Geschichte der Stadt Calbe (- ein Abriss -)

 

1. Abschnitt: Um 2000 v. Chr. bis 9. Jahrhundert n. Chr. (Erste Besiedlung)

 

Wie zahlreich gefundene Urnen und Werkzeuge das belegen, war die Gegend des heutigen Calbe schon in frühgeschichtlicher Zeit besiedelt. Bereits in der Jungsteinzeit (um 2000 v. Chr.) waren hier Menschen zur Sesshaftigkeit übergegangen; die Weinberg-Funde aus der Schnurkeramik-Kultur von 2001 sind der Beweis dafür. Am bedeutendsten aber war wohl der Calbenser Hortfund (Hausurnenkultur) aus der frühen Eisenzeit (ca. 700 v. Chr.) von 1956 mit schönen Artefakten. Dabei handelte es sich um einen nördlichen Ausläufer der Hallstattkultur. 

 

Unsere Vorfahren siedelten in unserer Gegend mit Vorliebe auf dem (westlichen) hohen Ufer der Saale, weil sie dort die Vorteile des Flusses nutzen konnten, ohne den Gefahren des stets wiederkehrenden Hochwassers ausgesetzt zu sein. Hier fing einer der fruchtbarsten Böden Europas, die Börde, an. An der Stelle des Hochufers, das in der Jungsteinzeit schon bewohnt war, befand sich nach Aussagen späterer Quellen eine Sonnenkult-Stätte, die Wunder- bzw. Trojaburg im Süden des heutigen Calbe. In einem inzwischen verschwundenen Spiralgang wurden zu Ehren der germanischen Fruchtbarkeitsgöttin Ostara (Ostern) im Frühjahr Auferstehungs- und Erweckungsriten zelebriert. Der Name „Wunderburg“ hielt sich bis heute (vgl. Station 22).

 

Am niederen östlichen Ufer war durch die häufigen Überschwemmungen morastiges Gelände mit vielen Flussverzweigungen und Mäandern und demzufolge auch mit kleinen Inseln (Werdern) entstanden.

Dann wissen wir für einige Zeit nichts über die Besiedlung der Gegend um Calbe.

Erst am Ende der Völkerwanderungszeit (im 5.Jahrhundert n. Chr.) begegnen uns wieder Siedler in unserer Heimat, die Thuringi (Thüringer), ein westgermanischer Stamm, zu dessen Nordthüringgau das Gebiet des späteren Calbe gehörte. Nachdem das Reich der Thüringer von den politisch und sozial immer mehr dominierenden Franken im Bunde mit den Sachsen 531 zerschlagen worden war, ließen sich die Sachsen mit Zustimmung ihrer Bündnispartner in den ehemals thüringischen Gebieten nieder und zahlten dafür einen jährlichen Tribut. Der Name „Nordthüringgau“ blieb aber noch mehrere Jahrhunderte bestehen.

Auch die Herrschaft der Sachsen in unserem Gebiet wurde durch den Sieg Karls des Großen in den mit grausamer Härte 32 Jahre lang geführten Sachsenkriegen 804 beendet. Wichtiger noch als die militärische Unterwerfung der Sachsen war ihre moralisch-ideologische Bindung an einen gemeinsamen Glauben, das Christentum. Der erste Bischof von Halberstadt, Hildegrim, richtete laut Chronik 35 Kirchen in seinem Sprengel ein, die dem ersten Märtyrer der römisch-katholischen Kirche, dem Heiligen Stephanus, geweiht waren (vgl. Station 8). Eine davon, die karolingische St.-Stephani-Basilika war der Vorgängerbau der heutigen Stadtkirche von Calbe (vgl. Station 5).

Mit der fränkischen Hegemonie wurden im 9. Jahrhundert Kristallisationskerne für die bald darauf erfolgende Urbanisation, speziell auch für die Siedlung Calbe, gelegt.

Östlich der Elbe-Saale-Linie lebten die ebenfalls zu den Indoeuropäern gehörenden Stämme der Slawen, bei denen sich der Feudalisierungsprozess langsamer durchsetzte. Sie betrieben vorwiegend Fischfang, Kleintierzucht und Ackerbau. Unsere unmittelbaren Nachbarn waren Wenden (Sorben). Karl der Große errichtete entlang dieser natürlichen Grenze ein System der verstärkten Sicherung, eine Reihe von Verwaltungs- und Militärstützpunkten; Königshöfe, Burgen und Kirchen entstanden. 806 gründete Kaiser Karl die Hauptburgen Magdeburg und Halle. Im gleichen Jahr berief der alternde Kaiser eine Heerschau nach Staßfurt ein. Zwischen den beiden Burgen führte die karolingische Heerstraße über Nienburg und Bernburg entlang. Königshöfe dienten nicht nur der Verwaltung, sondern auch als Etappenorte zur Bergung des Heeres (Herberge). Eines der wirtschaftlichen und politischen Zentren im östlichen Teil des Frankenreiches wurden der Königshof und die Fluchtburg Calvo (vgl. Station 8).

 

2. Abschnitt: Um 800 bis 1168 (Formierung und Konsolidierung der Stadt Calbe)

 

Mit großer Sicherheit wurde die karolingische St.-Stephani-Basilika, von der einige Teile für die späteren Kirchen-Nachfolgebauten verwendet wurden, von Bischof Hildegrim errichtet. Diese Kirche war etwa so groß wie der heutige östliche Choranbau der gleichnamigen Stadtkirche. Da Hildegrim 827 starb, muss die Basilika schon vor diesem Jahr errichtet worden sein. Man setzt aber keinen so beachtlichen Bau in ein Dorf oder in eine Einöde, sondern dorthin, wo viele Menschen zusammen leben, in ein Marktzentrum mit politischer Bedeutung. Folglich musste eine urbane Ansiedlung, die Vorläuferin der heutigen Stadt Calbe, schon zu Beginn des 9., wenn nicht gar schon im 8. Jahrhundert, existiert haben (vgl. Station 5).

Urkundliche Erwähnung fand sie aber erst, als am 13. September 936 König Otto I. das St.-Servatius-Nonnenkloster in Quedlinburg, wo sein Vater Heinrich I. begraben lag, mit Ländereien und 15 leibeigenen wendischen (sorbischen) Familien in Frohse und Calbe  belehnte. 961 schenkte Otto dem St.-Mauritius-Kloster in Magdeburg, dem späteren Kloster „Unser lieben Frauen“, den Zehnten, den die Deutschen und Wenden, welche zu den Burgwarden Magdeburg, Frohse, Barby und Calbe gehörten und in deren Burgen Schutz suchten, zu entrichten hatten. Das von Heinrich I. verstärkt ausgebaute Burgwardsystem in den Grenzmarken bezog sich auf gut gesicherte, aneinander grenzende Militärbezirke und auf Fluchtburgen. Von den wehrhaften Männern musste jeder neunte in den Burgen wohnen und sich auf den Kriegsdienst vorbereiten. Hier fanden auch Versammlungen und Feste der frühen Einwohner Calbes statt. Die Calbenser Burg unterstand dem Militärverwalter des Nordthüringgaus, dem berühmten und berüchtigten Markgrafen und Herzog Gero. Die Burg von Calbe, in späteren Quellen oft als Sudenburg bezeichnet, war kein Steinbau wie die von Nienburg, wie ein Handelsreisender 970 schrieb. Sie hatte wohl nur Grundmauern und war sonst aus Holzstämmen gebaut. Eine solche für heutige Begriffe eher bescheiden wirkende Fluchtburg hat nichts mit unseren Vorstellungen von spätmittelalterlichen Herrenburgen zu tun. Obwohl es heute keine Bodenbefunde dazu gibt, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich die Calbenser Burg (urbs) etwa an der Stelle der ehemaligen Nikolai´schen Wolldeckenfabrik befand (vgl. Stationen 8, 19 und 21).

In der Nähe der Burg, etwa an der heutigen Ecke Bernburger Straße/Neustadt, gab es bis ins 17. Jahrhundert hinein eine Säule und einen steinernen Stuhl, das Ältestengericht. Hier wurde Gericht "unterm freien Himmel vor Gott und seinen Heiligen gehalten, [wo] auch jeder frei zutreten durfte und Recht suchen“, schrieb der Chronist Hävecker. Das Ältest- oder Eldistgericht  bestand aus 12 Männern, wovon sechs Adlige und sechs angesehene Ackerbürger waren. Diese Form der Rechtsprechung stammte allem Anschein nach aus der Zeit der Siedlungsanfänge und bildete die Grundlage für die Einführung von Schöffen Ende des 13. Jahrhunderts in Calbe (vgl. Stationen 13 und 21).

 

Etwa 300 Meter von der Burg entfernt wurde im 10. Jahrhundert eine dem heiligen Laurentius (Lorenz) geweihte Kirche errichtet. Diese Kirche gehörte zu jener Kategorie von Triumph- und Dankeskirchen, die Otto I. nach seinem historischen Sieg auf dem Lechfeld über die Ungarn im Lande errichten ließ. Otto der Große, wie er nach diesem Sieg genannt wurde, hatte am Tag der Schlacht, dem 8. August 955, der auch der Tag des Heiligen Laurentius war, gelobt, Kirchen zu Ehren dieses Heiligen zu errichten, wenn er gegen die Ungarn siegen würde. So gab es im 10. und 11. Jahrhundert eine regelrechte Welle von Gründungen solcher dem Laurentius geweihten Kirchen. Es ist ziemlich sicher, dass auch diese Kirche in diese Reihe gehört. Wie die Calbenser Stadtkirche wird man die St.-Laurentii-Kirche zuerst aus Holz gebaut haben. Die erste romanische Laurentiuskirche aus Sandstein wird im 12. Jahrhundert entstanden sein. Möglicherweise stammt die noch vorhandene Rundapsis aus dieser Zeit. Bis heute blieb die schlichte Kirche einschiffig. Ein Kirchturm, der nicht mehr existiert, war auch vorhanden. Die ursprüngliche romanische Sandstein-Kirche war etwa halb so groß wie die heutige und etwas niedriger (vgl. Station 20).

