17. Die Bahnhofstraße, die im 19. Jahrhundert eine "Prachtstraße" Calbes wegen der beeindruckenden Gründerzeitbauten darstellte, hieß im 18. Jahrhundert noch der Galgenweg.

Von 1700 bis 1780 stand nämlich der Galgen im Bereich der heutigen Kleingärten hinter der Bahnbrücke links auf der Höhe der Gärtnerei. Diese Gegend 300 m westlich hinter der Bahnlinie hieß damals die "Amtsbreite", "Galgenbreite" oder "Vor dem Gericht". Der Galgen bestand aus drei gemauerten Säulen, auf denen oben ein mit Haken versehener Querbalken lag. Das Ganze sah einer überdimensionierten Teppichklopfstange bzw. einem Hochreck nicht unähnlich. Eine Leiter diente den Gesellen des Henkers dazu, die Stricke für die Delinquenten anbringen und die Gehenkten wieder abnehmen zu können. Der durch den Richter der Regierung Verurteilte wurde auf einem zweirädrigen Karren aus der Stadt gefahren und durch den Nachrichter (Henker) an diesem Gerüst gehenkt. Die Leichen der Hingerichteten wurden an Ort und Stelle unter dem Galgen verscharrt oder an eine Universität zu wissenschaftlichen Zwecken geliefert (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 41). Während des 18. Jahrhunderts war Calbe Garnisonsstadt (vgl. Station 18). Der Galgen für Soldaten, besonders für Deserteure, befand sich aber trotz Protestes der Bürger mitten auf dem Marktplatz. Dort gehenkte Soldaten, die zu Lebzeiten versucht hatten, dem traurigen Soldatenschicksal zu entfliehen, verscharrte man auch unter dem Galgen auf der Amtsbreite. Ihre Leichen wurden aber die anderthalb Kilometer vom Markt dorthin nicht gefahren, sondern geschleift, d. h. auf ein Brett gelegt und mit Pferden gezogen (vgl. ebenda).

Neobarock (1904)

Laren (Haus-Schutzgöttinnen)  in römischer Manier

Im 19.Jahrhundert, zur Zeit der industriellen Revolution, begann die Stadt, sich in westlicher Richtung auszubreiten. In der Bahnhofstraße befanden sich außer einer Metall verarbeitenden Fabrik (gleich am Anfang auf der südlichen Seite) und einer Malzfabrik (Fa. Bandel) vorwiegend Gemüse verarbeitende Unternehmen, deren Besitzer stolz ihren neu durch den Gründeraufschwung erworbenen Reichtum in Fassaden der eklektizistischen (historistischen) Architektur zur Schau stellen wollten. Schon 1849 hatte sich der Kupferschmied Siegmund Miller in Calbe, damals noch Schlossstraße 92, niedergelassen (vgl. Reccius, Chronik..., a. a. O., S. 89). Das im Industriezeitalter immer mehr expandierende Unternehmen war dann in die Bahnhofstraße umgezogen.

In der Malzfabrik wurde Gerste für die Bierherstellung zuerst angefeuchtet, zum Keimen gebracht und dann geröstet. Die beim Brauen zurückbleibende gärige Malzmasse ("Gär" genannt) kauften die Ackerbürger als Schweinefutter (vgl. Dietrich, ebenda.).

Ehemalige Metallfabrik und Gießerei, genannt "Kupper-Miller"

Gebrannte Formsteine an der ehemaligen Gaststätte zur Wolfschlucht

Noch heute benutzter Kanaldeckel der Firma Miller

Solch auffällige Gründerzeit-Architektur wie in der Bahnhofstraße Calbe findet man in allen größeren und mittleren Städten bzw. Stadtgebieten, die seit 1871 einen Aufschwung erlebt hatten.

Elemente der Klassik und der Renaissance

Bauhausstil

Interessant in dieser Straße ist auch das Haus Nr. 18, das in der Zeit der Weimarer Republik im weltberühmt gewordenen Bauhausstil ("Neue Sachlichkeit") ohne Verzierungen in rein kubischer Form (s. Abb. oben rechts) erbaut wurde (vgl. Heiber, Fritz, a. a. O., S. 25).

Eklektizistische Vielfalt an einem Haus

Stil-Solidität an Miethäusern des 19./20.Jahrhunderts

Zurück zu den Bauten der so genannten Gründerzeit!

