3. Gleich durch das unter 2. erwähnte Mühlentor (mit der Kanonenkugel) hindurch gelangt man zu den Resten der ehemaligen Saale-Mühle.

Rechts sieht man das imposante Panorama des Saalewehres. Schleuse, Wehr und Mühlgraben wären ohne die Mühle nicht vorhanden, alle diese aufwändigen Flusseinrichtungen wurden ihretwegen geschaffen. Zunächst wurde in frühester Zeit ein Saale-Stau vor der Stelle angelegt, wo die Mühle stehen sollte. Dazu wurden Pfähle in den Untergrund gerammt und mittels Reisig-Faschinen und Quadersteinen ein künstlicher Damm gebaut. Das Wehr, wie es im Wesentlichen seit 1842 existiert, ist 183,5 Meter lang, hat mehrere Kammern in zwei Reihen, ist mit Bruchsteinen aus Gröna bei Bernburg gepflastert und mit Zement ausgegossen. An den Enden des Wehres befanden sich früher Reusen zum Lachsfang, eine später verbotene Art, den Fischreichtum der Saale abzuschöpfen. Hävecker sprach noch 1720 von einem enormen Überfluss an Fischen in dem Fluss und nannte außer Lachsen: Störe, Welse, Neunaugen, Brassen, Barsche, Gründlinge, Seebarsche u. v. a. (vgl. Hävecker, a. a. O., S. 3).

 

Saale-Wehr ("Damm")

 

Das Wehr in seiner vollen Breite

 

Das Wehr genügte aber nicht. Das zum Antrieb der Mühlenräder beschleunigte Wasser musste wieder zurück zum Fluss geführt werden. Das geschah durch den links der Saale gelegenen Mühlgraben. Die Saaleschifffahrt war aber wegen des künstlichen Dammes an dieser Stelle nicht mehr möglich. Deshalb wurde vor dem Wehr eine Umschiffungsmöglichkeit herbeigeführt. Das geschah rechts der Saale durch eine Flutrinne, später durch mehrere Schleusen (neueste Schleuse von 1940 vgl. Station 12).

Die älteste mittelalterliche Flutrinne (Schleuse) verlief auf der Höhe der Pappeln nach links bis kurz unterhalb des Wehres (Dammes). Hier gab es noch in den 1930er Jahren eine Badeanstalt.

Als im September 2004 Wasser an der Baustelle des neuen Buchtenkraftwerkes abgelassen wurde, kamen diese Holzpfähle zum Vorschein, die entweder von einer alten Damm- bzw. Wehranlage oder von einer Flutrinne her stammen.

(Aufnahme: Markus Wolfram)

Aus dem 16. Jahrhundert ist bekannt, dass der erste protestantische Administrator Joachim Friedrich nicht nur die Mühle neu errichtete (vgl. unten), sondern auch die Flutrinne mit Schleuse vertiefen ließ. Bald jedoch versandete auch diese wieder durch Hochwasser. Die 1605 erneut gebaute Schleusenanlage scheint besser konstruiert gewesen zu sein, denn sie funktionierte, bis der Dreißigjährige Krieg die Saaleschifffahrt stark verminderte (vgl. Dietrich, Ein Gang..., a. a. O., S. 14). 1695 wurde mit großem Aufwand unter brandenburgisch-preußischer Ägide eine neue und stärkere Schleuse gebaut (vgl. Station 12). Diese drohte trotz häufiger Reparaturen 1783 endgültig einzustürzen. Es "wurde daher eine neue Schleuse, etwas näher nach der Stadt zu, angelegt, die wegen öfteren Anwuchs des Wassers erst 1787 fertig wurde. Das Schleusengeld wird von einem Schleusenmeister eingenommen, und das königl. Amt Gottesgnaden hat zunächst die Aufsicht darüber." (Kinderling, Eine Ortsbeschreibung..., a. a. O., S.22) Diese Anlage war bis 1889 in Betrieb. dann wurde sie zugeschüttet. Zwischen 1890 und 1939 fuhren die Schiffe durch eine dem Industriezeitalter entsprechende, moderne Schleuse (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 49 f.) (vgl. Foto von 1938 und verschlämmtes Schleusenbett), bis auch diese 1940 durch die vorläufig letzte Anlage abgelöst wurde (vgl. Station 12). Sachlich bedingt, "wanderten" die Schleusenbetten immer weiter nach Osten und wurden dabei immer länger.