Außerdem war das frühe Calbe an einem wahrscheinlich schon seit karolingischer Zeit existierenden Königshof (curtis regia) angelegt worden. Die Königshöfe bildeten die wirtschaftliche Grundlage des Königtums. Im mittelalterlichen Deutschland gab es noch keine Hauptstädte. Die Könige, auch die Kaiser, zogen von einem Wirtschaftshof zum anderen, wobei sie meist in den Wintermonaten dort blieben und im Sommer mit einem großen Hofstaat und vielen Bewaffneten reisten. So wurden Königshöfe auch zu politischen Zentren. Die Verwaltung eines solchen Königshofes wurde von einem "maior" (Meier) bzw. „villicus“ für die Zeit, in der sich der Herrscher nicht im Königshof aufhielt, wahrgenommen. Dieser Meier hatte die Aufgabe, die Abgaben der hörigen Bauern einzutreiben und die Fronarbeit auf dem Königsgut zu organisieren. Der erste namentlich bekannt gewordene erzbischöfliche Meier war der Ministeriale Dietrich von Calbe (1105). Bei Kriegszügen dienten die Königshöfe zur Bergung des eigenen Heeres (vgl. 1.). Deshalb waren sie auch stark mit Gräben und Palisaden befestigt und ständig mit Verpflegung für eine militärische Einheit für mehrere Tage ausgerüstet. In einem solchen Hof befanden sich das "Herren"-Haus, das Back- und das Brauhaus, die Scheunen und Ställe sowie der Brunnen. Unsere „Curtis regia“ befand sich im Gebiet der heutigen Ritterstraße (vgl. Station 8).

In den Schriftquellen zu unserer Stadt wird Calbe als Calvo (936), Calva (1159), Calve (I305), Calbe (1485) bezeichnet. Es hat viele, zum Teil auch recht unsinnige Deutungsversuche zum Ursprung dieses Begriffes gegeben. Am einleuchtendsten erscheint jedoch eine sprachgeschichtliche Erklärung: Der Wortstamm „calv“ bedeutet im Indogermanischen (gal) und Althochdeutschen (kalwa) ganz einfach „kahl“ bzw. „nackt“ (lat. calvus, mittelhochdeutsch kalwe). Möglicherweise war das besiedelte hohe Ufer der Saale nicht bewaldet.

Die Sprachgrenze zwischen Nieder- (Platt-) und Hochdeutsch verlief im 10. Jahrhundert noch bedeutend südlicher als heute. Die höhere Amtssprache war das Neulateinische, das Volk und die niederen Beamten sprachen und schrieben bis zum Ende des 15. Jahrhunderts niederdeutsch (plattdeutsch), wie die Quellen belegen.

Schon am 28. März 965 jedoch schenkte Kaiser Otto seinen Königshof in Calbe ebenso wie den in Rosenburg jenseits der Saale dem St.-Mauritius-Kloster in Magdeburg mit allem Zubehör, sowohl den Kirchen und anderen Bauten, den Äckern usw. sowie den Mühlen. Diese Schenkung wurde auch von Ottos Nachfolgern bestätigt (vgl. Station 8).

Als 968 das Stift des Heiligen Mauritius zum Erzstift erhoben wurde,  begann auf Grund von Ottos Schenkung nach relativ kurzer Zeit der Königsgewalt die 612 Jahre dauernde Herrschaft der Erzbischöfe und protestantischen Administratoren nicht nur über, sondern auch in Calbe, denn das neu erworbene, nun nicht mehr königliche, sondern erzbischöfliche Gut erfreute sich bei den geistlichen Landesherren immer größerer Beliebtheit als Nebenresidenz neben Magdeburg. Da das erzbischöfliche Schloss erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts erbaut wurde, befand sich also der Erzbischofssitz im 10. bis 13. Jahrhundert in der Gegend der Ritterstraße.

Aus der Schenkungsurkunde von 965 geht aber auch die Existenz eines weiteren bedeutenden Baues des Mittelalters, der Saale-Wassermühle, hervor, die zunächst zum Königshof und zur Stadt gehörte. Um das Wasser zum Antrieb der Räder vor der Mühle zu stauen, wurde ein Wehr, der so genannte Damm, errichtet. Das Wehr genügte aber nicht. Das zum Antrieb der Mühlenräder beschleunigte Wasser musste wieder zurück zum Fluss geführt werden. Das geschah durch den links der Saale gelegenen Mühlgraben. Die Saaleschifffahrt war aber wegen des künstlichen Dammes an dieser Stelle nicht mehr möglich. Deshalb wurde vor dem Wehr eine Umschiffungsmöglichkeit herbeigeführt. Das geschah rechts der Saale durch eine Flutrinne, später durch mehrere Schleusen (vgl. Station 3).

Im 11. Jahrhundert konsolidierte sich Calbe immer mehr als Stadt, regelmäßige Jahrmärkte wurden auf dem „Alten“ Marktplatz abgehalten, der sich damals noch auf dem Terrain vor dem roten Backstein-Postgebäude befand (vgl. Stationen 2 und 9).

1131 wurde auf einer kleinen Erhöhung am östlichen Saaleufer direkt neben der Stadt das Reform-Kloster „Gratia Dei“ (Gottes Gnade) gegründet. Es verdankte seine Gründung dem Grafen Otto von Reveningen [Röblingen am See], der es auf Veranlassung des Magdeburger Erzbischofs Norbert von Xanten erbauen ließ und einen Teil seiner Güter einbrachte. Der Graf wollte das Kloster ursprünglich auf seinen Gütern im Mansfeldischen gründen. Das hätte aber nicht ins strategische Konzept Norberts gepasst. Auf dessen eindringliche Bitten hin wählte Otto dann doch das erhöhte Ostufer der Saale bei Calbe. Beide legten gemeinsam den Grundstein in einer (damals) sumpfigen und waldreichen Gegend, die fast unbewohnt war. Otto von Reveningen hatte diesen Grund und Boden, wie es Norbert gewünscht hatte, durch Tausch erworben. Das Kloster bekam 1151 die Calbenser Mühle, die ursprünglich den Stadtbewohnern und dem Königshof gehört hatte (s. oben), sowie verschiedene Häuser, Kirchen und rent- und zinspflichtige Dörfer in der Umgebung von König Konrad III. geschenkt, was Kaiser Friedrich I. Barbarossa 1153 noch einmal bestätigte.

Norbert von Xanten und Köln (um 1080 - 1134), aus einem niederrheinischen Adelsgeschlecht (von Gennep) stammend, hatte eine große Karriere als Kleriker und Vertrauter Kaiser Heinrichs V. vor sich, wandelte sich aber radikal durch ein Nah-Tod-Erlebnis. Norbert machte sich ans Reform-Werk und entwickelte neue Ordensregeln auf der Basis der Lehren von Augustinus. 1120 hatte er in Prémontré jenen Orden der Prämonstratenser gegründet, der sich rasch ausbreitete und ein Leben zu praktizieren versuchte, das dem der frühen Christen entsprach und durch den Kirchenvater Augustinus seine Form gefunden hatte. Diese rasche Ausbreitung ist unter anderem auch auf das Streben jener Zeit nach einer grundlegenden Reform der inzwischen verweltlichten und stagnierenden Kirche zurückzuführen. Schon am 18. Juli 1126 wurde Norbert zum Erzbischof von Magdeburg, dem wichtigsten weltlichen und kirchlichen Vorposten im Osten des Reiches, berufen. 1129 verlegte er den Schwerpunkt des Prämonstratenserordens in dieses Gebiet mit dem Ziel der Ostkolonisation. Mittelpunkt wurde das Kloster "Unser Lieben Frauen". Der Mann, der barfüßig und im Büßergewand in seine Erzbischofsstadt eingezogen war, ging sofort daran, Missstände und Lotterleben abzustellen sowie Veräußerungen von Kirchengut rückgängig zu machen. Norbert von Xanten war auch politisch aktiv für eine starke Zentralgewalt und deren Verbindung zur Kirche. Als er erkrankte und 1134 in Magdeburg starb, wurde er im Kloster "Unser Lieben Frauen" beigesetzt, seine Gebeine jedoch in den Wirren der Reformation nach Strahov in Prag überführt. Das Kloster erhielt eine beeinduckende Stiftskirche, eine romanische Basilika, deren zwei Türme höher als die der Stephani-Kirche gewesen sein sollen. Sie wurde 1164 durch Erzbischof Wichmann im Beisein mehrerer Bischöfe geweiht. Leider wurde diese Kirche im Zuge der seit der Reformation einsetzenden Säkularisation vollständig abgetragen. Heute trifft man im heutigen Ortsteil Gottesgnaden nur noch auf eine damals vor den Klostermauern stehende Hospitalkirche (1207 geweiht) im vorwiegend romanischen Baustil.

Das Kloster, dessen Einfluss durch Tochterklöster bis an die Elbmündung, nach Riga und Palästina reichte, hat sich sehr verdient gemacht bei der friedlichen wirtschaftlichen Kolonisation der östlich der Saale, also im slawischen Bereich liegenden unwegsamen Sumpflandschaft (vgl. Station 12).

 

1152 bestieg ein für Calbe sehr wichtiger Mann den Erzbischofstuhl in Magdeburg. Der 1115 oder 1116 geborene Wichmann Graf von Seeburg aus dem Geschlecht der Billunger (wie Gero) betrieb wie die meisten seiner Vorfahren eine expansive Ostpolitik gegenüber den Slawen. Er war ein treuer Vasall Kaiser Friedrichs I. Barbarossa und begeisterter Anhänger der Zentralgewalt. Nach einer beachtlichen Karriere übertrug ihm der Kaiser gegen den heftigen Widerstand des Papstes das Erzbistum Magdeburg. Als Initiator des 1188 kodifizierten "Magdeburger Stadtrechts" schrieb Wichmann europäische Geschichte. Dieser Erzbischof war ein bedeutender Förderer der Städte und ein zu Kompromissen bereiter Politiker. So vermittelte er immer wieder - auch erfolgreich - im päpstlich-kaiserlichen Streit und im Staufer-Welfen-Konflikt. Dieser bedeutende Politiker des Mittelalters hielt sich wie viele andere nach ihm folgende Magdeburger Erzbischöfe oft in Calbe auf und hat dadurch die Stadt erst richtig ins Licht der politischen Öffentlichkeit gestellt. Er starb am 25.8.1192 in Könnern bei Bernburg, seine Grabstelle ist  im Magdeburger Dom.

