim, das Kloster Wendhausen im Harzgau in der Grafschaft Thiadmars mit dessen ganzem Besitz, den durch Erbschaft von Adred, der Mutter Bardos, an König Heinrich übergegangenen Hof Soltau im Leinegau in der Grafschaft Liudgers mit allem zugehörigen Besitz, stellt dasselbe unter den Schutz und die Gewalt des jeweiligen Königs, behält aber, wenn nicht mehr jemand seines Geschlechtes in Franken und Sachsen den Königssitz innehabe, sondern ein anderer vom Volk zum König erwählt werde, die Vogtei dem jeweiligen Familienoberhaupt seines Geschlechtes vor, gewährt den Nonnen freies Wahlrecht und Befreiung von den Leistungen an Könige oder Bischöfe und sichert ihnen alle herkömmlich Rechte, die ähnlichen Klöstern verliehen worden sind.
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Nach den Indizien von K. Herrfurth (s. Text oben) hätten bei einer Sicht von Norden zwei Kirchen das Bild dominiert: die Kirche oder Kapelle Johannes´ des Täufers innerhalb des Königshofes und die etwa 220 Meter weiter nördlich gelegene Stephanskirche als Hauptkirche des Burgwardbezirkes. |
Schon kurz nach seiner Kaiserkrönung gab Otto I. 965 den Königshof (curtis regia) in Calbe auf und belehnte das Mauritius-Kloster in Magdeburg, das Kloster seiner Lieblingspfalz, damit. Da in späteren Jahren von einem adligen Freihof an ungefähr der gleichen Stelle die Rede ist, ist anzunehmen, dass zunächst einmal Ministerialen (Dienstmannen) auf dem Gut eingesetzt wurden, die dem Erzbistum verpflichtet waren. Ministerialen waren in karolingischer und salischer Zeit Unfreie, also Hörige und Leibeigene, die während der Konsolidierung des Feudalismus eine bedeutsame Stütze der Krone und des Hochadels als Hofangestellte, Staatsbeamte oder Krieger wurden. Da sie anfangs noch keine Vasallen wie die adligen Ritter, die Berufskrieger des Mittelalters, waren, besaßen sie auch noch keine erblichen Güter. Das bedeutete eine festere Bindung an ihre Herren. Besonders die Kirchenfürsten setzten beim Landesausbau im 11. und 12. Jahrhundert gern und verstärkt unfreie Dienstmannen ein. Auf dem ehemaligen Königsgut calvo und nachmaligen Kirchengut des Erzstifts Magdeburg haben demnach anfänglich durchaus "dinestliute" des Erzbischofs ihren Verwaltungs- und Kriegsdienst getan. Langjährige Forschungen über die Ministerialität des Erzstifts Bremen geben uns, wenn wir analoge Schlüsse ziehen, interessante Hinweise für das Erzstift Magdeburg.
Das Werk "Ritter und
Knappen zwischen Weser und Elbe" von Hans G. Trüper zeigt, dass der Aufstieg der
Ministerialen, übrigens im gesamten Heiligen Römischen Reich nur im deutschen
Bereich geschehen, einer der faszinierendsten Vorgänge des deutschen
Mittelalters war: Aus diesen meist unfreien Dienstmannen, die bewaffnet und
beritten für Könige, Herzöge und andere Herren stritten, wurden kampfkräftige,
selbstbewusste Ritter und Knappen, oftmals schließlich einflussreiche
Landadelige mit Grundbesitz.
Im Erzstift Bremen entstand die Ministerialität im 11. Jahrhundert, zur Zeit von
Erzbischof Adalbert (1043-1072), und schon bald waren Ministerialen die
wichtigsten Herrschaftsträger des Erzbischofs: Sie stellten nicht nur das Gros
des mittelalterlichen stiftsbremischen Ritterheeres und die Mannschaften der
erzbischöflichen Burgen, sie hatten auch die Hofämter (Mundschenk, Truchsess,
Kämmerer und Marschall) des Erzbischofs inne. Als Meier (villici) verwalteten
sie die erzbischöflichen Haupthöfe, als stadtsässige Ministerialen (burgenses)
die erzbischöfliche Residenz. Ministerialen waren als Vögte die wichtigsten
Verwalter des Erzstifts. Sie besetzten die Positionen der Zöllner, Münzer und
Wechsler und stellten in den Städten den überwiegenden Teil der frühesten
Ratsfamilien (vgl. Trüper, a. a. O.).
Wie war es zu diesem frappierenden Aufstieg gekommen?
Die unfreien Dienstmänner bildeten nicht nur die verlässliche Kerntruppe und Masse der fürstlichen Streitmacht, sie waren auch die loyalen Hofleute und vertraten als Beamte den Rechtsstandpunkt ihres Herren im Lande. Allmählich strebten auch immer mehr Freie und verarmte adlige Vasallen (Ritter) nach solchen zwar unfreien, aber sicheren und einträglichen "Posten". Während des Investiturstreites (1075-1122) konnten die Ministerialen entscheidend ihre Position festigen. Sie brachten ihre Herren objektiv in Abhängigkeit von ihnen, denn ihr Einfluss war häufig das einzige sichere und kontinuierliche Element fürstlicher, besonders aber kaiserlicher Herrschaft. Auch konnte ihre Stellung dank der geleisteten Dienste nicht mehr rückgängig gemacht werden. Oftmals entwickelten diese Unfreien mehr Standesbewusstsein als die alteingesessenen edlen Ritter. "Die Grenzen zwischen freien Rittern und den Ministerialen verschwammen allmählich; die Dienstgüter der Ministerialen, auf deren Grundlage sie ihren Lebensunterhalt bestritten, wandelten sich von nicht vererbbaren Dienstlehen in erbliche Lehen" (Microsoft® Encarta® Professional 2002). Ab dem 13. Jahrhundert zählten die Ministerialen zum niederen Adel, sie waren auch adlige Ritter geworden.