Die Schleuse von 1889  (Aufnahme von Trinks 1938)

violett: ungefährer Verlauf mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Flutrinnen

braun: Schleusenkanal von 1695

türkis: Schleusenkanal von 1787

blau: Schleusenkanal von 1889

rechts außen: Schleusenkanal von 1940

(nach: Karte der Gemarkung Calbe 1887 von Franz Herrmann und Luftbild D-Sat 6)

 

Verschlämmtes Bett der Schleusenkanäle von 1695 bis 1939

Zu dieser Schleusenanlage gehörende Häuser des Schleusenmeisters aus dem 19. Jahrhundert

Alle diese Bauwerke kosteten bereits im Mittelalter viel Mühe und Aufwand, und alles einzig und allein wegen der Mühle. Immer wieder waren die Schifffahrtsrinne versandet und verschlämmt und der Damm (das Wehr) brüchig geworden, wie Chronisten berichteten. 1687 war das Wehr gleich zweimal gebrochen (vgl. Reccius, a. a. O., S. 63).  Die bis ins 19. Jahrhundert hinein hörigen und leibeigenen Fischer (vgl. Station 21) wurden zuerst vom Kloster, dann vom Magistrat verpflichtet, im Winter das Wehr eisfrei zu halten, was bei den strengen Wintern des 17./18. Jahrhunderts (vgl. Kleine Eiszeit, Station 19) bestimmt nicht leicht war.

Diese Saale-Wassermühle mit den dazu notwendigen Anlagen gehörte sehr wahrscheinlich schon in fränkisch-frühdeutscher Zeit zum Königshof und Markt von caluo (vgl. Station 8). Nachweisbar ist die Calbesche Mühle seit  der grundlegenden Urkunde Ottos I. (vgl. Station 8). In dieser Schenkungsurkunde für das Magdeburger Moritzkloster vom 28. März 965 werden unter anderen auch die Mühlen in Calbe und Rosenburg erwähnt, die zu den geschenkten Königshöfen bzw. Marktsiedlungen gehörten. Als die Mönche des 1131 gegründeten Prämonstratenserklosters (vgl. Station 12) den Magdeburger Erzbischof Friedrich, Graf von Wettin, darum baten, schenkte dieser ihnen die Mühle, die bis dahin zum Teil den Bewohnern calvos gehört hatte (vgl. Reccius, S. 8 [1160]). Dafür erhielten die Erzbischöfe als Gegengabe vom Kloster die halbe Fischerei in der Saale, auf dem Werder und dem Damme (Wehr). Die Stadt bekam den Thie (vgl. Station 11) als Viehweide (vgl. Dietrich, Ein Gang..., S. 13). Der Nachfolger Friedrichs, der große Förderer Calbes, Erzbischof Wichmann, Graf von Seeburg (vgl. Station 1), bestätigte die Schenkung der Mühle in einer undatierten Urkunde zwischen 1160 und 1166 (vgl. Reccius, Seite 8). In anderen Urkunden König Konrads III. von 1151 und Kaiser Friedrichs I. Barbarossa aus dem Jahre 1153 wird die erzbischöfliche Schenkung weltlich von höchster Ebene bestätigt. Aber schon 1187 schenkte Wichmann dem Kloster erneut eine Mühle bei Calbe, "welche er mit großen Kosten und großer Mühe erbaut hatte." (Reccius, Seite 9). Hertel und Hävecker waren ratlos, aber Reccius ahnte die Lösung: Heinrich der Löwe hatte 1179 in einem grausamen Rachefeldzug gegen Wichmann das Land zwischen der Bode und Frohse (Schönebeck) verwüstet, und dabei am 6. November Calbe niedergebrannt. Es liegt also nahe anzunehmen, dass Wichmann die so wichtige Mühle auf eigene Kosten wieder aufbauen ließ und sie dem Kloster 1187 erneut schenkte (vgl. ebenda). Den Mühlenbetrieb besorgte ein Höriger des Klosters. Die Mönche wurden auch verpflichtet, für die Instandhaltung des Wehres und der Flutrinne zum Durchschleusen der Schiffe zu sorgen. Unter Erzbischof Wichmann (vgl. Station 1) wurde eine zweite Mühle, das heißt ein weiteres Mühlrad mit Getriebegang angeschlossen. Es muss sich in den späteren Jahren um eine beachtliche Mühle gehandelt haben, denn 1520 war sie mit 5 Mahlgängen ausgestattet, d. h. fünf große Wasserräder trieben die Mühlsteine an, 1561 waren es nach Hertel, Geschichte..., S. 214" schon sechs.