Erzbischof Wichmann, der große Schirmherr bei der rechtlichen Sicherung der Städte, hat auch für die Konsolidierung Calbes viel getan. Am bedeutendsten ist eine Urkunde, die allerdings undatiert ist, jedoch zwischen 1160 und 1168 entstanden sein muss. Darin ging es noch einmal um die Schenkungsbestätigung der Mühle an das Kloster „Gottes Gnade“. Viel wichtiger sind für uns jedoch zwei andere Tatsachen: Erstens bezeichnete Wichmann darin u. a. die Calbenser Einwohner, denen einstmals die Mühle gehörte, als seine Marktbürger (forenses), und zweitens stiftete er zu seinem Seelenheil jährlich ein Pfund Silber (Talent) aus seinen Höfen am Neuen Markt. Das ist unser heutiger Marktplatz; der Alte Markt, wie er noch lange hieß, lag 150 Meter weiter nördlich. Wichmann selbst hatte  diesen neuen, größeren Handelsplatz anlegen lassen. In einer Urkunde von 1168 taucht dann auch folgerichtig ein Schultheiß (eigener Stadtrichter) namens Hugold von Calbe, ein Ministeriale Wichmanns, auf. Das bedeutete, dass Calbe als Marktstadt aus dem öffentlichen Landrecht herausgenommen worden war und nicht mehr wie ein Dorf oder Marktflecken behandelt wurde. In den 1160er Jahren war also die juristische Anerkennung Calbes als Stadt erfolgt. Der Weg zu einem städtischen Aufschwung in Calbe war frei (vgl. Stationen 1 und 2).

 

Calbe im 12. Jahrhundert (retuschiert nach einem Stich von 1706)

 

Zur Zeit der Erlangung des Stadtrechtes war Calbe schon von einer ersten bescheidenen Stadtmauer mit Türmen und Stadttoren umgeben. Die damals noch nicht sehr hohe und wenig starke Mauer reichte östlich vom linken Saaleufer, südlich an der Gasse „Hinter der Mauer“, westlich zwischen Breite/August-Bebel-Straße und Magdeburger Straße und nördlich an der Grabenstraße entlang. Damals gab es zwei Stadtbezirke: das Altmarkt- und das Neumarkt-Viertel. Die Burganlage mit der St.-Laurentii-Kirche lag also außerhalb der Stadt. Hier war damals schon aus den kleinen Siedlungen Lorenz (nach Laurentius), der von Wenden bewohnten, tief gelegenen Fischerei und der unterwällischen Bauernschaft eine Vorstadt entstanden, die nicht dem Stadtrecht unterstand und wie eine Dorfgemeinde behandelt wurde (vgl. Station 19).

 

 

3. Abschnitt: Um 1170 bis 1542 (Aufschwung bis zur Einführung der Reformation)

 

Während der jahrzehntelang anhaltenden Machtkämpfe, die in den 1170er Jahren zwischen dem Fürstenhäusern der Staufer und der Welfen (Guelfen), insbesondere zwischen dem Staufer Friedrich I. Barbarossa und seinem welfischen Vetter und Widersacher, dem mächtigen Sachsen- und Bayernherzog  Heinrich dem Löwen, ausbrachen, standen Städte und Dörfer auf der Verliererseite. Die verbittert streitenden Parteien zerstörten sich gegenseitig ihre Wirtschaftsbasen.

Da Calbe ein „Lieblingskind“ des einflussreichen Stauferpolitikers Wichmann war, musste es unter der Wut der Welfen besonders leiden. Als Heinrich wegen seiner starrsinnigen Oppositionshaltung von den Stauferanhängern  mit militärischer Gewalt bedroht wurde, zerstörte und plünderte er 1179 Halberstadt. Daraufhin belagerte Erzbischof Wichmann mit anderen staufisch gesinnten Fürsten Heinrichs Burg Haldenleben. Als Rache unternahm der Herzog einen verheerenden Verwüstungszug, dem das Gebiet von der Bode bis nach Frohse zum Opfer fiel. Am 6. November 1179 plünderte und verbrannte Heinrich der Löwe Calbe. Da auch Wichmanns Nachfolger, die Erzbischöfe Ludolf, ein intelligenter, schwergewichtiger Bauernsohn (Regierung 1192-1205),  und Albrecht II. von Käfernburg (Regierung 1205-1232) gut staufisch gesinnt waren und ebenfalls an den militärischen Kämpfen selbst teilnahmen, war Calbe weiterhin dem Groll der Welfen ausgesetzt. Ende 1199 oder im Frühjahr 1200 wurde die Stadt erneut, diesmal durch den ältesten Sohn des Löwen, Pfalzgraf Heinrich, gebrandschatzt. 1203 oder 1204 und 1217 verbrannte der welfische Kaiser Otto IV., auch ein Sohn Heinrichs des Löwen, Teile der Stadt und verwüstete die Gegend ringsumher. Über die Verwüstung des Magdeburger Erzbistums, besonders auch Calbes, schrieb 1218 die Magdeburger Schöppenchronik beim Tode Kaiser Ottos IV., ein so großes Buch gebe es gar nicht, um all das Ungemach und den Jammer niederzuschreiben, den der Krieg zwischen ihm und dem Erzbischof Albrecht hier hervorgerufen habe.

Die während der Zeit dieser Kriege niedergebrannte romanische St.-Stephani-Basilika wurde, etwas vergrößert, in der Mitte des 13. Jahrhunderts in frühgotischen Formen wieder aufgebaut.

 

Erst unter dem Staufer Friedrich II. (Regierung 1212 – 1250), einem Enkel Barbarossas, kamen die Kämpfe der Großen zum Stillstand, und die Wirtschaft des Landes konnte sich allmählich wieder erholen. „König Friedrich ward des Reiches mächtig überall und gebot, daß man Friede halten sollte in allen Landen. Da begannen sich die Leute wieder zu nähren, den Acker zu bebauen und Korn zu säen“, hieß es 1219 in der Schöppenchronik. Mit dem „Sachsenspiegel“ Eikes von Repgow (Reppichau bei Aken), dessen Familie auch in Glöthe begütert war, wurde 1233 eine gültige Rechtsgrundlage für die Zeitgenossen geschaffen.

Nach dem Tode des starken Kaisers Friedrich II. jedoch geriet Calbe wieder in die blutigen Fehden der Fürsten. Markgraf Otto von Brandenburg hatte sich 1277 mit dem Sachsenherzog gegen Erzbischof Günther I. von Schwalenberg verbündet, weil er seinen Bruder Erich mit Gewalt auf den Magdeburger Erzbischofsstuhl bringen wollte. Die Raub- und Plünderungszüge Ottos im Erzbistum haben Calbe und das Kloster wiederum stark in Mitleidenschaft gezogen. Bei Aken und Frohse wurde der machtgierige Markgraf dann von dem kriegerischen, mit einer starken Streitmacht der Magdeburger Bürger verbündeten Günther vernichtend geschlagen. (1283 bis 1295 saß dann Erich von Brandenburg doch noch auf dem Magdeburger Erzbischofsstuhl, und welche Ironie der Geschichte: Er tat viel für den wirtschaftlichen Aufstieg Calbes.)

In diesen länger als hundert Jahre, mit Unterbrechung der Landfriedenszeit Friedrichs II., andauernden  Feudalfehden hatte Calbe und sein Umfeld stark gelitten. So erfahren wir u. a. aus den leider nur spärlich fließenden Quellen jener Zeit, dass die Mühle, ein lebensnotwendiges Bauwerk, erneut errichtet werden musste und 1285 ein Ablass für Beiträge zum Bau, wahrscheinlich einem Ausbesserungsbau, der 1164 geweihten Kirche von Gottesgnaden zugesichert wurde.

Im städtischen Konsolidierungsprozess machte Calbe Ende des  13. Jahrhunderts wieder Fortschritte. Eine Tagungs- und Gerichtshalle, Ratslaube genannt, welche damals auf dem Alten Markt (vgl. Stationen 1, 2 und 9) stand und aus der schließlich das Rathaus hervorging, wurde 1286 erstmalig genannt.

Ein Roland, das Wahrzeichen städtischen Marktrechtes, muss auch schon am Alten Markt gestanden haben, vielleicht sogar schon seit Wichmanns Zeiten? Belege gibt es darüber nicht. Nach dem Bau des Neuen Rathauses allerdings wurde er laut einer Stadtrechnung von 1381 dorthin gestellt (vgl. Station 2).

Calbe erhielt in den 1280er Jahren Schöffen und ein eigenes Stadtsiegel; das Schöffenkollegium bestand aus 5 Patriziern. Am Anger wurden über den Mühlgraben und über die Saale Brücken errichtet. Diese Brücken wurden im Verlauf des Mittelalters wiederholt neu gebaut, wohl nicht nur wegen kriegerischer Einwirkungen, sondern auch, weil bei der einfachen Holzbauweise Hochwasser und Eisgang kontinuierlich ihr Zerstörungswerk verrichteten.

 

In jener Zeit gelang es immer wieder Dorfbewohnern, die Kosten aufzubringen, und Bürger der Stadt zu werden. Wer das Geld nicht hatte, siedelte sich wenigstens in der südlichen Vorstadtgemeinde an. So wurden im Verlaufe des 13./14. Jahrhunderts und auch noch danach viele der umliegenden Dörfer wüst, woran heute noch die Flurnamen erinnern.

Seit dem 12.Jahrhundert gab es bei uns an den Hängen am östlichen Saale-Hochufer sogar Weinanbau. Die häufigen Belehnungsurkunden mit so genannten Weingärten bzw. Weinbergen belegen das. 1168 belehnte Wichmann das Kloster Gottesgnaden mit einem Weingarten bei Gribehne (seit ca. 1600 Wüstung, Flurname „Gribehner Teiche“), 1289 schenkte der Magdeburger Erzbischof Erich Graf von Brandenburg (Regierung 1283 - 1295)  dem Deutschen Orden einen Weinberg bei Hohendorf (seit ca. 1600 Wüstung, Flurname „Hohendorfer Busch“), den bisher ein Ministeriale namens Friedrich von Calbe zum Lehen hatte usw. Zwischen 1100 und 1300 herrschte in Europa eine kleine Warmzeit, das so genannte Mittelalterliche Optimum. Die Durchschnittstemperaturen lagen in unseren Breiten um etwa 1,5 Grad Celsius über dem heutigen Stand. Dieses Mittelalterliche Optimum machte es zum Beispiel möglich, dass die Wikinger Grönland als "grünes Land" besiedeln konnten und Leif der Glückliche und seine Mannen das nordöstliche Nordamerika als Vinland (Weinland) erlebten (vgl. Station 19).

