9. Wir verlassen den über tausend Jahre alten Stadtkern und gehen zum hundert Meter entfernten Postamt in der Schlossstraße (gleich hinter der Nordseite der Kirche). Diese Straße hieß früher auch die Altmarktstraße, weil in der frühesten Zeit der Stadt hier der erste Marktplatz zu finden war (vgl. Station 1).

 

Das hier stehende Postamt aus rotem Backstein wurde 1888 eingeweiht.

Als eine nicht unbedeutende Stadt des Mittelalters und der frühen Neuzeit hatte Calbe schon zeitig mit dem Postwesen zu tun. Um 1400 gab es eine Boten-Anstalt zwischen Hamburg und Leipzig, die Calbe einmal wöchentlich anlief, besser gesagt "anritt". Seit 1479 bediente sich dieser Dienst einer Kutsche, in welcher auch Personen befördert wurden. Er bestand, auch während des Dreißigjährigen Krieges, bis 1681. Seit seiner Zugehörigkeit zu Brandenburg-Preußen wurde Calbe vom Großen Kurfürsten auch mit einer Postanstalt (einem Postamtsgebäude) in der heutigen August-Bebel-Straße, der damaligen Ritter- bzw. Poststraße, bedacht (1686). Ein Postmeister wachte darüber, dass die Kutschen mit Briefen, Zeitungen und Personen zweimal pro Woche zwischen Magdeburg und Halle pendelten. Allerdings waren "Zeitungen" damals noch kleine Flugblattpapiere (nicht größer als ein Briefpapierbogen) mit Kurznachrichten im Notizstil. Übrigens heißen Zeitungen im Englischen heute noch Neuigkeitenpapier (newspaper). Es gab in Calbe auch eine langsame Post. Diese Posten benutzten die Tippelskirchener Fähre (vgl. Station 11).

Das Verbindungsnetz zwischen den Städten wurde im 19. Jahrhundert immer dichter; die Kutschen wurden bequemer, und durch den Chausseebau auch das Reisen schneller und angenehmer. Unwillkürlich werden wir gleich an die Postkutsche mit Postillon der "guten alten Zeit" erinnert. Doch das Ende dieser Ära kam im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die entscheidende Revolution im Postwesen brachte die Eisenbahn. Schon 1839 kam Calbe mit der Bahnstation Gritzehne [Grizehne] (1,5 Kilometer nordöstlich von Calbe, heute die Station Calbe-Ost) an das noch junge Eisenbahnnetz.

 

Bahnstation Gritzehne [Grizehne] um 1850 (nach: Archiv Fam. Zähle)

Weil sich der Rat der Stadt anachronistisch gegen den Verlauf der Bahnlinie mit einem Bahnhof direkt an der Stadt gesträubt hatte, mussten die Bürger einen längeren Weg zum neuen Bahnhof auf sich nehmen.

 

Alter Markt mit Postamt von 1888, links daneben an der Ecke befand sich im 19. Jh. das Papier- und Kurzwaren-Geschäft "Bucerius" (s. unten) Ehemaliges Amtsgerichtsgebäude von 1878

Aber auch hier half wieder die gute alte Postkutsche. Zweispännig verkehrte sie täglich sechsmal zum Bahnhof. Das Postamt Calbe, das sich in der Poststraße (auch: Ritterstraße) (vgl. Station 15) befand (heute August-Bebel-Straße), unterstand der Ober-Postdirektion Magdeburg. Ab 1885 durfte es sich Postamt I. Klasse nennen. Eine große Posthalterei wurde 1832 zusätzlich auf dem Gutshof des ehemaligen Rittergutes in der Ritterstraße 1 durch Posthalter Schulze, einem aktiven Mitstreiter Wilhelm Loewes, eingerichtet. 1888 erhielt es dann seinen repräsentativen Bau in der Schlossstraße auf der Westseite des Alten Marktes gegenüber dem 1878 im gleichen Baustil errichteten Amtsgerichts-Gebäude. Das Amtsgericht löste das Kreisgericht ab, das bisher im Rathaus (vgl. Station 2) untergebracht gewesen war.