Wappen des ersten protestantischen Administrators Joachim Friedrich des Erzstifts Magdeburg (Markgraf zu Brandenburg in Preußen, zu Stettin in Pommern, Herzog zu Crossen in Schlesien, Burggraf zu Nürnberg sowie Fürst zu Rügen) von 1595 an einem Mühlengebäude (s. dazu Haupttext)

In der Neuzeit richtete man einen Mahlgang zum Pressen von Mohnöl, einen zum Graupenmahlen und einen zum Zersägen von Holz ein. 1683 weist Hertel (ebenda, S. 214) schon acht Mahlgänge nach. Ein Licht auf die hygienischen Verhältnisse des Mittelalters und der frühen Neuzeit wirft die behördliche Anweisung, in den Häusern vor der Mühle keine Fenster !!! und Aborte zur Saale hin einzurichten, damit kein Unrat, Aas und Kot in die Mühlengänge und zum Brauhaus geraten konnte. (Es war im Mittelalter durchaus üblich, Abfälle aus dem Fenster zu „entsorgen“. - vgl. Station 4)

Um dem häufigen Betrug der Müller vorzubeugen, wurde am Mühlentor die Ratswaage eingerichtet. Auch ein Brauhaus befand sich schon im Mittelalter in der Nähe der Mühle, so konnte man das gemahlene Malz umgehend verwerten (vgl.  Station 4).

Wie K. Herrfurth nachweist, wurde die Mühle im Jahre 1595 neu gebaut, wahrscheinlich, weil die alte inzwischen nicht mehr den erhöhten technischen Anforderungen entsprach. Aus den Ratsakten geht hervor, dass die landesherrliche Regierung in Magdeburg die Calber Bürger besonders bei Materialtransporten um Mithilfe bat. Die Vollversammlung der Bürgerschaft am 30. Mai 1595 willigte unter der Bedingung ein, wenn es sich ausdrücklich nicht um Frondienste handelte. Das wurde vom Landesherren zugestanden (vgl. Herrfurth, Klaus, Zum Wappenstein von 1595 an der Calber Mühle, in: "Volksstimme" vom 13. 1. 1999). Dieser Vorgang ist ein gutes Beispiel dafür, dass zu jener Zeit die antifeudal-bürgerlichen Kämpfe eine neue Qualität erreicht hatten.

 

Der Stich "Calegia" (um 1700) zeigt etwas unterhalb der Mitte des Ausschnittes die 1595 neu erbaute Mühle. Im Vordergrund ist ein Bassin zum Lachsfang zu sehen, und mit dem Buchstaben "g" bezeichnet, die Brauhäuser (Reproduktion nach: Hävecker, a. a. O.).

Das rechts oben abgebildete Wappen des Erzbischofs dokumentiert den landesherrlichen Besitzanspruch auf die neu gebaute Mühle. Der damalige Landesherr war der erste protestantische Administrator des Erzstifts Magdeburg, Joachim Friedrich. Als eine Folge der in unserer Gegend besonders nachdrücklich eingeführten Reformation war die Tatsache anzusehen, dass sich nach dem Tode des ersten evangelischen Magdeburger Erzbischofs Sigismund, Markgraf von Brandenburg, im Jahre 1566 auch seine Nachfolger vom Katholizismus lossagten und fortan "Verwalter", "Administratoren", nannten. Auch die Säkularisation des Klosters "Gottes Gnade", dem die Mühle vormals gehört hatte, trug zu der neuen Besitzsituation bei. Insofern ist dieses Wappen von 1595 auch ein politischer und religionsgeschichtlicher Meilenstein.

Hinweis auf den Erbpächter Andreas Christoph Donner 1797

Der unter dem Wappen sichtbare Türstock trägt die Inschrift "ACD A[nn]o 1797" (s. Abb. links) und deutet auf den Erbpachtmüller Andreas Christoph Donner hin, der am Ende des 18. Jahrhunderts die Mühle von der preußischen Regierung gepachtet hatte (vgl. ebenda). [Nach dem Tod des letzten protestantischen Administrators 1680 war das Magdeburger Land - und damit natürlich auch die Mühle - als ein Ergebnis der Machtverschiebungen nach dem Dreißigjährigen Krieg an die brandenburgisch-preußische Krone übergegangen (vgl. Station 11)].