Mit der urbanen Entwicklung wurde in Calbe wie in anderen Städten auch ein soziales Problem immer deutlicher: die Armut der untersten Schichten. Potentielle Gefahren gingen  weniger von der vagabundierenden Bettelarmut, als vielmehr von der so genannten Hausarmut aus, ruinierten und kranken, unter dem Existenzminimum lebenden Bürgern. Dieser neuen Herausforderung  nahm sich die Kirche an. An einer kleinen, schon am Nordrand der Stadt existierenden und dem Heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Schiffer, Kaufleute und Kinder, geweihten Kirche, wurde aus wohltätigen Stiftungen ein Viertel für Arme und Kranke erbaut, welches man das Hospital zum Heiligen Geist nannte. Die Betreuungs-Arbeit im Hospital versahen zuerst die Beginen, ledige Frauen und Witwen, die gemeinsam in Beginen-Höfen lebten und sich ohne Ordenszugehörigkeit der unorthodoxen tätigen Nächstenliebe, besonders durch Krankenpflege, verpflichtet fühlten. So waren die Armenstiftungen an der Nicolaikirche, bald Hospital- oder Heiliggeistkirche genannt, zur ersten „Sozialstation“ und zu einem frühen Krankenhaus in Calbe geworden. Die städtischen Stiftungen waren das damalige "soziale Netz", um die städtischen Unterschichten unter Kontrolle zu haben und so Verbrechen und Krawallen vorbeugen zu können. Das Vermögen der Armenstiftungen kam durch testamentarische Bestimmungen von Bürgern und Adligen zusammen. So gab es an Namenstagen bestimmter Heiliger für die „Elenden“ doch wenigstens ein Stück Speck oder Fisch und ab und zu ein Kleidungsstück (vgl. Station 10).

Auch Bettelmönche (Barfüßer und Augustiner) hatten in der Stadt am Alten und am Neuen Markt ihre Stationen und Unterkünfte, die Termineien, jedoch keine Klöster. Eines dieser großen Häuser stand am Alten Markt (heute Schlossstraße 109), andere standen am Neuen Markt auf der Westseite mit dem Giebel zur Straße und mit Dachreitern, die mit ihren großen Räumen an Klöster oder Hospitäler erinnerten. Hier wurden "Elende" aufgenommen, also Leute ohne Unterkunft und Einkommen. Das waren damals Heimatlose oder Pilger, wobei es sich bei den Pilgern um Menschen handelte, die ihr Los freiwillig, um Gott zu gefallen oder um Buße zu tun, auf sich genommen hatten. Sie bekamen in diesen Häusern eine fromme Herberge. Auf der östlichen Seite der Neumarktstraße waren an der Saalemauer Gärten, die zu diesen "Hospitälern" gehörten, angelegt. Diese Termineien (Bettelhäuser) waren nicht nur Hospitäler, sondern auch Unterkünfte für die umher ziehenden Mönche und Finanzzentren der Bettelorden. Ende des 15. Jahrhunderts verschwanden sie aus Calbe. 1463 verkauften die Franziskaner ihre Terminei  am Alten Markt an den Bürgermeister von Calbe und 1474 war daraus ein Freihaus (steuer- und zinsfrei) geworden (vgl. Station 21).

Das Stift der Elenden (Heiliggeist-Stift) besaß zwei Badestuben, die eine am Alten, die andere am Neuen Markt. Um den häufig und kontinuierlich auftretenden Seuchen vorzubeugen, legte man Wert auf eine wenigstens bescheidene Körperpflege der Stadtbewohner. In solchen Stuben badeten nicht nur die Bürger und "kleinen Leute" zu günstigen Preisen, sondern auch ab und zu ritterliche Beamte sowie Fürsten und ihr Hofstaat, wenn sie sich zu politischen Geschäften in Calbe aufhielten oder auf „Durchreise“ waren. Das Handwerk des Baders sah man als unehrbar an, denn einerseits trug es zwar zur Volksreinlichkeit und allgemeinen Gesundheit bei, andererseits ging es gerade in den Badestuben sexuell so freizügig zu, dass sich von hier aus auch Geschlechtskrankheiten und andere Seuchen ausbreiten konnten.

Ein anderes unehrbares „Handwerk“ war das der „Rosmarien“ oder „gemeinen Frauen“ (gemein = öffentlich), der Prostituierten, an deren mittelalterlichen Gewerbebetrieb noch  der Name „Rosmariengasse“ erinnert. Das Hurenhaus gehörte dem Rat der Stadt, und die dort eingenommenen Gelder flossen in die Kämmereikasse. Öffentliche Frauen durften sich nur mit verhülltem Gesicht in den Straßen zeigen (vgl. Station 10).

Im 14. Jahrhundert waren zwei Landesherren für Calbe prägend, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, die Erzbischöfe Burkhard (Burchard) III. und Dietrich (Theoderich).

Burkhard III. Graf von Mansfeld-Schraplau kam 1307 auf den Erzbischofsstuhl. Über die Regierungszeit dieses Mannes, der wie Wichmann von Seeburg und Otto von Röblingen (s. Abschnitt 2) dem Grafengeschlecht von Querfurt entstammte, gibt es im Gegensatz zu jenen kaum Gutes zu berichten. Sie ist geprägt von schweren Belastungen der Bürger durch Zollerhöhungen und Gelderpressungen aller Art sowie durch nicht gehaltene Schwüre und wiederholte Vertragsbrüche, durch Gewalt und Machtkriege. Auch seine eigenen Ministerialen empörten sich gegen ihn, als er 1312 auf Befehl des Papstes Klemens V. in seinem Territorium den Orden der Tempelritter auflöste und dessen Vermögen einzog, das u. a. in die Kassen der katholischen Könige von Frankreich und England floss. Der verdienstvolle, aber auch geheimnisumwitterte Orden war in einer Zeit der verstärkten Inquisition in den Verdacht der Ketzerei geraten. Nach Hävecker soll eines der Tempelritterzentren  in Brumby existiert haben.

Durch diese Vorgehensweise und sein Politikverständnis handelte sich der Erzbischof eine gegen ihn gerichtete Militär-Koalition der bedeutendsten Städte seines Erzstiftes - Magdeburg, Halle und Calbe - ein, dem auch der Herzog Otto von Braunschweig sowie die Grafen und Edelherren von Hadmersleben, Mansfeld und Querfurt (- seine eigenen Verwandten -), Hohenstein, Wernigerode, Hakeborn (bei Egeln), Regenstein, Lindau (bei Zerbst) und Barby beitraten. Selbst das eigene Domkapitel (Kollegium der meist aus dem hohen Adel stammenden Domherren) in Magdeburg stand auf der Seite der Oppositionsfront. Die Verbündeten lockten Burkhard 1325 mit Hilfe einer List in seine Magdeburger Residenz,  nahmen ihn dort nach einer üppigen Festlichkeit gefangen und brachten ihn ins Ratshaus in den neuen Keller für Schwerverbrecher. Dort wurde er von den 4 Bewachern, Verschworenen aus Magdeburg, Burg, Halle und Calbe mit einem Eisenriegel erschlagen. Der Verschwörer aus Calbe war der von seinem Erzbischof an den Bettelstab gebrachte Bürger Cupel, der ihn deshalb tödlich hasste. Die  vier Städte, die in Acht und Bann getan wurden, hatten einige Jahre für diese Tat hart zu büßen (vgl. Station 11).

Nachdem er sich in seiner Hauptresidenz nicht mehr sicher fühlte, hatte der Erzbischof zwischen 1314 und 1322 zu seinem „Schutz und zur Sicherheit seiner Stadt Calbe“, aber entgegen dem Willen der Bürger, eine neue „feste Curia“ im Nordosten Calbes errichten lassen. Das war der Vorläufer des späteren, 1945 zerstörten Schlosses. Burkhard hatte wohl ein ganzes Schutzsystem geplant, denn weitere fertiggestellte Burgen waren die von Schadeleben und Hohenwarthe. Bei dem, was dem Regenten vorschwebte, waren die alte Burganlage im Süden vor der Stadt und der Hof an der Stadtkirche, der ehemalige Königshof, nicht mehr ausreichend. Auch hatten diese bei den Fehden und Machtkämpfen des 12. und 13. Jahrhunderts (vgl. oben) zu stark gelitten. Der Ausbau der neuen, den Anforderungen des 14. Jahrhunderts genügenden Burg (Veste) unterblieb aber nach dem gewaltsamen Tod Burkhards. Die Veste des verhassten Regenten verfiel unter tätiger Nachhilfe der Bürger rasch wieder (vgl. Station 11).

Ein Nachfolger Burkhards, Erzbischof Otto von Hessen (Regierung 1327 –1361), übertrug den Bürgern von Calbe eine Insel am damals noch vorhandenen erzbischöflichen Schwarzer Wald und am Bürgerthie „zu dauerndem Eigentum“. Der Thie, das allgemeine, von der germanischen „Allmende“ her stammende Weideland der Stadtbürger (jenseits der Saale zwischen Fischerei und Gottesgnaden), war nach dieser Urkunde zu der Zeit schon in städtischem Besitz. Wann die Regenten den Thie übergaben, ist nicht gewiss. Jedes Jahr wurde mit einer feierlichen Zeremonie die schwimmende Viehherde im Frühjahr hinüber und im Herbst herüber gebracht, ähnlich dem süddeutschen Alm-Auf- und Abtrieb (vgl. Stationen 11 und 21).

Das Kloster „Gottes Gnade“ war im 14. Jahrhundert nicht nur zu einer bedeutenden Wirtschafts-, sondern auch Bildungsstätte geworden (vgl. Station 12); eine Urkunde von 1350 belegt die Existenz einer Klosterschule.