Aus dieser Schicht stammten auch
die seit dem 12. Jahrhundert in den Ratsakten - meist als Zeugen - auftauchenden Adligen, die
mit dem "adlichen großen Hoffe" in Verbindung gebracht werden: Dienstmann
Dietrich von Calbe (1105), Dienstmann Dietrich von Hachen (1162) (erster Hinweis
auf einen Ministerialen "von Haken), Dienstmann Hugold von Calbe (1185),
Dienstmann Alexander von Calbe (1202), Richard von Calve (1242), Ritter Johannes
von Calbe (1263), Ritter Konrad und Rodestus von Calve (Vater und Sohn) (1271).
Zwei dieser genannten Dienstleute hatten es sogar bis zum "villicus" bzw.
"Vogt", d. h. Gutsverwalter gebracht: Dietrich (1105) und Johannes (1263) (vgl. Reccius,
Chronik..., a. a. O., S. 6 ff.).
Übrigens weist auch der erste Name der jetzigen Ritterstraße auf die Leute hin,
die dort vor tausend Jahren ihren Dienst versahen: "Herrenstraße" oder
"Herrengasse". Als "Herren" bezeichnete man im Mittelalter die Angehörigen der
untersten Stufe der feudalen Herrschaftsstruktur. Danach folgten aufwärts die
adligen Ritter, die Grafen usw. Obwohl ein Dienstmann selbst juristisch unfrei
war, war er doch "Herr" über die ihm untergebenen Hörigen und
Leibeigenen und wurde als solcher angeredet.
(Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war es dann für einen befestigten Hof der Erzbischöfe innerhalb der rasch anwachsenden Stadt zu eng geworden, und unter Burchard (Burghard) III. begann man 1314 mit dem Bau einer Veste am nordöstlichen Rand der Stadt. Dort saßen nun die erzbischöflichen Vögte, und von dort aus wurde ein Teil der landesherrlichen Regierungsgeschäfte getätigt. Vgl. Station 11)
15. Jahrhundert: Ein Zweig der von Hackes aus dem Merseburgischen bekommt das Burggut (Rittergut) Calbe zum Lehen. Es heißt dazu bei Mülverstedt im "Neuen Siebmacher":
"Im Stiftsgebiet von Merseburg sind zwei altritterliche Geschlechter dieses
Namens zu unterscheiden, von denen die Adelslexicographie nichts Bestimmtes oder
Sicheres anführt, sondern vielmehr sie und ihre Güter mit andern Familien
gleichen Namens untermischt. Das grössere und angesehenere schon seit Anfang des
14. Jahrh. urkundlich nachweisbare hatte namentlich zu Oberthau, Kitzen und Kl.
Dölzig Jahrhunderte lang Grundbesitz und zweigte sich im 15. Jahrh. auch nach
Calbe a/S. auf einem dortigen Burggut im Erzstift Magdeburg ab."
(Aus: HACKE VI, merseburgisch, in:
Ausgestorbener Preussischer Adel, Provinz Sachsen (exl. der Altmark) / bearb.
von G. A. v. Mülverstedt, in: J. Siebmacher's großes und allgemeines Wappenbuch
; 6,6, Nürnberg 1884.
1451 schreibt die Willkür (selbst gegebene Stadtordnung - s. Station
2) vor, dass keiner einen eigenen Viehhirten besitzen
durfte (vgl. Reccius, S. 27). Dieser Artikel in der
Willkür ist wiederholter Streitpunkt mit den Rittergutsbesitzern bis in die
Neuzeit gewesen. Hävecker konstatiert dazu: "Keiner von Adel oder welcher solche
Güter gepachtet hat, ist befugt gewesen, einen eigenen Hirten zu halten, sondern
muß sein Viehe unter die allgemeine Hut treiben." (Hävecker,
S. 29)
1459 ist das Schloss Calbe noch zu klein, dass sich verschiedene wichtige
Verwaltungsämter laut einem Nachlassverzeichnis noch außerhalb desselben
befinden. Reccius vermutet die Vogtei im Rittergut (vgl.
Reccius, Seite 28).
1500 bestraft !!! der Konvent der 12 Bauermeister Simon
Hake mit der Zahlung von 100 Gulden !!!, weil "er in seiner Gewalt
excedierte" [über seine Machtbefugnisse hinausging - D. H. St.] (vgl.
Hävecker, S. 21). Der Konflikt zwischen den adligen
Grundbesitzern und den stadtbürgerlichen Kräften tobte schon seit langer Zeit
(vgl. Station 2 - wird
demnächst in diese Station eingearbeitet).
1511 belehnt Erzbischof Ernst (vgl. Seite
4 und 5) den
ritterbürtigen Amtmann Simon Ha(c)ke (1498 -1520) mit dem Freihof
innerhalb der Stadt (vgl. Reccius, S. 32.).