Als unter preußischer Ägide in Calbe das Tuchmacherhandwerk forciert betrieben wurde, richtete man seit 1683 einen Walkmühlengang zuerst für gröberes, später (1808) für feineres Tuch ein. Das Mühlengelände dehnte sich 1842 bereits so weit aus, dass es bis auf den nahe gelegenen Sandhof reichte. Schon 50 Jahre später war die gesamte Mühle modernisiert. Die Walkmühle bestand noch bis in die 1860er Jahre, dann wurde sie stillgelegt, da die Tuchfabriken inzwischen ihre eigenen Dampfmaschinen-Walkereien besaßen.

 

Ausstattung der Papierfabrik aus dem Industriezeitalter

Staustufe im Mühlgraben  für den Mühlenbetrieb

Der Sägemühlen-Mahlgang wurde auch „Schneidemühle" genannt. Für Calbe und Umgebung wurden hier für den expandierenden Hausbau Balken und Bretter, auch Furniere zugeschnitten. Im Jahre 1834 brannte diese Schneidemühle ab. 1815 waren schon die Getreide-, Walk-, Öl- und Graupenmühle durch einen Großbrand stark beschädigt worden (vgl. Dietrich, Gang, S. 13). Der Kaufmann Johann Christian Brückner aus Magdeburg kaufte 1827 das zerstörte Areal. 1834 wurde er Mitpächter der Königlichen Erbpachtmühle und richtete eine Büttenpapierfabrik ein. Als Gesellschafter von Carl Friedrich Grunow trat er 1837 in den gesamten Mühlenbetrieb ein und wurde 1839 nach Grunows Tod alleiniger Mühlenbesitzer (vgl. Reccius, S. 87 f.).  Er erkannte in einer Zeit der aufkommenden Industrie und des Massenkonsums sowie des damit verbundenen Problems der Verpackungen eine "Marktlücke". Er ließ die rechts des Mühlgrabens niedergebrannte Schneidemühle nicht wieder aufbauen, sondern stattdessen eine Papiermühle errichten. Nun trieb das Mühlrad der einstigen Sägemühle statt des Sägegatters die Steine im Kollergang, wo Altpapier, Lumpen und Holz zu einem Papierbrei zermahlen wurden, der dann in Bottiche (Bütten) gefüllt und verrührt wurde. Aus diesen Bütten wurde der Brei in siebartige Formen gefüllt. Von diesen Formen stammt auch der Begriff Papier"format" ab. Noch heute kann man als besonderes nostalgisch-edles Papier "handgeschöpftes Büttenpapier" kaufen.

Erbbegräbnis der Familie Brückner auf dem neuen Friedhof

Der Fabrikant Brückner kooperierte mit den neu erbauten Zuckerfabriken der Stadt (vgl. Station 22) und stellte große Mengen blauen Packpapiers zum Einwickeln der frisch produzierten Zuckerhüte her. Obwohl sich die Achardsche Methode der Zuckergewinnung aus der Runkelrübe schon durchgesetzt hatte, wollte man die Herkunft des Zuckers mehr oder weniger "verschleiern" und bot ihn den Käufern noch in der exotischen Form des Zuckerhutes an. Später stellte die Brückner-Fabrik Papier für den steigenden Bedarf an Buch- und Presseerzeugnissen her. Nach 1870 produzierte man in der Brücknerschen Papierfabrik vorwiegend Packpapier und Kartons, 1878 waren es schon 1370 Tonnen Packpapier.

Um 1900 bestand die Brücknersche Mühle aus zwei Teilen, der Getreidemühle links des Mühlgrabens und der Papierfabrik auf der anderen Seite. Beide wurden durch Wasserturbinen angetrieben, die seit 1885 die alten Mühlenräder ersetzten. Bei Hochwasser hielt eine Dampfmaschine alle Aggregate in Betrieb. Ende des 19. Jahrhunderts ließ Brückner einen großen Kornspeicher neben der Getreidemühle errichten.

In der Papierfabrik wurden Schreibpapier, Postkarten, postalische und andere amtliche Formulare, Packpapier usw., ja, sogar Fotopapier, damals ein Novum, hergestellt.