Als 1361 das Domkapitel in Magdeburg den Markgrafen Ludwig von Meißen um Erzbischof wählte, gelang es dem für die Städteförderung so wichtigen Kaiser Karl IV. mit Hilfe des Papstes doch noch seinen damals schon 61jährigen treuen Freund Dietrich (von) Portitz, genannt Kugelweit, auf den Erzbischofsstuhl  zu bringen. Dietrich (Regierung 1361 – 1367) stammte aus einer später geadelten Stendaler Kaufmannsfamilie. 1355 bis 1361 war er von dem in Böhmen gebürtigen Kaiser mit der Aufsicht über die Finanzverwaltung Böhmens betraut und 1360 als Kanzler von Böhmen und damit als dortiger Stellvertreter des Kaisers im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation eingesetzt worden. Nach seiner Wahl zum Magdeburger Erzbischof war Dietrich 1362 für drei Jahre Mitregent des Markgrafen von Brandenburg und damit nach dem Kaiser der wichtigste und mächtigste Mann im Reich geworden. Die Wahl Dietrichs war ein echter Glücksfall für Calbe und die anderen Städte des Erzstifts. In den sechs Jahren als Magdeburger Landesherr hat Dietrich Portitz mehr für Calbe getan als alle Erzbischöfe in hundertsiebzig Jahren vor ihm (vgl. Station 15).

Gleich nach seinem Amtsantritt ließ er den von Burkhard begonnenen Bau der inzwischen verfallenen Veste  wieder aufnehmen (1364). Das Viereck des Schlosses mit Mauern und Gräben wurde zu einem Wahrzeichen Calbes und zu einem beliebten Aufenthaltsort der Landesherren (vgl. Station 11).

Nach dem Bau des neuen Fluchtstützpunktes und der repräsentativen Nebenresidenz der künftigen Erzbischöfe verlor der Hof im Zentrum der Stadt an Bedeutung und wurde in ein freies erzbischöfliches Ministerialen-Gut  umfunktioniert (vgl. Station 8).

Außerdem ließ der kluge Wirtschaftsfachmann die Stadt um etwa die Hälfte der Fläche erweitern. Es wurden neben den schon existenten Stadtbezirken Alter und Neuer Markt die neuen Stadtgebiete „Breite“ und „Ritterstraßen-Viertel“ (heute: August-Bebel-Straße) angelegt und die gesamte Stadtanlage mit einer zweiten, stärkeren und höheren Stadtmauer umgeben. Die Mauern wurden mit Schwibbögen versehen, auf denen die meist überdachten Wehrgänge verliefen. Der Feind- und Brandbeobachtung sowie der Verteidigung dienten 7 Stadttürme. Zwischen den Mauern verliefen Wassergräben und Wälle mit dichten Hecken- und Baumbeständen. Im Mittelalter spielte sich der gesamten Verkehr in die Stadt hinein und aus dieser heraus durch drei Stadttore ab: das Gröpertor, später Schlosstor genannt, im Norden, das Bernburgische Tor (ursprünglich: "Burgtor“) und das Brumbysche Tor. Die zwei zuerst genannten Tore folgten der alten Nord-Süd-Heerstraße, die auch zugleich Handelsstraße war. Das Brumbysche Tor im Westen öffnete den Weg von der Quer- oder Hauptstraße (heute Wilhelm-Loewe-Straße) zur Calbenser Feldmark. In dieser liegenden T-Form waren auch die zwei wichtigsten Straßen angeordnet. Die anderen Nord-Süd-Straßen wurden parallel dazu angelegt und diese wiederum durch kleine Gassen miteinander verbunden. (So sieht das Straßennetz von Calbe im historischen Stadtkern noch heute aus.) Für Kriegs- und Katastrophenzeiten gab es in der südwestlichen Mauer eine kleine Fluchtpforte. Ebenfalls zur Flucht konnten die 5 Wasserpforten genutzt werden (vgl. Station 15), sie dienten aber hauptsächlich der Beschaffung großer Wassermengen zum Löschen der öfters ausbrechenden, teilweise verheerenden Brände (vgl. Station 10).

1364 gestattete der Erzbischof, erstmalig ein städtisches Gasthaus, wahrscheinlich am Alten Markt, mit Ausschank fremder Biere zu betreiben.

Aus Bruchstücken von Stadtrechnungen wissen wir, dass dann 1376/77 ein geräumigeres Rathaus mit Ratskeller am Neuen Markt gebaut wurde. Es war zweistöckig und besaß im ersten Stock einen Tanzboden, der sowohl von der Führungselite als auch von einfachen Bürgern für familiäre und öffentliche Feiern genutzt wurde. Auch Gaukler und Komödianten traten hier auf (vgl. Station 2).

Als am 17. Februar 1382 Erzbischof Ludwig Markgraf von Meißen (Regierung 1381 – 1382) in diesem Tanzsaal mit ca. 300 hohen adligen Gästen von fern und nah die Fastnacht feierte, brach durch Unachtsamkeit der Diener ein Feuer aus. Bei der daraufhin entstandenen Panik zerbarst der Stützbalken der Wendeltreppe, und die Damen und Herren stürzten in die Tiefe. Erzbischof Ludwig und zwei Gäste kamen zu Tode, viele wurden schwer verletzt; ein Ereignis, durch das Calbe plötzlich europaweit bekannt wurde.

1381 war der wahrscheinlich schon seit dem 12. Jahrhundert vorhandene Roland auf dem Alten Markt niedergelegt worden, um seinen Platz vor dem gerade erbauten Rathaus auf dem Neuen Markt zu finden (vgl. Station 2). Das alte Rathaus wurde 1447 erblich an einen Bürger verkauft.

Daneben (Markt 20) besaßen die bedeutenden Gewandschneider und Tuchhändler eigens ein Kaufhaus, das so genannte Theatrum. Die ersten Innungen (Schuhmacher und Fleischer) entstanden. Für sie und die anderen Handwerkerinnungen wurden überdachte Verkaufsstände auf dem Neuen Markt und auf der Nordseite der Kirche errichtet, die „Schernen“ oder „Scharren“ (vgl. Station 2).

1374 gab es in Calbe auch bereits eine mehrklassige Schule für die jüngeren Bürgerkinder, wie aus Stadtrechnungen hervorgeht. Die Lehrer waren Geistliche. Da die Schule zum Kirchspiel der St.-Stephani-Kirche gehörte, unterstand sie ebenso wie diese dem Patronat des Propstes von Gottesgnaden, und damit dem Domkapitel (vgl. Station 7). Die Bürger kämpften in ihrem kommunalen Autonomiebestreben immer stärker darum, die Stadtpfarrer und Schulmeister aus ihren Reihen wählen zu können und nicht vom Domkapitel vorgesetzt zu bekommen. Das gelang teilweise jedoch erst ein Jahrhundert später. 1475 errang der Calbenser Rat einen ersten Erfolg. Als zwischen dem Kloster Gottesgnaden und dem Rat ein Streit um die Einsetzung des Schulmeisters entbrannte, entschied Erzbischof Johann von Simmern (Regierung 1464-1475), dass der Rat den Schulmeister wählen, der Klosterpropst als Domherr jedoch ein Veto einlegen oder ihn dann ins Amt einführen durfte. Bei Meinungsverschiedenheiten entschied der Erzbischof.

Die Schule soll nach dem Heimatforscher Dietrich bei den Schernen an der Nordseite der Stadtkirche gestanden haben (- an der Stelle der heutigen Buchhandlung -).

Ebenso wie die meisten deutschen Städte hatte auch Calbe "seine" Miteinwohner jüdischen Glaubens, deren Existenz in unserer Stadt seit dem 14. Jahrhundert nachweisbar ist.

Nach der gewaltsamen Vertreibung aus ihrer nahöstlichen Heimat in alle Welt im 1. Jahrhundert begannen jüdische Menschen im Mittelalter in Europa neue Existenzen aufzubauen. Religiös, aber hintergründig auch wirtschaftlich motiviert, wurden sie von den Christen als Feinde deklariert. Sie durften keine "ehrbaren" Berufe ergreifen und waren von den Innungen und Zünften ausgeschlossen. So begannen sie sich auf den Kleinhandel, auf intellektuelle/künstlerische Tätigkeiten und auf den Geldverleih (Wucher)  zu konzentrieren. Letzteres war Christen aus religiösen Gründen verboten, bedeutete aber in Zeiten der verstärkt aufkommenden Geldwirtschaft eine Notwendigkeit. Weil sie mit ihrem Geldverleih und den geforderten Schuldzinsen die Notlagen der Leute ausnutzten, wurden die Juden meist verachtete und gehasste Außenseiter der Gesellschaft, die als soziale Sündenböcke fungieren mussten. Von der Kirche oft sanktioniert, machte sich der Hass des Pöbels in Pogromen Luft. Hatte man aber die Juden totgeschlagen, war man (im wörtlichen Sinn) mit einem Schlag seine Schulden los.

In Mafia-Manier hielten sich die Fürsten ihre so genannten Kammer-, Hof- oder Schutzjuden, die niemand anrühren durfte, die aber dafür als Finanziers den fürstlichen Reichtum vermehren oder "Schutzgeld" in die stets leeren Kassen der Landesherren zu zahlen hatten. Darüber hinaus gab es Toleranzjuden, die zu arm waren, Schutzgelder zu zahlen, die man aber duldete, weil sie einen großen Teil des Landhandels abwickelten. Völlig ungeschützt waren die illegal lebenden armen Betteljuden.

Die jüdische Bevölkerung musste im Mittelalter besondere Kleidung tragen (spitze Hüte und gelbe Mäntel) und in abgesonderten Vierteln wohnen. Das Wort Ghetto stammt entweder aus dem Hebräischen (=Absonderung) oder aus dem Italienischen (=Gasse, ärmlicher Wohnbezirk). Im Jiddischen, einer aus dem Mittelhochdeutschen entstandenen Sprache, heißt das Juden-Viertel "Stetele".

In Calbe lagen diese Viertel in einem Teil der Tuchmacherstraße und in der Gasse "Am Wassertor". 1371 erwarben 19 Neubürger das Bürgerrecht in Calbe, darunter vier Juden bzw. jüdische Familien. Dass Juden das Bürgerrecht erwerben konnten, wirft ein positives Licht auf die politischen und geistigen Verhältnisse während der Zeit der großen Prosperität Calbes in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Auch 1392 gab es noch jüdische Bürger in Calbe, denn eine Verordnung Erzbischof Albrechts  III. von Querfurt (s. oben) gestattete ihnen nur zusammen mit den Knochenhauern (Fleischern) Vieh zu schlachten, mit Ausnahme der Fastenzeit. Hundert Jahre später, vielleicht unter dem Eindruck der großen Pest-Pandemien (vgl. Abschnitt 4), war von dem bürgerlichen Miteinander und der Toleranz nichts mehr zu spüren.