 

"Papier- und Schreibmaterialien-Handlung" von Louis Bucerius um 1900 (nach: Heimatstube-Archiv)

Max Schusters Gaststätte "Zum Klosterbräu", Schlossstraße 5, um 1900 (nach: Cleve-Archiv, a. a. O.)

Im zweiten Haus links neben dem Amtsgericht (Schlossstraße 5) hatte sich im 19. Jahrhundert (Adressbuch 1897) eine Restauration (im Volksmund: eine Kneipe) etabliert, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts "Max Schusters Gaststätte 'Zum Klosterbräu'" nannte. Hier kam es in den 1920er Jahren oft zu Schlägereien zwischen KPD- und NSDAP-Mitgliedern (nach: Archiv Dr. Wolfgang Cleve, Merseburg).

Seit Ende des 19. Jahrhunderts machte ein Papier- und Kurzwaren-Geschäft guten Umsatz, das von Louis Bucerius (1825 - 1894) gegründet wurde. Es lag (und existiert heute noch als Schreibwarengeschäft) genau an der Ecke Schlossstraße/Querstraße). Hier wurde der später berühmte Verleger Hermann Hillger als Lehrling ausgebildet. Über seine Lehrjahre bei Bucerius schrieb er:

 

"Die Franckeschen Stiftungen in Halle nahmen mich 1876 auf, und nach Ableistung meiner Schulpflicht in Halle und Magdeburg trat ich in das Papier- und Kurzwarengeschäft Louis Bucerius in Calbe a. S. ein, um bei diesem ausgezeichneten Kaufmann und vorzüglichen Lehrherrn 4 Jahre eine Lehre guter alter Zeit durchzumachen. Hausdiener kannte man damals noch nicht, alle Arbeiten mußten von den Lehrlingen geleistet werden, und daß ich so von Jugend an zu fleißigster Tätigkeit und strengster Pflichterfüllung angehalten wurde, hat mir Zeit meines Lebens genützt." ("Das Wissen", XIII. Jg., Nr.16, Berlin 1919, S. 1. Zitiert nach: Archiv Dr. Wolfgang Cleve, Merseburg)

Hier in der Schlossstraße werden wir auch auf eine bedeutende sozial engagierte Schriftstellerin des deutschen Vormärz aufmerksam gemacht. Im Haus Nr. 114, wo eine Gedenkplakette angebracht ist, wohnte Marie Scheele als Kind und junges Mädchen. Sie wurde eine damals populäre Schriftstellerin der deutschen Vormärzliteratur, deren Werke jedoch heute fast vergessen sind. Vergessen ist jedoch nicht ihr tatkräftiges Engagement in der seit 1830 in den Vordergrund tretenden "sozialen Frage". Als verheiratete Marie Nathusius wurde sie später als Mitbegründerin christlicher Sozialhilfe-Anstalten weit über die lokalen Grenzen hinaus bekannt.

 

Haus der Familie Scheele - Hier verbrachte die Vormärz-Schriftstellerin und aktive Sozialreformerin Marie Nathusius ihre Kinder- und Jugendjahre

Ihr Vater Friedrich August Scheele, dessen Bildnis an der Nordwand der Stephani-Kirche hängt (vgl. Station 5), zog mit der Familie aus Magdeburg, wo Marie am 10. 3. 1817 geboren wurde, nach Calbe. Hierher hatte der pietistische Pfarrer eine Berufung als Superintendent an die Stephani-Kirche erhalten.