1541 haben die von Ha(c)kes am rechten Torpfeiler der Einfahrt zum Freihof, Ritterstraße 1, ihren Namen und ihr Familienwappen anbringen lassen, das noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts dort zu sehen war. Auf einer kleinen Steinplatte konnte man die Inschrift "Otto und Jacob, die Peusten genannt. Haken" lesen. Ein Wappenschild darunter zeigte das Wappen der Familie von Hacke: einen Helm mit Helmdeckel und Zier mit der Zahl 1541 an der Spitze sowie einen Schild. Dieser trug einen Schrägstrich mit drei glockenartigen Figuren. Auch dieser Wappenstein befand sich am rechten Torpfeiler (nach: Unterlagen des Institutes für Denkmalpflege, Halle). Bei der Umgestaltung der St.-Stephani-Kirche im Jahr 1866 kam auch der Grabstein eines weiteren Simon Hacke ans Licht, eines 1581 bis 1584 regierenden Schlosshaupt- und Amtmannes. Die Grabsteine sind heute nicht mehr sichtbar (vgl. Station 5); deshalb ist die Veröffentlichung der Inschriften durch Max Dietrich verdienstvoll. Der Text lautete: "Anno dm. [Zahl unleserlich] an de tage Johannis Baptistae ist in Gott verstorben der gestrenge und veste Simon Hacke, hat ob den 3 : jar altz ey getrewer amptman hyr tzu Calbe geregirt. Dem Got gnade." (Dietrich, Calbenser Ruhestätten, S. 5)
1568 verleiht ein Lehnbrief für Jacob und Caspar Hacke den Freihof zu Calbe mit immer wieder in den Dokumenten auftauchenden 3 Hufen Landes, den Freihof Zuchau sowie die damit verbundenen Abgaben der erbuntertänigen Bauern und Häusler (vgl. Reccius, S. 33). Diese 3 Hufen (ursprünglich Königshufen) sind ein Indiz für den ministerialen Ursprung des Gutes (vgl. Kleine Enzyklopädie - Deutsche Geschichte, Leipzig 1965, S. 719). Typisch für die Zeit der feudalen Wirtschaft ist, dass durch ständig wechselnde Besitzverhältnisse aufgrund von Erbschaften, Heiraten und auch Eroberungen ein verwirrender Flickenteppich der verschiedensten Besitztümer entstanden war, wie er sich uns auch in solchen Lehnbriefen zeigt. Dieser Zustand war wiederum eine Ursache für immer erneute Gewalt und Kriege. Erst in der späteren Neuzeit, als sich der Begriff Rittergut in Preußen durchgesetzt hatte, legte man aus ökonomisch-technischen Gründen mehr Wert auf größere zusammenhängende Flächen, was wiederum mit dem tragischen Vorgang des "Bauernlegens" verbunden war. (Wer sich genauer mit dem ständig wechselnden "Flickenteppich" beschäftigen möchte, dem wird die Reccius-Chronik empfohlen.)
1592 Dem Junker von Hacke wird von Seiten der "Sechsmänner" (vgl. Station 2) vorgeworfen, entgegen der "Willkür" (Stadtordnung) eigene Hirten zu halten (vgl. Reccius, S. 41).
1595 verkaufen die von
Ha(c)kes, die etwa zweihundert Jahre im Besitz des Rittergutes Calbe waren,
dieses an das Herren-Geschlecht derer von Ingersleben (vgl. Reccius,
S. 44).
1601 Hävecker schreibt über den Verkauf des adligen Freihofes für 9000
Taler an Carl von Ingersleben (vgl. Hävecker,
S. 80). In der Leichenpredigt für Magdalena von Ingersleben heißt ihr Vater
aber: Hans von Ingersleben. Da dem 80jährigen Chronisten Hävecker nachweislich
ab und zu Ungenauigkeitsfehler unterliefen und möglicherweise auch der Lapsus
bei einem Schreiber der Ratsakten zu suchen sein könnte, ist dem Wortlaut der
gedruckten Leichenpredigt eher zu trauen. Die Angehörigen werden sicherlich
Unwahrheiten nicht geduldet haben. Danach wäre seit 1601 Hans von Ingersleben
der Besitzer des Rittergutes Calbe gewesen. Bald danach muss er gestorben sein.
1604 heiratet der wahrscheinlich jüngere Joachim Balthasar von Haugwitz
die 41jährige Ingersleben-Tochter, Magdalena, und hat mit ihr einen Sohn,
Christian
Friedrich.
Magdalena stirbt 1611.
1614 erneute Heirat des Witwers Joachim Balthasar von Haugwitz mit der jungen Sophie von Veltheim, der
Tochter des Schlosshauptmannes Günzel von Veltheim.
(Das Jahr der
Hochzeit erfahren wir aus einer Aktennotiz:
1614 ersucht der Schlosshauptmann Günzel (Guntzell) von Veltheim den Rat, zu
gestatten, dass der neue Wirt vorm Schlosstor anlässlich seiner Tochter Hochzeit
Zerbster Bier ausschenken darf. Der Rat lehnte das zunächst mit allerlei
Begründungen ab, gab aber schließlich doch unter Maßgabe einer einmaligen
Ausnahme seine Zustimmung. Offensichtlich wollte man es sich nicht mit zwei
schwierigen Adelsgeschlechtern - der Bräutigam war der Rittergutsbesitzer
Balthasar von Haugwitz - verderben. Mit dem Schlosshauptmann Günzel
von Veltheim hatte es 1599 ein schweres Zerwürfnis gegeben, als Bürgermeister
Wilke und Ratsschenk Brune hinterhältig auf Hoheitsgebiet des Schlosses gelockt
und anschließend ins Gefängnis geworfen worden waren (vgl.