1493 wurden in einem besonders schäbigen Schachzug des Erzbischofs Ernst von Sachsen (Regierung 1476-1513) alle Juden nicht nur aus Calbe, sondern auch aus dem gesamten Land Magdeburg vertrieben, ihr Besitz und Vermögen aber, auch ihre jüdische Schule, vom Erzbischof an die Calbenser Bürger verkauft !!! Dadurch konnte der Ratsherr Hans Kytzig 1512 die leer stehende Schule erwerben und zum Privathaus ausbauen (vgl. Station 4).

Die Funktion des Geldverleihers übernahm nun wohl in einigen Fällen das Kloster Gottesgnaden, denn aus einem Aktenbeleg von 1516 wissen wir, dass ein Höriger aus Schwarz 30 Gulden zu 5 Prozent Zinsen geliehen bekam.

Durch den Aufschwung bürgerlichen Selbstbewusstseins nach dem kommunalen Aufschwung unter Dietrich von Portitz kam es auch zu einer ersten Konjunktur des Schützenwesens. Das Recht auf Selbstverteidigung gehörte zu den Grundrechten und -pflichten einer mittelalterlichen Stadt. Schon im 13. Jahrhundert wurden die Calbenser Bürger zum Waffendienst verpflichtet. Zu dem, was ein neuer Meister vorweisen musste, gehörten eine eigene Waffe (Armbrust) und ein Harnisch, auf dem das Innungswappen eingraviert war. Die großen Waffen, z. B. Wurfmaschinen, wurden von der Stadt gekauft. Schon früh gab es Schützenmeister, die gegen ein festes Einkommen die Instandhaltung der Kleinwaffen besorgten. Für die Funktionstüchtigkeit der großen Waffen waren die Balistarii verantwortlich. Die Verteidiger waren in Schützengilden zusammengeschlossen, die ständig und in regelmäßigen Abständen Vergleichswettbewerbe veranstalteten (Schützenfeste). Beim Schützenfest 1387 war der erste Preis "die Jungfrau", wahrscheinlich eine Marien-Statue, die wie ein "Wanderpokal" von Siegern zu Siegern herumgereicht wurde. Die Schießübungen der vom erzbischöflichen Landesherrn bestätigten Calbenser Schützengilde fanden anfänglich auf dem Schlossanger am Mägdesprung statt. Hier stand die "Vogelstange", denn damals wurde mit der Armbrust auf einen Vogel aus Spanholz geschossen (vgl. Station 15).

Im Norden vor der Stadt bildete sich im Laufe des 15. Jahrhunderts die dörfliche Schlossvorstadt-Siedlung aus den vereinzelten Hütten der „Gröperei“ (Töpferei) und „Ketzerei“ heraus (vgl. Station 13). Durch die großzügige Stadterweiterung war es möglich geworden, weitere vermögende Bewohner aus den umliegenden Dörfern Bürger von Calbe werden zu lassen. Wer in die Stadt ziehen wollte, musste Bürgergeld, Einzugsgeld und Geld für ein Bürgermahl (aber nur für den Rat) bezahlen, für manchen Handwerker oder Bauern ein Jahreseinkommen (vgl. Station 2).

Der Wüstungsprozess schritt unaufhörlich voran. Wüste Stellen strich der Rat von Calbe für die Stadt ein und vergab sie an interessierte Bürger. Diese mussten dann nach einigen Freijahren auch die üblichen Steuern zahlen. So wuchsen durch den Wüstungsprozess auch die Einnahmen der Stadtkasse.

Spekulationen mit wüsten Stellen und Grundstückswucher durch Erben waren bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht möglich. Die Calbenser verstanden sich als „Geburschaft“, als genossenschaftliche Gemeinschaft von hier Wohnenden und Schaffenden.

Viermal im Jahr fand eine öffentliche Bürgerversammlung (Burthing) in Calbe statt.

Der Rat bestand im 14. Jahrhundert aus dem Bürgermeister, dem Kämmerer (Finanz- und Wirtschaftsfachmann) und zwei Ratsherren. Er musste jährlich von den Ratsmannen gewählt werden, wobei auch der Ministeriale des Erzbischofs, der Vogt, ein entscheidendes Stimmrecht hatte.

Die Stadt Calbe hatte also auch in dieser Zeit noch nicht die Autonomie von ihrem Stadtherren errungen, Grundlage für permanenten stadtpolitischen Konfliktstoff.

Außerdem waren die ebenfalls vom erzbischöflichen Vogt beaufsichtigten Innungen grundsätzlich von einer Mitregierung im Rat ausgeschlossen. Die Geschicke der Stadt bestimmte also lediglich eine kleine Oligarchie, bestehend aus niederen Adligen und vermögenden Großhändlern, in größeren Städten oft als Patriziat bezeichnet. In Calbe nannten sie sich die „optimi cives“, die besten Bürger. Und selbst diese Oberschicht war auf die Gunst des Stadtherrn angewiesen. Da aber das Handwerkertum immer mehr wuchs und an wirtschaftlichem Einfluss gewann, wollte die städtische Mittelschicht früher oder später auch an der Stadtregierung teilnehmen. Das aber sollte noch mehr als ein Jahrhundert dauern (vgl. Station 2).

Von 1381 bis 1499 schrieben die ebenfalls aus der Oberschicht stammenden Schöffen von Calbe alle rechtlichen Entscheidungen des Stadtgerichts im „Wetebuch“ (Weisungsbuch) auf.

Über Schuld und Unschuld, über Leben und Tod und über das Strafmaß befanden der vom Vogt eingesetzte Stadt- und Landrichter (eine Person) und die berufenen 5 Schöffen.

Bei kleineren, fast alltäglichen Streitfragen ging man bis ins 16. Jahrhundert hinein zum „Freien Stuhle“ am Bernburger („Burg“-) Tor, dem so genannten Ältestengericht (s. oben).

Für die Ausführung der Bestrafung bei kleineren Delikten wurden Stadtdiener oder Stadtknechte eingesetzt.

In diesen Fällen kam als Gefängnis der Tanzboden im ersten Stock des neu erbauten Rathauses in Frage, der „Stock“ oder nach seinem ersten Delinquenten Stephan Bars der „Bars“ genannt. Besonders demütigend war die stunden- oder tagelange Fesselung an den Pranger oder „Kak“. Diese „Schandsäule“ war neben dem Roland angebracht. Der Pöbel konnte die angeketteten Prangerstehenden mit allem Unrat bewerfen, sie bespeien, bekoten und an“pieseln“. Deftige diesbezügliche Ausdrücke weisen auch heute noch auf diese Strafform hin. Bei leichteren Vergehen, wie zum Beispiel einer losen Zunge, wurde Küchendienst im Ratskeller angeordnet (vgl. Station 2).

Bei Totschlag, beispielsweise bei einer Schlägerei mit tödlichem Ausgang, galt sogar noch im Spätmittelalter ein aus germanischer Zeit stammender Brauch. In früher Zeit stand ein Sühnevertrag zwischen zwei Sippen, wenn ein Mann einen Mann aus einer anderen Sippe erschlagen hatte. Normalerweise löste das einen Rachefeldzug der einen gegen die andere Sippe aus. Durch Sühneabreden und Sühneverträge konnte die Fehde aber abgewendet werden. Kam ein Sühnevertrag zustande, hatte der Täter gewöhnlich neben anderen Sühneleistungen an die Angehörigen des Getöteten eine Abfindung (Wergeld = Manngeld) zu zahlen. Erst nach dem Inkrafttreten der Consitutio Criminalis Carolina von 1532, der Hals- oder Peinlichen Gerichtsordnung Karls V., wurde der Brauch, Sühneverträge zu schließen, durch staatliches Strafrecht abgelöst.

Durch den immer stärker werdenden Einfluss der Kirche im Mittelalter verlagerte sich der Schwerpunkt der Sühneleistungen auf die Fürsorge, die der Täter für die Seele des plötzlich ohne die Sakramente der Kirche Verstorbenen zu übernehmen hatte. So musste er sich zum Beispiel verpflichten, Messen für den Toten lesen zu lassen und Wallfahrten durchzuführen. In einer Reihe von Sühneverträgen ist auch nachzulesen, dass für den Getöteten ein Kreuzstein (Stein mit eingemeißeltem Kreuz) beziehungsweise ein Steinkreuz gesetzt werden musste, damit an dieser Stelle für das Seelenheil des Toten gebetet werden konnte.

Wie sehr solche Traditionen unbewusst in der "Seele" eines Volkes, auch in unserer "modernen" Zeit verwurzelt sind, zeigt der Brauch, Kreuze an der Stelle zu errichten, wo ein Mensch "eines plötzlichen und gewaltsamen Todes" durch einen Verkehrsunfall gestorben ist.

Auch in der Calbenser Geschichte sind solche Sühneverträge nachweisbar. 1471 erschienen vor dem Rat der Stadt der Gutsherr Cone aus Groß-Salze (Schönebeck) und sein Schwager, der mit einem Gut in Brumby belehnte Kaspar Homburgh auf der einen Seite und von der geschädigten Partei Jacob und Heyne Rinth, Verwandte des von Cone erschlagenen Steffen Rinth. Beide Parteien schlossen einen Vergleich, in dem Cone an die Rinth-Partei 30 Schock (1800) Groschen zahlte, eine Summe, für die man 1473 ein Haus bekam. Im Gegenzug beschwor die Partei des Erschlagenen, keine weiteren Forderungen an die Cone-Partei zu richten und sie nicht weiter zu belangen (vgl. Station 22). Ist das Steinkreuz in der Nienburger Straße der kirchliche Sühnestein zu diesem juristischen Vergleich?

Noch 1531 wurde ein wenig mehr, nämlich 15 Gulden, an Wergeld für einen Totschlag an dem Bürger Drewes Müller von Jorge Dewen an den Bruder und die Mutter des Toten gezahlt.

Schwerverbrecher mussten im Burgfried, dem später so genannten „Hexenturm“ einsitzen. Oft wurden sie  von dort aus zum Schaffott, zum Galgen, zum Rad oder zum Scheiterhaufen gebracht.