Der Text zu seinem in der St.-Stephani-Kirche 1879 aufgestellten Bildnis lautete:

„Friedrich August Scheele, geb. 26. Juli 1776 zu Dingelstedt bei Halberstadt u. wurde 1802 Rector daselbst, 1807 Prediger an St. Petri u. 1809 Pfarrer an der Heil. Geist=Kirche in Magdeburg. Von 1819 – 1852 war er Superintendent u. Oberpfarrer an St. Stephani zu Calbe a. S. Er wirkte hier mit Pastor Brüllow 33 Jahre und starb im wahren Glauben und Bekenntniß am 18. Dezbr. 1852 in Thale. Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit. Ebräer 13, V. 8.“ (Vgl. Dietrich, Ruhestätten, a. a. O., S. 9)

Friedrich August Scheele

(1776 - 1852)

Marie, die "nur" die Bildungsmöglichkeiten eines bürgerlichen Mädchens hatte, in welcher Haushaltsführung ebenso wie Kunst und Literatur die vordersten Plätze einnahmen, lernte mit ihren Brüdern, die eine höhere Schule besuchen konnten, mit, und eignete sich so auch das Wissen der akademisch Gebildeten der damaligen Zeit in Naturwissenschaften und Philosophie an. Mit 23 Jahren verlobte sie sich mit dem jungen Neuhaldenslebener Kaufmann, Gutsbesitzer und Romantiker  Philipp Engelhard Nathusius, der gerade von einer zweijährigen Bildungsreise durch Deutschland, Italien, Frankreich, Griechenland und die Türkei zurückgekehrt war. 1841 heiratete das Paar.

Marie (geborene Scheele) und Philipp Engelhard Nathusius (Reproduktion nach: MDR "Geschichte Mitteldeutschlands")

Durch ihren Mann, der ein Verehrer und Freund der sozial stark engagierten Schriftstellerin Bettina von Arnim war, lernte sie auch den politischen Vormärzdichter und Romantiker August Heinrich Hoffmann von Fallersleben kennen, der bald zum Freundeskreis der Familie gehörte. Hoffmann war wegen seiner "Unpolitischen Lieder" von der preußischen Regierung seines Amtes als Professor für Germanistik an der Universität Breslau enthoben und des Landes verwiesen worden.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

Philipp Nathusius, der von den Schwierigkeiten des Dichters erfahren hatte und ihn sehr verehrte, lud ihn auf sein Gut nach Althaldensleben ein. Unter dem Einfluss des bekannten Dichters begann auch Marie Natur- und Kindergedichte im Stil der Romantik zu dichten und zu komponieren.

Nach einer zweifelnden Bemerkung von Herrn Klaus Herrfurth, Pfarrer i. R., ist es mir gelungen, endlich aufklärendes Licht in die Unklarheiten um die Urheberschaft der Melodie zu Hoffmanns Kindergedicht "Alle Vögel sind schon da" zu bringen.

Fast alle Veröffentlichungen des bekannten Kinderliedes weisen Marie Nathusius als Komponistin aus; nur ganz wenige nennen eine "Volksweise" als Melodie. Die Wahrheit aber liegt fast "dazwischen":

Das "Frühlingslied" von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben erschien gedruckt in seinen "Gedichten", Leipzig 1843. Mit dem Zusatz "Volksweise und Begleitung von Marie Nathusius" tauchte es in "Vierzig Kinderlieder von Hoffmann von Fallersleben", Leipzig 1847, auf.

Diese Volksweise war schon lange mit den Worten "Nun, so reis' ich weg von hier" bekannt; 1799 war sie mit den Worten "Ach mein allerliebstes Kind" verbunden. Zu den Vorgängern dieser Melodie gehören u. a. :

  • "Bruder Konrad" im handschriftlichen Glogauer Liederbuch, um 1480,

  • die Volksweise, die Leopold Mozart 1762 als "Bourlesq" in das "Notenbuch für Wolfgang" vermerkte

  • und das Thema, über das W. A. Mozart 1778 die Variation "Ah! Vous dirai-je, Maman" schrieb (vgl. Volkslieder der Welt [Folksongs around the world]).