Gründerzeit nennt man den Aufschwung nach der Reichsgründung. In dieser Zeit schossen neue zukunftsträchtige, aber auch unseriöse Unternehmen wie Pilze aus dem Boden, das Bank- und Aktiensystem boomte, und das Deutsche Reich begann, in die Reihe der führenden Wirtschaftsmächte der Welt aufzurücken. Es war eine Zeit der technischen Erfindungen und auch bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckungen.

Calbes Wohlstand in der Gründerzeit  basierte nicht mehr nur auf der Tuchherstellung wie zur Zeit des Absolutismus (vgl. Station 16 und 18), sondern jetzt auch auf der Nutzung landwirtschaftlicher "Schätze" wie Zwiebeln und Gurken. Durch bedeutende Fortschritte in der medizinischen Forschung hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Gemüse wesentlich zur Volksgesundheit beiträgt, und der Aufschwung im Verkehrswesen machte es möglich, dass die Kreisstadt (vgl. Station 15) Calbe Großproduzent dieser Ackerprodukte für Großstädte, besonders aber für die Reichshauptstadt Berlin wurde. Die neue Konserven-Technologie führte nach 1900 zu einem Boom der Calbeschen Rohkonserven-Produktion.

Schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts (urkundlich 1591 erwähnt), als man in Europa zunehmend neben Acker- auch Gartenbau betrieb, gab es in und um Calbe den Anbau von (Grün-)Kohl, Zwiebeln ("Seppeln" oder "Bollen") und Mohrrüben (vgl. Reccius, S. 41). 1685 wurde Mohrrüben- und Zwiebelsaat schon auf Flächen von 3 - 4 Morgen ausgebracht (vgl. ebenda, S. 62). Die Gegend um Calbe eignete sich besonders gut für den Gemüseanbau, weil es hier den passenden Boden dazu gab. Am Ostrand der kleinen Hügelkette zwischen Brumby und Zens, die Wartenberg genannt wird, beginnt die überaus fruchtbare "Magdeburger Börde", eine Lößbodenlandschaft, die von Nordwest durch eine Moränen-Kette und von Südwest durch den Harz geschützt wird (vgl. Station 15). Der in der Eiszeit entstandene Lößboden weist die höchsten Bodenwertzahlen (bis zu 100) auf, so dass man hier ohne großen Aufwand, aber mit bestem Erfolg großflächig Getreide, Gemüse und seit dem 19. Jahrhundert auch Zuckerrüben (vgl. Station 22) anbauen kann. Weil sich eine bis zu 1 m dicke Schwarzerdedecke auf der Lößschicht gebildet hat, kann der Boden besser die Sonnen-Wärme speichern. Außerdem liegt er so hoch, dass ihn Hochwässer nicht wegspülen können. All das prädestiniert die Börde u. a. für den Gemüseanbau. Die Calber Ackerbürger haben den Vorteil dieser natürlichen Situation schon frühzeitig ausgenutzt, indem sie sich seit dem 16. Jahrhundert nicht nur auf die Getreideproduktion, sondern auch auf den Anbau von Gemüsearten, die für die Gesundheit wichtig sind, konzentrierten. Die Gurkenfrucht aber, die neben der Zwiebel Calbes ackerbaulichen Ruhm begründete, kam erst relativ spät auf die Calbeschen Äcker. Die in alten Kulturen schon seit Jahrtausenden bekannte Gurke gelangte in Europa zuerst in den Mittelmeerraum. Auf ihrem Weg nach Norden fand sie später Eingang in den Speisezettel der slawischen Völker. Erst im 17. Jahrhundert kam sie durch einen Zufall nach Sachsen und Preußen. Im Spreewald angesiedelte niederländische Tuchweber machten während einer Tuch-Absatzkrise aus der sprichwörtlichen Not eine Tugend und Entdeckung. Sie wurden die ursprünglich nur zum Eigenbedarf (wie in ihrer Heimat) gezüchteten Gurken reißend in der Umgebung und in Berlin los. Aus dem Notstandsgebiet wurde durch die Gurke ein Gebiet des Wohlstandes. In Calbe kam die Gurke erst im 19. Jahrhundert, als mit fast 200 Jahren Verspätung an, 1865 wurde erstmalig in der Zeitung von dem Gottesgnadener Gärtner Eberhardt Gurkensamen angeboten (vgl. Reccius, S. 91). Seit dieser Zeit traten auch die Calber Gurken, besonders in konservierter und geschmacklich veredelter Form,  ihren Siegeszug an.