Reccius, S. 42).)
Die Familie von Veltheim stammt vom Rittergut Harbke.
1622 wird Joachim
Balthasar und Sophie eine Tochter von großer Schönheit, Anna Margareta, geboren.
1624 hat Joachim Balthasar von Haugwitz Streit mit dem Rat der Stadt,
weil er sein Vieh nicht zusammen mit dem Vieh der Bürgerschaft von städtischen
Viehhirten hüten lassen will, wie es bisher immer üblich war. Eigene Hirten zu halten, begründet von Haugwitz damit, dass der Stadthirte
schon Rittergutvieh umkommen lassen oder verletzt zurück geführt habe. Wenn
dieser Missstand abgeschafft werde, wollte er sein Vieh auch wieder mit dem der
Bürgerschaft austreiben lassen (vgl. Reccius, S. 48).
1626 Joachim Balthasar von Haugwitz stirbt „frühzeitig“ in Brandenburg
und kann, durch die Kriegswirren bedingt, nicht in Calbe beerdigt werden (vgl.
Leichenpredigt auf seinen Sohn Christian Friedrich. Wenn in der
Leichenpredigt das Wort „frühzeitig“ gebraucht wird, dann nicht so, wie wir das
heute manchmal meinen, nämlich aus der Sicht der liebenden Hinterbliebenen.
Damals hieß „früh“ ohne Vorankündigung und ohne kirchlichen Beistand. Es könnte
also der Tod durch eine Seuche oder durch Kriegsgewalt gemeint sein.)
Nach Anna Margaretas Selbstbiographie war sie beim Tod des Vaters 4 Jahre alt,
was uns auf das Jahr 1626 verweist.
1630 Bei dem
verheerenden Massaker der Kaiserlichen am 22./23. September in Calbe sterben
auch noch die Mutter und vier Geschwister. Barmherzige Menschen bringen
die achtjährige Waise Anna Margareta nach Egeln (ca. 25km von Calbe entfernt) in
ein Zisterzienserinnen-Kloster. Anna Margaretas etwa 25jähriger Halbbruder
Christian Friedrich ist zu jener Zeit sicherlich als Offizier unterwegs.
Als er 1656 stirbt, ist er im Range eines Hauptmanns. Auf alle Fälle
übernimmt Christian Friedrich, vielleicht aber erst nach Kriegsende, das
verwilderte Rittergut. (Anna Margareta heiratet 1640 im Feldlager
bei Saalfeld den schwedischen Generalmajor und späteren Reichsmarschall Carl Gustav Wrangel und wird mit ihm
allem Anschein nach glücklich.)
Christian Friedrich von Haugwitz, nunmehr Besitzer des Rittergutes, heiratet
eine adlige Dame von Werdensleben (vgl. Hävecker,
S. 80). Ihre zwei Kinder, die nach der schönen Tante Anna Margarethe bzw. nach
dem berühmten Onkel Karl Gustav genannt worden waren, sterben schon im Alter von
2 Jahren bzw. 9 Monaten, wie Gruftinschriften unter dem Chorraum der St.-Stephani-Kirche belegen (vgl.
Rocke, a. a. O., S.97).
1656 stirbt Christian Friedrich von Haugwitz ohne Erben. Hävecker
schreibt, dass mit Christian Friedrich „… die von Haugwitze, …, so viel derer im
Ertz-Stifft Magdeburg gewesen sind, … gantz ausgestorben“ seien. (Er meint
natürlich nur die männlichen Erben, bezogen auf das Magdeburger Land.)
1665 „…hat dasselbige Gut Matthias von Schlegel, Schwedischer Major,
theils durch Heyrath mit der Wohlgebohrnen Hauchwitzischen Wittben … theils
durch Kauff an sich gebracht …“. (Da durch die Bestimmungen des Westfälischen
Friedens große Teile Norddeutschlands unter schwedischer Herrschaft standen,
waren viele deutsche Adlige gezwungen, in die Dienste der Besatzungsmacht zu
treten. Deshalb war wohl von Schlegel schwedischer Major geworden. Die
Vormachtstellung Schwedens im norddeutschen Raum ging erst zu Ende, als
ausgerechnet ein Schwager Schlegels, nämlich der Witwer Anna Margaretas, Karl
Gustav Wrangel Graf von Solms
[auch: Salmis], am 25.6.1675 die wirklich historische Schlacht bei Fehrbellin
verlor und damit der Weg zum Aufstieg der neuen Großmacht Preußen geebnet war.)
1684 stirbt das Ehepaar von Schlegel kinderlos (vgl.
Hävecker, ebenda). Das Rittergut fällt an die
kurbrandenburgische Krone, die erst vor 3 Jahren das ehemalige Erzstift
Magdeburg nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens zugesprochen bekommen
hatte.