 

Es war also nie die Rede davon, dass Marie Nathusius die Melodie zu Hoffmanns Gedicht "Alle Vögel sind schon da" komponiert hatte; vielmehr war sie in dem Buch von 1847 als Arrangeurin einer alten [bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden] Volksweise genannt worden. Durch Unaufmerksamkeit wurde jedoch immer wieder kolportiert, sie hätte die Melodie zu dem bekannten Kindergedicht geschaffen. (Auch der "WDR 2" feierte Marie Nathusius  anlässlich ihres 185. Geburtstages als Schöpferin dieses Liedes. Sogar im renommierten Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon aus dem Bautz-Verlag wird sie als Komponistin des Liedes ausgegeben.)

Ich finde aber: Auch wenn Marie Nathusius nicht die Komponistin eines der bekanntesten deutschen Kinderlieder ist, so gebührt ihr doch die Ehre, diese sehr alte Melodie für immer mit dem einfachen und einfühlsamen Text ihres großen Dichterfreundes Heinrich Hoffmann von Fallersleben verbunden zu haben. Als diese Einheit lebt das Lied "Alle Vögel sind schon da" sicher noch lange in den Köpfen und  Herzen der Kinder und Erwachsenen.

Das Ehepaar war nach Althaldensleben gezogen, wo sich u. a. gerade die beginnende Industrialisierung von ihrer hässlichsten Seite zeigte. In den Arbeiterfamilien wurde die Harmonie der jahrhundertealten, agrarisch geprägten Großfamilienbande abrupt zerstört. Am meisten hatten die Kinder unter der Verelendung und Verwahrlosung zu leiden. Bereits kleine Kinder, die von ihren durch die harte Arbeit und Ausbeutung überforderten Eltern verstoßen worden waren, wurden kriminell oder zu Krüppeln. Auf die in den 1840er Jahren plötzlich mit aller Wucht aufbrechende "soziale Frage" reagierte die katholische Kirche mit der Katholischen Soziallehre. Auch das Ehepaar Nathusius wandte sich zunehmend dieser Lehre zu. Durch das Erlebnis des Todes einer Tochter im Säuglingsalter geriet Marie in den Bann des Neo-Pietismus, den sie in der Form der damals populären Dorfgeschichte nach dem Vorbild der pietistischen Erbauungsliteratur zu verbreiten versuchte. Im konservativen und streng kirchlichen "Volksblatt für Stadt und Land", das ihr Mann seit 1849 redigierte, wurden viele ihrer Erzählungen und Novellen gedruckt, bevor sie als Bücher erschienen. In der konterrevolutionären Periode nach 1849 war sie eine viel gelesene und besonders bei Jugendlichen beliebte Schriftstellerin. Ihre Werke, die bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts erschienen, wurden unter anderem ins Englische, Französische, Dänische und Schwedische übersetzt.

Eine Zusammenstellung ihrer Werke: Gesammelte Schriften, Bd. 1-15, 1858-1868 (1890); Ausgewählte Erzählungen, Bd. 1-3, 1889 (1901); Ausgewählte Schriften, Bd. 1-10, 1889; Gesammelte Erzählungen, Bd. 1-10, 1902. - Wichtige Einzelausgaben: Die Kunstreiter. Eine Novelle, 1847; Bilder aus der Kinderwelt, 1848; Martha, die Stiefmutter. Eine Dorfgeschichte, 1849; Lorenz, der Freigemeindler. Eine Dorfgeschichte, 1850; Vater, Sohn und Enkel. Eine Dorfgeschichte, 1850; Tagebuch eines armen Fräuleins, 1853; Rückerinnerungen aus einem Mädchenleben, 1855; Joachim von Kamern. Ein Lebenslauf, 1854; Langenstein und Boblingen, 1855; Elisabeth. Eine Geschichte, die nicht mit der Heirat schließt, 1858; Die Geschichten von Christfried und Julchen, 1858. (zur Biographie von Marie Nathusius vgl. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVI, 1999)

 