Der Rohstoff für die Papierherstellung bestand zum größten Teil aus Lumpen. In einem ersten Arbeitsgang wurden diese gesäubert und nach weißen und farbigen Anteilen getrennt. Eine Maschine zerstückelte die Fetzen in kleine Teilchen, kochte und verrührte alles unter Zusatz von Ätzkalk und Soda zu einem Brei. Danach wurde ein geringer Anteil an Holzfasern hinzu gegeben und alles unter Beimengung von Leim in großen Mahl- und Rührbottichen, den Holländern, in ständig kreisender Bewegung gehalten. Der so genannte Halbstoff wurde anschließend langsam und kontinuierlich verdünnt und auf einer Bahn zur Papiermaschine geschickt. Hier gaben Pressen, Walzen und Trockenzylinder der Masse Festigkeit, Kalander glätteten die Oberfläche, und schließlich wurde das Papier auf große Rollen gewickelt, durch eine Schneidemaschine zu Bogen zerschnitten und zum Schluss je nach Verwendungszweck bedruckt (vgl. Dietrich, Heimat, S. 49f.).

 

In der Papiermühle, in den ersten Tuchfabriken und in der Zuckerfabrik bildete sich um die Mitte des 19.Jahrhunderts erstmals ein nennenswertes Calbesches Proletariat heraus; 1854 waren in der Papierfabrik 134 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt. Das Bewusstsein der gewachsenen Stärke zeigte sich besonders deutlich während der Revolution von 1848/49. Die Frankfurter Nationalversammlung hatte im Juni 1848 den habsburgischen Erzherzog Johann zum Reichsverwalter gewählt und im Juli die erste Reichsregierung gebildet. Vielen Angehörigen der unteren Schichten war die Nationalversammlung jedoch nichts anderes als eine "Schwatzbude", die sich nicht um die demokratischen Interessen des Volkes kümmerte. Als am 6.August 1848 in Calbe eine städtische Feier des Magistrats und der Bürgerwehr zu Ehren der "begonnenen Einheit" Deutschlands stattfand, kam es zu Gegenaktionen von 50 bis 100 Arbeitern der Brücknerschen Mühle, Tuchmachern und anderen Handwerkern, die mit der politischen Entwicklung denkbar unzufrieden waren. Die offiziellen Festtagsreden auf dem Marktplatz und dem Schlossanger wurden durch Pfiffe und Geschrei unterbrochen. Die Arbeiter und Handwerker riefen die zuschauenden Calbenser auf, sich auf ihre Seite zu stellen und sich gegen die Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung zu erheben. Magistrat und Bürgerwehr verhielten sich demonstrativ zurückhaltend und versöhnlich. Bei einer Tanzveranstaltung im "Schwarzen Adler" am Abend schickte der Gastwirt jedoch vorsichtshalber einen Boten zur Bürgerwehr, weil sich in der Gaststätte verdächtig viel aggressiv wirkende Mühlenarbeiter versammelt hatten. Die Bürgerwehrleute wurden mit Gelächter und Schimpfworten empfangen. Als man sich anschickte, Angehörige der Bürgerwehr hinauszuwerfen, rückte Verstärkung an, die den Arbeiter Gaebel zum Haftlokal (Stock) im Rathaus (vgl. Station 2) mitnahm. Um 21 Uhr herrschte scheinbar Ruhe. Bald aber zog eine immer größer werdende Menschenmenge zum Rathaus, um den Verhafteten zu befreien. Der Polizeidiener schickte daraufhin erneut um Hilfe nach der Bürgerwehr. Etwa 200 Arbeiter und Handwerker stellten sich den 40 Bürgerwehrleuten, die mit Hieb- und Stichwaffen ausgerüstet waren, entgegen. Der Bürgerwehrkommandant Barnbeck versuchte über eine Stunde lang, zu verhandeln und Frieden zu stiften. Dann flogen Pflastersteine gegen die Bürgerwehr. Diese begann mit gezogenen Waffen vorzurücken. Es kam zu einem schlimmen Handgemenge, wobei einige Arbeiter durch Säbel und Piken erheblich verletzt wurden. Zwölf Arbeiter und Handwerker wurden verhaftet und später, nach dem Sieg der Gegenrevolution, verurteilt.