Dafür war der Henker, auch Scharf- oder Nachrichter genannt, zuständig. Die entsprechenden Hinrichtungsstätten, die Galgen- und die Radelbreite befanden sich in einer Entfernung von jeweils etwa einem Kilometer westlich und nördlich vor der Stadt. Auch die Scharfrichterei (heute Schlossstraße 75), wo der Henker und seine Knechte wohnten und außerdem dem Abdecker-Gewerbe nachgingen, lag in der Nähe der nördlichen Stadtmauer vor der Stadt. Als städtischer Bediensteter wurde der Henker und „Schinder“ jedoch nicht als Vorstädter behandelt.

Aus einer Brennholzrechnung wissen wir, dass im Jahre 1381 die Calbenserin Elisabeth (Bete) Peckers auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde (vgl. Station 1). Handelte es sich um einen ersten frühen Fall von Hexenwahn, auf den im Abschnitt 4 eingegangen wird, oder war die Delinquentin eine Brandstifterin?

Nach dem Glücksfall der Regierung Dietrichs von Portitz brachen wieder schlimme Regentschafts-Zeiten an. Nach dreijähriger Misswirtschaft im Lande, während der er mehr als 3000 Höfe ruiniert hatte und auch noch das Calbenser Schloss abgebrannt war, gab Erzbischof Albrecht II. von Sternberg (Regierung 1368 - 1372) auf, nicht ohne bei seiner Flucht nach Böhmen einige wertvolle goldene Reliquien aus den Trümmern des Schlosses mitgehen zu lassen. Als die Stadt Magdeburg Krieg mit Erzbischof Peter Jelyto führte, einem vormals böhmischen Bischof (Regierung 1372 - 1381), versteckte er sich abwechselnd in Schönebeck, Calbe, Wanzleben und anderen Städten. 1376 mussten die vertriebenen Beamten des erzbischöflichen Gerichts sogar ihre Kanzlei ins Schloss Calbe verlegen. Erzbischof Albrecht III. von Querfurt (1382-1403) verpfändete zwar zweimal das Schloss, war aber ansonsten durchaus ein Förderer der Stadt, er tat in Calbe einiges für das entstehende Innungswesen.

Einen bösen und blutigen Verlauf für die Stadt nahm die Entwicklung unter Erzbischof Günther II. Graf von Schwarzburg (1403-1445). Er war ein streitsüchtiger, eigenwilliger Mann, der statt der vorgeschrieben Tonsur der Geistlichen stolz seine blonde Lockenmähne trug und während seiner gesamten Erzbischofszeit nie eine Messe gelesen hatte, wahrscheinlich, weil er das gar nicht konnte. Stattdessen konnte er umso besser das Schwert führen.

Da die Schwarzburger mit den Askaniern in Fehde lagen, war mit dem Regierungsantritt Günthers der Krieg vorprogrammiert. Gleich nach der Besteigung des Bischofsstuhls brach Günther – nicht gerade zur Freude der Calbenser - einen Krieg mit Fürst Bernhard von Anhalt-Bernburg, dessen Bruder, Bischof Rudolf von Halberstadt, und deren Vettern, den Fürsten von Anhalt-Zerbst und Anhalt-Köthen vom Zaun. Bei solchen Kriegen wurden, spätmittelalterlichen Militärgrundsätzen folgend, den Gegnern die Wirtschaftsbasen, also hauptsächlich die Städte, durch Brandschatzung und Plünderung zerstört. Der von beiden Seiten mit großer Erbitterung geführte Raubkrieg führte zur Verwüstung besonders der Gegenden um Zerbst und Magdeburg.

1404 misslang ein Überfall der Erzbischöflichen auf Nienburg, 1406 versuchten die Anhaltiner das reiche Kloster Gottesgnaden auszuplündern. Dabei wurden sie jedoch vom erzbischöflichen Schlosshauptmann (Schlossvogt) Balthasar von Wenden zurückgeschlagen (vgl. Stationen 11 und 12). 36 askanische Ritter fielen in seine Hände, eine gute Basis für einträgliche Lösegeldsummen. 1407 wurde im Calbenser Schloss der Friede geschlossen. Der nach dem Prinzip der „verbrannten Erde“ geführte Krieg hatte keiner Seite Vorteile gebracht, dafür aber viel Unglück und Leid für die Menschen in Anhalt und im Magdeburger Land.

1414 gelang es Erzbischof Günther gemeinsam mit Kurfürst Friedrich I. von Hohenzollern, die rebellische brandenburgische Ritterschaft zu besiegen. Dabei wurde der berüchtigte Raubritter Hans von Quitzow in Plaue bei Brandenburg gefangen genommen und im Turm der Schloss-Veste Calbe inhaftiert. Nach zwei Jahren machte er seinen Frieden mit dem Kurfürsten und konnte, neu belehnt mit seinen Gütern, in die Prignitz zurückkehren. Der notorische Mordbrenner und Räuber unternahm nun bis an sein friedliches Lebensende blutige Plünderungszüge gegen mecklenburgische Städte und Dörfer (vgl. Station 11).

Das Raubritterunwesen war für die aufblühenden Städte ein Problem, das sie oft auch allein lösen mussten. 1381 hatten Mannschaften aus Calbe an der Zerstörung des Rauritternestes Schloss Truflingen (bei Helmstedt) und an der Belagerung des ritterlichen Gefahrenherdes Paytorf teilgenommen (vgl. Station 15).

Noch größeres Unglück als 1404 bis 07 kam über unsere Gegend, besonders über Calbe, als der zänkische und kriegerische Erzbischof 1432 mit der Stadt Magdeburg wegen seiner Ungerechtigkeiten in Streit geriet. Nachdem er die bedeutende Stadt mit dem Bann belegt hatte, verließ Günther schleunigst seinen erzbischöflichen Sitz und hielt sich nun in seinem Lieblingsschloss Calbe auf. Da seine Kassen immer leer waren, versuchte er, den Krieg durch Pfand-Anleihen bis zu 10 000 Gulden zu finanzieren. Um später seine verpfändeten Besitzungen wieder einlösen zu können, musste der Erzbischof erneut Plünderungszüge unternehmen, aber die Gegenseite tat nun auch das gleiche, um ihn zu schädigen, eine grausame Spirale der Gewalt. Die Magdeburger hatten eine gewaltige Mannschaft unter ihren Fahnen, die wie eine Walze gegen die erzbischöflichen Städte und Schlösser vorging. Dem Heer hatten sich auch der Herzog von Braunschweig und der Bischof von Brandenburg angeschlossen. Nachdem Tucheim (bei Burg) gefallen war, wandten sich die Magdeburgischen Truppen gegen Calbe. Da die beiden Städte aber oft schon Verbündete gewesen waren, schickten die Magdeburger einen Brief an die Calbenser, in dem sie die Schandtaten des Erzbischofs aufzählten und die Bürger aufforderten, sich ihnen gegen Günther anzuschließen. Das aber konnten die Calbenser nicht, weil die Stadt fest in der Hand des Erzbischofs und seiner Truppen war. Am 16. Oktober 1433 früh begann der Kampf am südlichen Tor, mittags versuchten die Magdeburger und ihre Verbündeten den Sturm auf die Stadt. Aber die Bürger und die erzbischöflichen Truppen leisteten erbitterten Widerstand. Der martialische Erzbischof selbst stand auf dem Turm am Südtor und schoss auf die Stürmenden. Bis in die Nacht hinein beschossen die Belagerer die Stadt mit Kanonen, wobei sie viele Gebäude zerstörten und wahrscheinlich auch die St.-Stephani-Kirche schwer beschädigten. Als die Verteidiger einsahen, dass sie gegen die Übermacht nicht mehr lange bestehen konnten, leitete der Erzbischof in der späten Nacht die Kapitulationsverhandlungen ein. In den frühen Morgenstunden  des 17. Oktober wurde Calbe übergeben. Der Erzbischof musste nach 2 Stunden, während der er in einen Schlaf der Erschöpfung fiel, mit seinen Geistlichen und Soldaten unter freiem Geleit Schloss und Stadt verlassen. Rat und Bürger von Calbe schworen nun den Magdeburgern den Treueid, wofür sie in ihren bisherigen Rechten belassen wurden. Die üppige Beute schleppten die Sieger auf 480 Wagen aus Calbe fort (vgl. Station 11). Das Schloss wurde bis auf weiteres dem Rat der Stadt übergeben. Schon am 18. Oktober eroberte das vereinigte Heer der Magdeburger Staßfurt, danach Salze und Schönebeck und andere erzbischöfliche Besitzungen. Der vertriebene Erzbischof rächte sich am „Verrat“ seiner Lieblingsstadt, indem er sie mit dem Bann belegte. Als er 1434 versuchte, sein Schloss in Calbe entgegen den Abmachungen und den Rechten der Stadt weiter zu befestigen, rückten sofort die Magdeburger an, sprengten den unrechtmäßigen Turm und zerstörten Teile der Schlossmauer. 1435 wurde endlich im Kloster Neuwerk bei Halle (heute innerhalb Halles) Frieden geschlossen und Calbe auf Betreiben des Papstes vom Bann erlöst. Der wirtschaftliche und kulturelle Schaden in unserem Gebiet war bedeutend, und auch der hoch verschuldete Erzbischof musste sein geliebtes Schloss in Calbe für 500 rheinische Gulden an Klaus von Trotha verpfänden. 1439 konnte er es wieder einlösen.

Trotz seiner „Enttäuschung“ hielt sich der Erzbischof wieder sehr oft im Calbenser Schloss auf.

Erzbischof Günther konnte gegen Ende seiner Regierung noch etwas Gutes für die Entwicklung Calbes tun. Am 20. März 1439 schlossen sich 6 Fischer aus der Bernburger Vorstadt zur "St.-Nicolai-Brüderschaft des armen heiligen Geistes" zusammen. Da aber die St.-Nicolai-Kirche innerhalb der Stadt lag (s. oben), hatte man in der Vorstadt-Kirche St. Laurentii einen eigenen geweihten Altar St. Nicolai errichtet. Auch die Frauen der Brüder, Schwestern genannt, waren in diesen Bund einbezogen. Wer als Fischer oder Fischerknecht in die Gemeinschaft eintreten wolle, solle vor dem erzbischöflichen Vogt und den Vorstehern der Brüderschaft geloben, mindestens ein Jahr in der südlichen (Bernburger) Vorstadt zu wohnen. Gleich am nächsten Tag, dem 21. März, bestätigte der Erzbischof, welcher sich gerade in Gottesgnaden aufhielt, die Fischer-Brüderschaft und verlieh ihnen ausdrücklich das Recht, Mitglieder nach eigener Wahl und mit Einverständnis des erzbischöflichen Vogtes in ihren Bund aufzunehmen. Er wusste wahrscheinlich, was es bedeutete, den hörigen Fischern aus einer Dorfgemeinde zu gestatten, eine durch den Landesherrn geschützte Fischer-Genossenschaft zu gründen. Vom Rat der Stadt ist nach Urkundenlage wohl keine Unterstützung dazu gekommen, man sah in der Brüderschaft eher die Entstehung einer Vorstadt-Innung.