Wichtiger waren für die Nachwelt jedoch ihre bleibenden Werke, die sie als Mitstreiterin von Philipp Engelhard Nathusius schuf. 1844 eröffneten die beiden auf dem Gut in Althaldensleben eine Kinderbewahranstalt, seit 1847 wandten sie sich immer mehr dem Gedanken der Inneren Mission zu. Durch Kontakt mit Johann Hinrich Wichern in Hamburg bereiteten sich die beiden Schriftsteller auf ihr größtes Werk vor. Als sich 1849 die Möglichkeit ergab, das Gut Neinstedt bei Quedlinburg zu übernehmen, griff das Ehepaar gleich zu, und Philipp überließ das väterliche Gut Althaldensleben seinem jüngeren Bruder. Um sich in Ländern, die mit der "sozialen Frage" schon Erfahrungen hatten, über die dortige Kinder- und Jugendfürsorge zu informieren, waren Marie und Philipp 1849/50 nach Frankreich und England gereist. In Neinstedt entstand ein Rettungshaus für Waisen und Verwahrloste, ein Witwenhaus und später auch eine Ausbildungsstätte für Diakonen und ein Heim für Geistigbehinderte. Auch Unterstützungsvereine zur "Armenpflege" wurden gegründet.

Das 1850 gegründete "Knabenrettungshaus" im Lindenhof in Neinstedt (nach einem zeitgenössischen Stich in: "Quedlinburger Harz Bote" vom 4.3.2000)

Noch heute gehören die Neinstedter Anstalten zu den größten diakonischen Einrichtungen in Deutschland. Marie, die selbst Mutter von sieben Kindern war, hatte eine glückliche Hand, mit ihren Zöglingen umzugehen. Begeistert sagte man von ihr:  "Marie kann reiten, einen Kahn lenken, Schlittschuh laufen, mehrere Instrumente spielen, komponieren, singen, zeichnen und dichten." Sie starb viel zu früh am 22.12.1857 - im Alter von 40 Jahren - in Neinstedt. Sie war bei den Vorbereitungen der Weihnachtsfeier für ihre Pfleglinge und den damit verbundenen Über-Land-Gängen bei Dezemberwetter an einer schweren Rippenfellentzündung erkrankt, die zu ihrem Tode führte (vgl. Richter, ...)

Marie Nathusius (nach einer Fotografie in: "Quedlinburger Harz Bote" vom 4.3.2000)


Die "soziale Frage" war in Deutschland besonders nach dem schlesischen Weberaufstand 1844 zu einem nationalen Problem geworden. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution um 1830 hatte sich auch die Zahl der Fabrikarbeiter in Preußen und dem übrigen Deutschland rasch vervielfacht. Das im westeuropäischen Maßstab zurückgebliebene deutsche kapitalistische Bürgertum versuchte der drückenden englischen und französischen Konkurrenz zu entgegnen, indem es die Arbeiterlöhne gering und die Arbeitsbedingungen unter dem Minimum hielt. Die einsetzende Weltwirtschaftskrise und die zufällig 1843/44 und 1846/47 auftretenden, durch Kartoffel- und Getreidekrankheiten hervorgerufenen Missernten verschärften die Situation der arbeitenden Bevölkerung ins Unerträgliche.
 

Auch in Calbe hatte sich in der Zeit zwischen 1830 und 1860 die industrielle Revolution durchgesetzt. Folgende Fabrikanlagen waren in dieser Zeit neu entstanden: Die Fabrikgebäude Breite Nr. 42/43 (Fa. Nikolai; schon ab 1824), Breite Nr. 35 (Fa. Capelle; 1832), Kuhgasse Nr. 8 (Fa. Gustav Grobe; 1844), Tuchmacherstraße Nr. 57 (Fa. Karl Eduard Grobe; 1832), Wilhelm-Loewe-Straße Nr. 46 (Fa. Christian Wehrig; Filzfabrik 1832), An der Saale Nr. 3-4 (Fa. Gebrüder Schotte; 1850) Ritterstraße Nr. 2 (Fa. Christian Rust; 1832), Ritterstraße 12 (Dingel und Raschke seit 1852, vgl. Acta... Ritterstraße 12..., 30.1.1852) und Bernburger Straße Nr. 69/70 (Fa. Gebrüder Nikolai; von 1848 bis zum Beginn der 90 Jahre des 20. Jahrhunderts Wolldeckenfabrik). Auch Eduard Grobe versuchte, "seinen" Arbeitern zu helfen, und gründete die "Eduard Grobe´sche Arbeiterstiftung".