Aber die Aktionen der Calber Mühlenproletarier waren erst der Anfang. Je mehr sich die alten Kräfte seit September 1848 wieder in den Sattel setzten, desto stärker wurde der Unwille der betrogenen "kleinen" Leute. Nach dem Sieg der Konterrevolution im November in Wien kam es auch in preußischen Städten und Dörfern zu Widerstandsaktionen gegen die Rekonstituierung der monarchischen Kräfte. Calbe wurde am 9., 10. und 15.November von schweren Exzessen und Straßenunruhen ebenso wie Schönebeck, Barby, Förderstedt, Frohse und viele Landgemeinden ergriffen. In den Dörfern gärte es schon gewaltig seit dem Frühjahr 1848. Bei den späteren polizeilichen und gerichtlichen Untersuchungen wurde immer wieder von monarchisch-staatlicher Seite, zum Beispiel von der Regierung in Magdeburg, wütend festgestellt, dass sich bei allen Unruhen seit dem August 1848 die Magistrate, also die Räte der Städte, auffallend zurückgehalten, ja, die Volksbewegung sogar mit gewissem Wohlwollen unterstützt hätten. In einem Bericht wurde der Verdacht geäußert, der "Mühlenbesitzer Brückner junior" habe die Tumulte initiiert und unterstützt. Damit war der zu jenem Zeitpunkt knapp 19jährige Johann Franz Brückner (geb. 15.9.1829, gest. 21.4.1890) gemeint, dessen revolutionäres Ungestüm später unter Bismarck wieder in "geordnete Bahnen" kam und der zum Königlichen Kommerzienrat erhoben wurde.

Auch der linksliberale Bürgermeister von Schönebeck, Ludwig Schneider, wurde der Volksaufwiegelei bezichtigt. In Barby hatte die Bürgerwehr mit den Aufständischen sympathisiert und nichts unternommen, weil sie selbst aus Angehörigen der unteren Schichten bestand. Daraufhin wurde sie aufgelöst, entwaffnet und durch ein Husarenregiment abgelöst. Dieses musste jedoch bald abziehen, um den Volkszorn nicht eskalieren zu lassen. Durch einen Staatstreich hatte der König die preußische Nationalversammlung am 15. November 1848 in Berlin aufgelöst. Sofort griff der von Wilhelm Loewe, der jetzt Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung war (vgl. Station 14), gegründete Calber "Verein für Volksrechte" ein. Das Magistratsmitglied Nicolai, Wollwarenfabrikant und stellvertretender Vorsitzender des Vereins, ließ im "Stadt- und Landboten" eine Erklärung abdrucken, "dass der Verein sie [die preußische Nationalversammlung – D.H.St.] nach wie vor zu Recht bestehend ansehe, dass er die Beschlüsse derselben als für sich bindend erachtete und dass er ihren Anordnungen Folge leisten und mit Gut und Blut für sie einstehen wolle." Bei der Einleitung einer Kriminaluntersuchung wurde präjudizierend behauptet, dass mit diesem Zeitungsartikel durch den Calbeschen Verein zur Gewalt aufgerufen worden war.

Bürgermeister Ludwig Schneider aus Schönebeck hatte wegen des Staatstreichs eine allgemeine Steuerverweigerung angeregt. Der Calbesche Verein für Volksrechte, der jetzt regelmäßige Versammlungen abhielt, griff diesen Vorschlag sofort auf und propagierte ihn. In einer Volksversammlung im "Gasthof zum Goldenen Stern" in der Schlossvorstadt trug Nicolai den Beschluss vor und Posthalter Schulze (vgl. Stationen 8 und 9) bezeichnete jeden, der noch Steuern zahlen wolle, als Landesverräter. Das Ergebnis war dementsprechend, kaum ein Calbenser zahlte noch Steuern.

Ein Relikt aus der Papierfabrik

Jetzt gab es auch die Polizeiakten Nicolai, Schneider und "Konsorten". Der Landrat von Alvensleben, der sicherlich etwas mit den Liberalen sympathisierte, setzte sich jedoch bald dafür ein, dass die Anklagen fallen gelassen wurden. Nicht fallen gelassen wurden jedoch die Anklagen gegen die Aufständischen der unteren Schichten. Die 30 wegen der Novemberunruhen Angeklagten in Barby erhielten insgesamt eineinhalb Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Gefängnis. Die zwölf Angeklagten in Calbe wurden wegen der "Exzesse" im August und November zu insgesamt 4 Jahren und 8 Monaten Gefängnis sowie 3 Jahren Zuchthaus und dem Tragen der Verfahrenskosten verurteilt. (Vgl.: Staatsarchiv Magdeburg, Rep. C 28 f Nr.173 1a, Bildung von Schutzvereinen im Kreis Calbe und politische Zustände, gerichtet an Abteilung des Innern der Königlichen Regierung Magdeburg)

 

Seit dem Frühjahr 2001 wird diese frühe Industrieanlage zu 80 Prozent beseitigt.

Der Rest bleibt als technisches Denkmal erhalten.