1685 erwirbt der Syndicus Johann Friedrich Reichenbach das Rittergut vom kurbrandenburgischen Staat "erbkauffsweise samt allen Pertinentien [Zugehörigkeiten - D.H.St.] und zugehörigen Gerechtigkeiten, Aeckern, Wiesen und Garten" (Hävecker, ebenda). Demnach besaß der in den Adelsstand erhobene (vgl. FamilySearch) von Reichenbach sowohl das beachtliche Rittergut als auch den stolzen Lemmerhof. Er hatte 1666 in Leipzig studiert, wurde am 29.4.1675 in Calbe als Syndicus vereidigt und hier 1708 von der königlich-preußischen Regierung als Bürgermeister eingesetzt. 1710 stirbt Johann Friedrich Reichenbach (Recherchen von K. Herrfurth).
1694 wird das
Rittergutshaus der Reichenbachs in der Ritterstraße 1 durch eine Feuersbrunst
vernichtet
1715 lässt die Witwe des Johann Friedrich Reichenbach, Anna Katharina,
geborene Fiedler, das Rittergutshaus neu aufbauen. Anlässlich der Fertigstellung
und Einweihung des neuen Hauses wird zur Erinnerung am linken Torpfeiler der
Einfahrt zum Rittergutshof eine in lateinischer Schrift abgefasste Inschrift mit
17 Zeilen angebracht. Der Text lautet übersetzt:
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Fotografie der Inschrift von 1715 (nach: Archiv des Institutes für Denkmalpflege Halle) |
"Mit Gottes gnädiger Güte, dem allein alles, was man empfängt, zuzuschreiben ist, hat dieses Haus, das du hier errichtet siehst, und das ehedem durch eine Feuersbrunst vernichtet war, die Witwe Anna Katharina Reichenbachin geb. Fiedlern 1715 wieder aufbauen lassen, nachdem ihr Gemahl Johann Friedrich Reichenbach, kurfürstlicher (brandenburgischer) und bernburgisch - anhaltinischer Rat, Landrichter über Rosenburg, Steuerdirektor und von hiesiger Stadt Syndicus und Bürgermeister, fünf Jahre vorher verschieden war."
1717 verzichtet der preußische König im Lehnsallodifikationsedikt in größerem Umfang auf sein Obereigentum an den ursprünglich zu Lehen gegebenen Rittergütern. Damit waren die ehemaligen Freigüter der Ministerialen zu Volleigentum des Adels geworden.
1721 heißt die bisher "Herrenstraße" genannte Straße am Rittergut "Ritterstraße" (vgl. Reccius, S. 69).
1752 wird der bürgerliche Andreas Fran(c)ke, wohnhaft in der Poststraße, Pächter des von Reichenbachschen Rittergutes (vgl. Reccius, S. 76)
Nach dem Lehnsallodifikationsedikt von 1717, das die adligen Herren zu alleinigen Besitzern der Rittergüter machte, hatte ein Teil von ihnen begonnen, sie auch an bürgerliche Interessenten zu verpachten.
Außer den Fran(c)kes ist aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die bürgerliche Familie der Pieschels als Pächter bekannt. (Der 1886 verstorbene, aus Brumby stammende Pächter Georg Pieschel war bismarckorientiertes nationalliberales Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses gewesen. Das Grabmal der Familie Pieschel, die in Calbe ein bedeutendes soziales Engagement bewies, befindet sich auf dem Friedhof am Hauptweg.)
1785 besitzt das eigenständige Rittergut etwa ein Zehntel des Viehbestandes der Stadt Calbe (44 Rinder, 200 Schafe, 8 Pferde, vgl. Reccius, S. 81 f. und auch Station 15).
1790 stirbt Johann Friedrich Aribert von Reichenbach, Erb-, Lehn- und Gerichtsherr des Rittergutes in Calbe und wird im Reichenbachschen Erbbegräbnis an der Südseite der Stephanikirche (eine kleine Sandsteinplakette ist noch vorhanden) beigesetzt (vgl. Abb. rechts). Er war der letzte der Reichenbachs, die in Calbe wohnten (vgl. Reccius, S. 82).
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Reichenbachsches Erbbegräbnis an der Südseite der Stadtkirche (1912) |
"Über die Situation des Rittergutes zu dieser Zeit kann folgendes gesagt werden: Das steinerne Wohnhaus mit zwei Stockwerken war 1715 gebaut worden. Es ist so eingerichtet gewesen, dass oben der Rittergutsbesitzer wohnte und unten der Pächter oder Wirtschaftsverwalter. Der gesamte Komplex an der Ritterstraße hatte alle für die Land- und Hauswirtschaft notwendigen Gebäude: Scheunen, Viehställe, Brauhaus, Wechselhaus, Gerätehaus, Taubenschlag usw. Nach 1790 wohnte oben nur noch die Witwe des letzten Reichenbach." (Schwachenwalde, Hanns, Das Rittergut Calbe, ms. Manuskript)
1797 gehört zum
Rittergut "ein ehemaliger Weinberg, welcher in Acker verwandelt ist, 7,5 Morgen
enthält und in der Bernburger Vorstadt etwa über dem Gottesacker an der
Lorenzkirche zwischen Häusern eingeschlossen liegt. Deshalb auf der anderen
Seite der Bernburger Straße zwischen dem Gasthof <Zum goldenen Engel> und
anderen Häusern eingeschlossen ist ein großer Garten von sieben Morgen oder 1400
Quadratruten mit 1200 bis 1400 tragbaren Obstbäumen besetzt (Rute etwa 3,8 m).