Eduard Grobe (1837-97) aus der bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts in Calbe ansässigen Fabrikanten-Dynastie; E. Grobe produzierte in der Tuchmacherstraße Nr. 55-57 Wolldecken, Friese und Flanelltuche. (Reproduktion nach einem Gemälde vom Ende des 19. Jahrhunderts in der Heimatstube Calbe)

Besonders im Hinblick auf die Modernisierung der Tuchfabrikation bietet die Stadt Calbe ein deutliches Beispiel für die sich damals vollziehende erste Etappe der industriellen Revolution und ihre Folgen: In verhältnismäßig kurzer Zeit ging die Modernisierung der maschinellen Ausrüstung der Fabriken vor sich. 1832 gab es in Calbe nur 55 Webstühle und 66 Schnellschützen. Aber schon 1840 waren es 200 Web-Maschinen (!) und 77 Schnellschützen! Während noch 1779 nur drei "feine Tuche" gewebt wurden, produzierte man mit Hilfe der Maschinen 1832 schon 1.208 Stück feine Tuche, 1834 dann 1.677 und 1840 bereits 3.100 Stück solcher Tuche. Im Ergebnis der Veränderungen durch die Industrie-Technik stiegen die Einnahmen aus dem Verkauf der Calber Tuch-Erzeugnisse von 65.000 Talern im Jahre 1779 auf rund 200.000 Taler im Jahre 1840 (nach: H. Schwachenwalde)!

 

Während die Profite gewaltig anstiegen, nahmen gleichzeitig die Klagen über zu geringe Einkommen und die erbärmliche Lebenssituation der Arbeiter zu. Dieser Lage wurden sich die Proletarier, wie sie damals genannt wurden, immer mehr bewusst und schlossen sich anfänglich noch zu losen Interessenvereinigungen, später zu Gewerkschaften zusammen. Die Epoche der Arbeiterbewegungen hatte begonnen. Schon in der Revolution von 1848/49 zeigte sich auch in Calbe im Zuge des Kampfes um die Rettung der Revolutionsergebnisse eine noch schwache Arbeiterbewegung in Form von Demonstrationen und Tumulten der Arbeiter der Brücknerschen Saalemühle und der Tuch-Fabriken, die in Kämpfen mit der Calbeschen Bürgerwehr und Inhaftierungen endeten (vgl. Station 3).

Sozial und humanistisch denkende Intellektuelle wie Wichern, Bodelschwingh, Kolping, Marx, Bettina von Arnim, die beiden Nathusius und viele andere versuchten, wenn auch von manchmal sehr verschiedenen Positionen aus, etwas gegen das Elend zu tun. Dafür gebührt ihnen die Anerkennung von uns Heutigen.

Der Sender MDR schrieb auf seiner Website zur Sendung "Geschichte Mitteldeutschlands" über das Ehepaar Marie und Philipp Engelhard Nathusius: ">Heldenfiguren<, die sich ihr soziales Engagement zum Schmuck oder zur Selbstbestätigung leisteten, waren Philipp und Marie Nathusius nicht gewesen; vielmehr mögen idealistische, bisweilen vielleicht romantische Gefühle hinter ihrem Schaffen gestanden haben. Not und Elend mindern, helfen und retten, dies waren Motive für ihr engagiertes Tun, das bis heute nachwirkt."