Nicht nur Gemüse verarbeitende Fabriken entstanden in Calbe, viele Ackerbürger widmeten sich ebenfalls der Produktion und dem Verkauf der bedeutendsten Calber Landwirtschaftsprodukte. Viele zogen mit mannsgroßen Tragekörben in die Städte und boten dort ihre selbst angebauten Zwiebeln und Gurken an. Während des so genannten Bismarckschen Sozialistengesetzes (1878 - 1890) nutzten die Sozialdemokraten diesen Hausierer-Gemüsehandel, um illegal Agitationsmaterial zu verbreiten. Unten in den Tragekörben, unter den Früchten befanden sich oft Flugblätter und verbotene Zeitungen (vgl. Asmus, Steinmetz, Tullner, a. a. O., S. 40)

Solbrunnenstraße

Morastiges Gelände des ehemaligen Solbrunnens mit Entwässerungssystem, von Westen her - jenseits des Bahndammes - gesehen

 

Die am westlichen Ende der Villen-Reihe in nördlicher Richtung abzweigende Solbrunnenstraße ist noch so schmal, wie man sich viele Straßen in Calbe während des 18./19.Jahrhunderts vorstellen muss. Diese Straße ist nach einem Tümpel benannt, der sich auf salzigem und sumpfigem Gelände befand und heute nicht mehr existiert. In seiner Nähe standen wohl Sol- oder Salweiden. Das Gelände des Solbrunnens ist heute noch morastig und muss entwässert werden. Auf dem Häveckerschen Stadtplan von 1710 ist an dieser Stelle ein "Heidenkirchhof" markiert. Der Name tauchte schon im Handelsbuch von 1617 auf. So nannte man zu jener Zeit Urnen- und Gräberfelder aus vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Max Dietrich berichtete, dass man noch bis ins 19. Jahrhundert Urnen und Skelette ganz dicht unter der Erdoberfläche fand. Die Funde aus dem 17. Jahrhundert sind fast alle abhanden gekommen oder wurden zerstört, weil man in einer Zeit, als man noch "Hexen" verbrannte, solche Stellen voller Angst und Aberglaube betrachtete.  Manch ein Ackerbürger zerschlug die Urnen auch, um den Inhalt nach Schmuck oder Münzen zu durchwühlen (vgl. Dietrich, Calbenser Ruhestätten, a. a. O., S. 1).

Die Solbrunnenstraße war noch im 17. Jahrhundert ein für Fremde verbotener Weg. 1652 wurde Fuhrleuten, die Calbe passieren wollten, streng untersagt, nicht die alte karolingische Heerstraße (vgl. Station 8) durch die Stadt, sondern den Umgehungsweg (Schleifweg) über den so genannten Heidenfriedhof zu benutzen (vgl. Reccius, S. 58). Die fremden Fuhrleute gebrauchten im Süden die Fortsetzung dieses Umgehungsweges über das Balberger Feld. Ertappten Sündern drohten saftige Strafen. Nur befreundete Fuhrleute aus Nachbarorten kamen manchmal mit einer milderen Strafe, z. B. der Stiftung eines Fasses Bier, davon. Die Strenge hatte rein wirtschaftliche Ursachen. Der Wegezoll an den Stadttoren war eine wichtige Einnahmequelle sowohl für den Landesherren als auch für die Stadtkämmerei. Aus diesem feldwegähnlichen Umgehungsweg wurden später die Magdeburger und die Arnstedt-Straße.

Vom Solbrunnen-Gelände führte eine Entwässerungsrinne durch die Schleuse an der Federpfütze (vgl. Station 15) bis zum Mühlgraben (vgl. Stationen 3 und 11). 1755 wurde angeordnet, diesen so genannten Feldgraben und die Schleuse, eine einfache hölzerne Stauvorrichtung, auszuräumen. Den Anwohnern wurde zum wiederholten Mal verboten, tote Tiere, Schutt und Müll dort hinein zu werfen (vgl. Reccius, S. 77). Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts war es um die Hygiene in Calbe nicht gut bestellt.

In der Solbrunnenstraße gab es Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert eine Maschinenfabrik.

Solbrunnen-Areal im Spätherbst -

Bäume und Sträucher markieren den Verlauf des alten Feldgrabens (s. oben)

 

Zurück zur Bahnhofstraße! Ende des 19. Jahrhunderts wurden an dieser Straße Kastanienbäume gepflanzt, die heute noch stehen.

Gehen wir an der Biegung ein Stück weiter in südwestlicher Richtung, treffen wir auf den Bahnhof. Der Bahnhof Calbe-West gehört zu der vom preußischen Staat 1875 bis 1879 aus strategischen Erwägungen heraus gebauten und im Mai 1879 in Betrieb genommenen Bahnlinie Berlin-Nordhausen. Damals hieß er noch "Bahnhof Calbe a. d. Saale".