An Wiesen gehören dazu 18 Morgen in drei Stücken unter den Rosenburgischen
Wiesen, die aber nur einschürig sind [d. h. nur einmal im Jahr gemäht werden
können - D.H.S.]. Zwei eigentümliche Häuser, ein größeres und ein kleineres
(worin 16 Wohnungen oder Stuben) am Weinbergsacker gehören auch dazu.
Ingleichen 15 Kolonisten- oder Grundzinshäusern an etwa diesem Acker, wovon
jedes vier Taler an das Rittergut jährlich entrichtet, auch einen Menschen vier
Tage zu eigener Kost in der Ernte zum Herrendienst stellet oder dafür nach der
Willkür der Rittergutsbesitzer ein gewisses Geld bezahlt - zur Zeit je 16
Groschen. Ferner ein eigentümliches Haus mit vier Wohnungen auf der anderen
Seite der Vorstadt am Baumgarten gelegen.
Auch sieben Anbauhäuser eben daselbst am Garten an der Straße [heute Bernburger
Straße 67 bis 70] und hinten am Saaleufer [heute Große Fischerei 36 bis 38].
Grundzinsen werden entrichtet von einigen Häusern in der Stadt selbst, von sechs
Häusern in der Schloßvorstadt [heute kleine Angergasse 5 bis 10] und von
verschiedenen Häusern und Äckern in Staßfurt, Bernburg, Zens und anderswo." (Kinderling,
Eine Ortsbeschreibung ..., a. a. O.)
Zum Rittergut gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts 345 Morgen Acker, die überall zwischen den Bürgeräckern verstreut, aber
großenteils nahe bei der Stadt lagen. Sie bestanden jeweils aus zwei, vier und
zehn bis 15 Morgen großen Flächen (vgl. Schwachenwalde, ebenda). Seit der Zeit
des ministerialen Freihofes waren schon einige Flächen "zusammengewachsen", aber
zur landwirtschaftlichen Großraumwirtschaft wie im ostelbischen Bereich hatte
das nicht geführt.
1802 überlassen entfernte Erben des letzten Rittergutsbesitzers, die Gebrüder Reichenbach, dem Zimmergesellen Gebhart Ehlert 18 Quadratruten (ca. 68 m²) von dem zum Rittergut gehörenden Weinbergsacker in der Bernburger Vorstadt zur Erbauung eines Kolonistenhauses. Dafür muss Ehlert, ausgenommen seine Hausbau-Zeit, in einem gewissen Umfang dem Rittergut zinsen und dienen (Abgaben und Dienste leisten) und ist der Gerichtsbarkeit des von Reichenbachschen Rittergutes unterworfen.
Noch hatte Napoleon die feudalen Rudimente in Preußen nicht beseitigt.
Rittergutsbesitzer hatten schon seit den Anfängen der adligen Freihöfe außer
anderen Obrigkeitsrechten die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizeistrafgewalt
über die untertänigen Bauern inne. Darum gab es
auch an der früheren kleinen Eingangspforte zum Hof des Gutes ein Halseisen wie
am Markt oder am Schlosstor, an das straffällige Hintersassen des Rittergutes
angeschlossen wurden (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S.
14). Diese Stelle nannte man den Pranger des Rittergutes.
1811 haben die Reichenbachschen Erben das Rittergut inzwischen an den
Färbermeister Andreas Friedrich Schmidt verkauft, einen Schwiegersohn des
bisherigen Pächters Fran(c)ke (vgl. 1752). Schmidt kann das Rittergut aber wegen zu großer
Schulden nicht halten und verkauft es an den Baron von Stedingk.
1814 verkauft der Baron von Stedingk 281 Morgen des zum Rittergut
gehörenden Landes an verschiedene Käufer. Die gesamte Wirtschaft des Freigutes
wird also um ca. 80 Prozent reduziert. Ein landwirtschaftliches Unternehmen im
19. Jahrhundert, das so stark eingeschränkt wird statt zu expandieren, ist
faktisch dem Untergang geweiht.
Unter der Herrschaft
Napoleons waren die feudalen Ritterguts-Vorrechte aufgehoben und durch die
preußischen Agrarreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Erbuntertänigkeit
und Leibeigenschaft in einem schleppenden Prozess in kapitalistische
Abhängigkeit eines neuen Landproletariats umgewandelt worden. Rittergüter
bekamen als bürgerlich-kapitalistische landwirtschaftliche Großunternehmen ein
völlig neues sozialökonomisches Gesicht.
Diesen Wandlungsprozess machte
das Gut mit dem Zentrum Ritterstraße Nr. 1 aber nicht mit; dafür entstanden
andere landwirtschaftliche Großraumwirtschaften um Calbe, wie z. B. am so
genannten Damaschkeplan das Gut von Otto Bartels mit seinem in
einem überladenen Stilgemisch 1884/85 errichteten "Bartelshof".
1818 gibt Baron von
Stedingk das Rittergut auf und verkauft das Wohnhaus und die Wirtschaftsgebäude
Ritterstraße 1 an den Calber Unternehmer Christian Andreas Schwenke.
Eingeschlossen in diesen Verkauf ist auch das Gelände des ehemaligen Baumgartens
an der späteren Nicolaischen Wolldeckenfabrik ("Engelsgarten" nach dem damaligen
"Gasthof zum Engel"). Den zum ehemaligen Gut gehörenden
Lorenzgarten (zwischen Bernburger Straße und Großem Lorenz) erwirbt 1847 die
spätere Bergwerksunternehmer-Familie Douglas von den Schwenkes.
Der Verkaufspreis beträgt insgesamt 3 250 Taler
(vgl.
Schwachenwalde, ebenda).
Mit diesem Vorgang ist der
adlige Freihof und das Rittergut "binnen der Stadt" nach einer nahezu
tausendjährigen Geschichte endgültig aufgelöst!
Wie ging es weiter ? (u. a. nach: Acta der Polizei-Verwaltung... Ritterstraße Nr. 1... Sect. II Littr.G Nr. 19, a. a. O.]
1832 wird auf dem Grundstück Ritterstraße 1 eine
weitere, größere Posthalterei als in der
Poststraße (heute:
August-Bebel-Straße) durch Ferdinand Schulze eingerichtet. (Posthalter
Schulze ist später aktives Mitglied des von Wilhelm Loewe mit initiierten
"Vereins für Volksrechte".) Die groß angelegten Ställe, das geräumige
Gerätehaus und der weite Hof eigneten sich gut als neue Posthalterei im
Rahmen der im ersten Drittel des 19. Jahrhundert schnell steigenden
postalischen Frequenzen. Heute wartet das historische Rittergutshaus auf eine Sanierung. |
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Portal des ehemaligen Rittergutshauses (Design des 19. Jahrhunderts) |
Ornamentik am Portal |
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Das zentrale Gebäude des Rittergutes Calbe zu Zeiten des Spätbarocks (Computersimulation mit "ArCon") |
Die oben genannten Ritterfamilien waren in ihrer Zeit nicht unbedeutend.
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Stifterzeichen der Ha(c)kes an der Wrangelkapelle |
Das Rittergeschlecht derer von Hacke (Hake) hatte sich vom Mansfelder und Merseburger Gebiet bis nach Brandenburg ausgebreitet. Hans von Hacke schrieb man jene bekannte Anekdote zu, Tetzel 1517 einen Blanko-Ablassbrief für einen künftigen Raub abgekauft zu haben, um ihm dann in den Jüterboger Wäldern die päpstliche Geldtruhe zu rauben und das mit jenem Freibrief zu rechtfertigen. Tatsache ist, dass die von Hackes tatkräftige Förderer der Reformation waren, besonders der Ritter Albrecht von Hacke. Theodor Fontane hat den Hakes und Hackes ein literarisches Denkmal im vierten Teil seiner "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" im Kapitel "Kleinmachenow oder Machenow auf dem Sande" gesetzt. In Calbe wurden die von Hackes (Hakes) im 15. Jahrhundert ansässig. Simon Ha(c)ke war von 1498 bis 1520 Schlosshauptmann (vgl. Hertel, Geschichte ...,S. 172), das heißt, der Stellvertreter (Vogt) des Erzbischofs im hiesigen Amtsbezirk in allen weltlichen Dingen. In Abwesenheit des Landesherren oblagen ihm jegliche ökonomischen, politischen, juristischen, sozialen und militärischen Angelegenheiten. 1584 taucht in der Liste der Schlosshauptleute Adam Ha(c)ke auf (vgl. ebenda). Die Ha(c)kes trugen in ihrem Wappen symbolisch einen Haken. Simon Ha(c)ke war der Stifter der Wrangelkapelle (1495) an der St.-Stephani-Kirche nahe dem Rittergutsgebäude. An ihr ist das Hackenzeichen noch deutlich an den Ecken der Traufsteine neben den Dachrinnen zu sehen (vgl. Herrfurth, K., Die Wrangelkapelle... [2])(Abb. links). Im 18. Jahrhundert waren einzelne Vertreter dieses Geschlechtes schon in den Grafenstand erhoben worden. Einige waren enge Vertraute der preußischen Könige geworden, oder sie hatten den Posten des Salzgrafen in Staßfurt inne. Die "Hackeschen Höfe" in Berlin-Mitte gehen auf den aus Staßfurt stammenden Grafen von Hacke zurück, der Stadtkommandant von Berlin und ein Freund Friedrichs II. war.
Balthasar Joachim
von Haugwitz aus einem alten Geschlecht hatte 1604 die verwitwete
Erbin des Rittergutes Calbe Magdalena von Ingersleben, geheiratet. Als sie
1611 starb, ehelichte er 1618 Sophie von Veltheim, die Tochter des
Schlossvogts Günzel von Veltheim in Calbe, dessen Ritterfamilie in Harbke
ihren Sitz hatte.
Balthasar Joachim von Haugwitz stammte aus einer ursprünglich in Sachsen,
vorwiegend im Gebiet von Meißen und Bautzen, ansässigen Familie. Schon im
12. Jahrhundert tauchten diese umtriebigen Adligen als von Hugwitz, Haubitz
oder Haugwitz auf. (Laut Hävecker [vgl. Hävecker,
a. a. O., S.
80] war dieses Geschlecht vor dem Dreißigjährigen Krieg im Magdeburger
Gebiet zahlreich vertreten, nach dem Kriege dort jedoch "gantz
ausgestorben".)
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Wappen der sächsischen von Haugwitz (Die Fotografie vom Wappen am Taufbecken in der schönen Wehrkirche in Lippersdorf wurde freundlicherweise von Herrn Michael Jahn, Inhaber der Musikschule Fröhlich, zur Verfügung gestellt) |
Schnell breitete
sich die Ritterfamilie in Schlesien, Böhmen, Mähren, Österreich und
teilweise auch in Polen aus. In der polnischen Szlachta nahmen die von
Haugwitz den slawischen Namen Pawlowski an.