Der andere Bahnhof , jetzt "Bahnhof Calbe-Ost", wurde zu jener Zeit "Bahnhof an der Saale (Gritzehne)" genannt (vgl. Station 9). Dessen Eröffnung fand am 9. September 1839 statt. Er gehörte den ersten Eisenbahnstrecken, die weltweit ausgeführt wurden, der 1837 bis 1840 noch von privaten Aktionären gebauten preußischen Bahnlinie Magdeburg - Leipzig.

Diese 119,2 km lange Strecke war die fünfte deutsche und erste länderübergreifende Ferneisenbahnstrecke (- es gab noch kein einheitliches Deutschland). Durchschnittlich schaffte man beim Bau der Trasse einschließlich Brücken täglich 126,3 Meter, rund ein Achtel Kilometer. Das war für jene Zeit eine enorme Leistung, die nur von erheblichen Arbeitermassen bewältigt werden konnte. Während der Vormärz-Zeit bedeutete die Konzentration so vieler Lohnarbeiter, wie es sie in den Fabriken der damaligen Zeit nicht gab, stets ein Risiko für Eisenbahn-Aktionäre und den Staat. So kam es u. a. beim Bau der Strecken Magdeburg-Halberstadt (1842) und Magdeburg-Potsdam (1845/46) zu Streiks der Eisenbahnarbeiter, die bessere Lebensbedingungen forderten, und zum Einschreiten preußischen Militärs (vgl. Asmus, Steinmetz, Tullner, S. 7).

1882 wurde zwischen den beiden Bahnhöfen ein Verbindungsgleis für den Güterverkehr und 1890 für den Personenverkehr in Betrieb genommen.

Bahnhof Calbe West

Schöne Formsteine aus den 1870er Jahren

 

Die staatliche Strecke Berlin-Nordhausen war gebaut worden, weil die Generalität des Kaiserreiches, besonders Hellmuth von Moltke, nach den Erfahrungen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 nach einer günstigen Bahnverbindung zwischen Berlin und Metz strebte, um im Falle eines Falles schnell die Truppen zur Grenze des "Erbfeindes" transportieren zu können.

Diese Bahnlinie wird heute noch von alten Calbensern wegen der früher häufigen Transporte von Kriegsmaterial als "Kanonenbahn" bezeichnet.

Auch Schnellzüge nach und von Berlin hielten in Calbe a. d. Saale (Calbe-West).

Als nach 1871 eine der längsten Friedensperioden in der deutschen Geschichte eintrat, nutzte man die Verbindung nach Berlin, um die Hauptstadt täglich mit bis zu 150 Waggons Frühkartoffeln, Zwiebeln und Gurken, im 20. Jahrhundert auch mit Konserven zu beliefern. Pro Jahr wurde hier eine Million Zentner Zwiebeln umgeschlagen, eine Menge, die 90 Prozent des gesamtdeutschen Bedarfes deckte. So erwarb sich Calbe, das schon seit fast vierhundert Jahren Gemüse produzierte, nun im ganzen Reich den Ruf als Gurken- und "Bollen-Calbe".

In seinem Werk "Deutsche Fahrten: Reise- und Kulturbilder" beschreibt 1903 der Schriftsteller Karl Emil Franzos humorig den Lokalpatriotismus und den Neid einiger Zerbster auf die berühmtesten Zwiebeln, die von Calbe:

"»Wir leben«, sagte mir ein wackerer Sattlermeister am Frauentorplatz [in Zerbst - D. H. S.], »vom Handwerk, von der Wurst, von dem Bier; unsere Gurken sind auf dreißig Meilen berühmt; von unseren Kartoffeln, lieber Herr, müssten Sie eigentlich auch schon gehört haben, und wenn die von Calbe nicht wären, so wären wir auch in Zwiebeln die Größten.« Auf die von Calbe war er darum fast ebenso schlecht zu sprechen wie auf die Dessauer, und als ich darüber erstaunt war, da ihn als Sattler doch die Zwiebeln nichts angingen, erwiderte er: »Aber unser Zerbst geht mich an; es ist doch wegen der Stadt!«"

Als das erste Niederschachtofenwerk der Welt in den 1950er Jahren in Calbe errichtet wurde, nahm die Bedeutung der Bahnlinie Berlin Nordhausen und des Bahnhofes Calbe-West erneut zu.