Im 15. Jahrhundert hatte die Haugwitzfamilie gute und enge Beziehungen zu
den sächsischen Kurfürsten. Einige von Haugwitz´ waren sogar Kanzler unter
Kurfürst Friedrich II. Hans von Haugwitz stiftete die berühmte
Haugwitz-Kapelle an der Nordseite der Paulinerkirche in Leipzig, die 1944
zerbombt und deren Ruine auf Befehl Ulbrichts 1968 völlig beseitigt wurde.
Georg von Haugwitz brachte es außer zur Kanzlerschaft sogar bis zum Bischof
von Naumburg.
(siehe
unten).
Ein von Haugwitz war kurfürstlicher Richter in Freiberg und in dieser
Funktion mit dem spektakulären Fall von spätmittelalterlichem Kidnapping,
dem so genannten Altenburger Prinzenraub, beschäftigt (vgl.
http://de.geocities.com/steinmetz41/eltern.htm). Mit Johann von Haugwitz
wurde ein bedeutender Protestant Bischof in Meißen. Ein anderer von
Haugwitz, Friedrich Adolf (1637 – 1705), war sächsischer Geheimer Kriegsrat,
Oberhofmarschall und Obersteuerdirektor geworden. Seiner Schwester Ursula
Margarethe und deren Tochter Sibylla gebührt der pikante Ruhm, die ersten
kurfürstlich-sächsischen Mätressen gewesen zu sein, bis sie in Ungnade
fielen und August der Starke gegen sie, auch gegen die 19jährig an den
Pocken verstorbene Sibylla, einen damals viel beachteten Hexenprozess führte
(zum Hexenwahn im 16./17. Jahrhundert vgl. Station 1).
Näheres zu dieser bizarren Geschichte unter
http://de.geocities.com/steinmetz41/eltern.htm.
Zwei der bedeutendsten Mitglieder der Familie waren absolutistische
Staatsmänner in habsburgischen und in preußischen Diensten, der
österreichische Staatskanzler (unter Maria Theresia) Friedrich Wilhelm, seit
1733 Graf, von Haugwitz und der 50 Jahre später lebende preußische
Kabinettsminister (unter Friedrich Wilhelm II.) Christian Heinrich Curt Graf
von Haugwitz.
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Friedrich Wilhelm Graf von Haugwitz (1702-1765) |
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Christian Heinrich Curt Graf von Haugwitz (1752-1832) |
Beide waren bedeutende Reformer innerhalb des „aufgeklärten“ Absolutismus.
Heinrich Christian Kurt war auch an den späteren Hardenberg-Reformen in Preußen beteiligt, ein Reisefreund Goethes und mit dem „dicken Lüderjan“ Friedrich Wilhelm II. in der gemeinsamen Vorliebe für Okkultismus und Mystik freundschaftlich verbunden.
Der
„Österreicher“ Friedrich Wilhelm Graf von Haugwitz war unter Maria Theresia
schlesischer Landespräsident und führte als österreichischer Kanzler
bedeutende Justizreformen durch. Er war ein Förderer und Gönner Joseph
Haydns.
Ein anderer Freund der Musik war Paul Graf von Haugwitz (1791 – 1856), einer
der Textdichter Ludwig van Beethovens.
Wie Balthasar Joachim als Angehöriger dieser Ritterfamilie, die vorwiegend
im östlichen Teil des Reiches ansässig war, ausgerechnet in die Magdeburger
Gegend kam, bleibt ein Geheimnis. Während des Dreißigjährigen Krieges
starb er "frühzeitig" [1626], wie es in einer gedruckten Leichenpredigt auf seinen
1656 verstorbenen Sohn hieß, in Brandenburg.
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Anna Margareta von Haugwitz (Wrangel) Gräfin von Salmis, Ausschnitt aus dem Gemälde von A. van Hulle , Bild mit freundlicher Genehmigung der Museumsleitung des Schlosses Skokloster in Schweden |
Die von Haugwitz und von Schlegel schrieben auch durch die weiblichen Mitglieder ihrer Familien Geschichte. So war, wie oben schon hervorgehoben, die Schwiegermutter von Martin Luther eine geborene von Haugwitz (vgl. Oliver Dix, Präsident der Akademie für Genealogie, Heraldik und verwandte Wissenschaften e.V. :Beschreibungen; http://www.lutheriden.de/main_bes.htm), und der 27jährige schwedische Generalmajor Carl Gustav Wrangel heiratete 1640 die 18jährige schöne, aber verarmte Waise Anna Margareta von Haugwitz aus Calbe an der Saale. Die "Wrangelkapelle" an der St.-Stephani-Kirche kann als durchaus mit ihm und mit seiner Frau in Verbindung gebracht werden (vgl. Station 5).
Auch zu den Anhaltinern pflegten die Rittergutsbesitzer verwandtschaftliche Beziehungen. Fürsten von Anhalt-Köthen und von Anhalt-Bernburg-Schaumburg-Hoym heirateten von-Ingersleben- und von-Schlegel-Töchter (vgl. Descendants of Georg I, Fuerst von Anhalt-Zerbst [gen 6+7 of 16 generations] http://www.worldroots.com/foundation/royal/georg1anhaltdesc1390-2.htm).