Im Hochmittelalter war ein Differenzierungsprozess innerhalb der Fischerschaft, die in der im 2. Abschnitt erwähnten Bernburger Vorstadt wohnte, vor sich gegangen. Die Großmeister (Garnherren), zu denen die Genossenschafts-Brüder gehörten, fischten mit großen Netzen in den besten Fangzonen, während die einfachen Fischer mit "kleinem Zeug" das abfischen mussten, was übrig blieb. Sie nannte man "Kleinzauer". Als Hörige des Erzbischofs waren die Fischer auch zu anderen Diensten verpflichtet. Sie waren für die Instandhaltung der Hochwasser-Schutzdämme und des Wehres, die Beseitigung der flussnahen Hochwasser- und Eisschäden sowie die Beobachtung des Wasserstandes und der Eisbewegungen zuständig. Außerdem hatten sie für den Schutz der Brücken Vorsorge zu treffen. Durch die oft gewaltige Schäden verursachenden Hochwasser gab es für die Fischer viel zu tun. Auch für den reibungslosen jährlichen Vieh-Auf- und Abtrieb über die Saale waren sie verantwortlich.

Die Gründung der Fischer-Brüderschaft war der Beginn einer beachtlichen Entfaltung des Calbenser Fischereiwesens, die erst 1945 beendet wurde. Die Fischereibrüder brachten es durch ihre Genossenschaft im Mittelalter (und auch später) zu beachtlichem Wohlstand, obwohl sie de jure in der  feudalen Hierarchie dörfliche Hörige und Leibeigene und keine Bürger waren. 1516 konnte der Vorsteher der „St.-Nicolai-Brüderschaft der Fischer“ sogar schon zusammen mit sechs anderen Bürgern dem Rat der Stadt Calbe 100 Gulden leihen. Im Verlaufe der Jahrhunderte verschwanden die Unterschiede schleichend, und nur kleine Zinspfennige erinnerten noch an die einstige Erbuntertänigkeit der Fischer (vgl. Station 21).

Die Nachfolger Günthers II. von Schwarzburg  hielten sich ebenso wie dieser sehr oft im Calbenser Schloss auf, denn sie schätzten die „liebliche Landschaft um Calbe“. Unter Friedrich III. Graf von Beichlingen (Regierung 1445-64) wurde das Schloss erweitert und umgebaut. Laut einem Nachlassverzeichnis von 1464 gab es nun eine Silberkammer, eine untere Kammer, je ein unteres und oberes heizbares Zimmer, einen großen Saal („Mushaus“), die Kapelle, die Küche, die Speisekammer und den Keller. Trotz allem immer noch ein recht kleines Nebenresidenz-Schloss. Deshalb musste ein Teil der Verwaltungsarbeit der Schlossvogtei immer noch in den alten Freihof im Zentrum der Stadt ausgelagert werden.

Erst Erzbischof Ernst von Sachsen (s. oben) zog als kurfürstlicher sächsischer Prinz immer mehr das von ihm errichtete Schloss Moritzburg bei Halle vor.

Das Schloss in Calbe wurde nun der Schauplatz teilweise recht bedeutender ständischer Landtage, deren Tagungen im großen Saal stattfanden. Spätmittelalterliche Landesfürsten regierten unter Mithilfe der Stände (Geistlichkeit, Ritterschaft und Städte), von denen sie oft Geld zur Finanzierung ihres aufwändigen Lebens- und Regierungsstils gegen einige Zugeständnisse verlangten. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landtage haben also sehr wenig mit den heutigen Landtagen demokratischer Prägung zu tun (vgl. Station 11).

Für die Wirtschaft der Stadt Calbe bedeuteten solche Versammlungen der ständischen Vertreter einen erheblichen Aufwind, denn die vielen Männer von Rang und Namen, sofern sie nicht auf dem Schloss untergebracht waren, aßen und tranken gut. Auch die Bader und die Huren hatten viel zu tun.

Der Freihof im Stadtkern gehörte seit 1446 dem Ritter Simon Hake auf Kitzen (Stammgut bei Weißenfels). Das Rittergut, wie der ehemalige Königshof (vgl. Abschnitte 1 und 2) später genannt wurde, war eine wirtschaftliche und juristische Enklave inmitten der Stadt, u. a. mit eigener niederer Gerichtsbarkeit innerhalb ihres Hoheitsgebietes. Der Rat der Stadt aber legte großen Wert darauf, dass die Rittergutsbesitzer, sobald sie sich im Rechtsraum der Stadt bewegten, strikt an die kommunalen Verordnungen und Gesetze hielten. 1451 schrieb die Stadtordnung vor, dass keiner einen eigenen Viehhirten besitzen durfte. Dieser Artikel war z. B. wiederholter Streitpunkt mit den Rittergutsbesitzern gewesen. "Keiner von Adel oder welcher solche Güter gepachtet hat, ist befugt gewesen, einen eigenen Hirten zu halten, sondern mußte sein Vieh unter die allgemeine Hut treiben", schrieb Hävecker. In der Folgezeit nahmen die Reibereien der bürgerlichen Stadtverwaltung mit dem erzbischöflichen Schlossamt (Vogtei), aber auch mit dem Rittergut immer mehr zu, denn oft waren Vögte und Gutsbesitzer eng miteinander verwandt oder sogar identisch wie im Falle von Simon Hacke.

Diese Zwistigkeiten waren Ausdruck einer neuen Etappe im Kampf um städtische Autonomie. In der Mitte des 15. Jahrhunderts kam das gewachsene Selbstbewusstsein der Bürgerschaft immer stärker zum Ausdruck.

Als Erzbischof Ernst von Sachsen 1511 Simon Hacke (Schlosshauptmann 1498 – 1520), einen Nachkommen von Simon Hake,  mit dem „Freihof binnen der Stadt Calbe gelegen“ belehnte, hatte das Rittergut einen beachtlichen Besitzumfang angenommen. Zu ihm gehörten 510 Morgen Ackerland, dazu einige  Splitterflächen (so genannte Gerne),  mehrere Wiesen, der Wall im Süden vor der Stadt, eine „Breite unter dem Mägdesprung“ im Norden, 6 hörige Bauernhöfe in der Schlossvorstadt und ein Freihof in Zuchau. Als Zeichen der eigenen niederen Gerichtsbarkeit war ein Pranger-Halseisen am Rittergutshaus Ritterstraße Nr. 1 angebracht.

Als der vom Erzbischof eingesetzte Stadt- und Land-Richter 1451 eigenmächtig ein Urteil fällte und ausführen ließ, schritt der Rat ein und machte die Strafe rückgängig. Eigenmächtigkeiten der Beamten des Stadtherrn wurden nicht mehr geduldet. Der erzbischöfliche Richter durfte nur unter Hinzuziehung der bürgerlichen Schöffen Urteile fällen und sie dann vollstrecken lassen (vgl. Station 8).

Im Laufe der städtischen Entwicklung hatten sich durch freiwilliges Übereinkommen der Bürger bestimmte Satzungen und Vorschriften herauskristallisiert, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts (genaues Jahr unbekannt) in 71 Rechtsartikeln niedergeschrieben wurden. Diese Sammlung innerstädtischer Vorschriften wurde „Willkür“ (etwa: freier, eigener Wille) genannt. In dieser wurde dezidiert die eigene Gerichtsbarkeit herausgestrichen. Für Bürger von Calbe konnte kein anderes Gericht, auch nicht das erzbischöfliche, zuständig sein. Vollbürger durften eine Waffe - Schwert oder Dolch - wie ein Adliger tragen. Für Verletzungen der Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit waren Strafen festgelegt.

Auch die Einführung der „Willkür“ in der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigte, dass die Bürger der Stadt Calbe bei der Erringung kommunaler Selbständigkeit nun ein Stück vorangekommen waren.

Nach der Kanonade vom Oktober 1433 mussten die Calbenser wohl daran gehen, ihre Stadtkirche St. Stephani wieder aufzubauen. Dabei werden sie sich zu einem neuen geräumigeren Bau entschlossen haben, denn 1475 wurde eine größere spätgotische Hallenkirche unter Einbeziehung von Teilen der älteren frühgotischen Kirche eingewölbt, und 1495 der Schlussstein gesetzt. Die Breite des Kirchenschiffes innen beträgt 18,7 m, die Höhe 13,7 m und die Länge 29,2 m. Die Türme einschließlich der Spitzen bringen es auf eine Höhe von 57,3 m. Nach Abschluss der Arbeiten setzte man noch im gleichen Jahr vor den rechten Eingang an der Südseite einen kapellenähnlichen Sandstein-Vorbau mit Backsteinverzierungen, später Wrangel-Kapelle genannt. Er war von der Amtmann- und Freihofbesitzer-Familie Hake (Hacke) (vgl. oben und unten) gestiftet worden, deren  Wappen an den Giebeln zu sehen ist.

In dieser Form steht die Stadtkirche bis auf den heutigen Tag als Wahrzeichen im Zentrum Calbes (vgl. Station 5).

Das neue Rathaus von 1377 (s. oben) wurde laut Rechnungen von 1449 ebenfalls wieder aufgebaut, ein Hinweis darauf, dass es beim Beschuss durch die Magdeburger wie die Kirche gelitten haben musste.

Auch im 15. Jahrhundert hielt der Zuzug von Neubürgern aus verlassenen Dorfstellen nach Calbe an.

Manchmal gelang es den Dorfbewohnern, auf Grund ihrer Ersparnisse geschlossen in die Stadt überzusiedeln. Die Bauern der Dörfer Balberge und Jesar, 2 und 4 km südlich vor Calbe, zogen in die nahe gelegene Stadt Calbe, ein Teil der Jesarer nach Nienburg. Dort  bildeten sie geschlossene Gemeinschaften, die Bauernkonvente. Diese gehörten zu den wohl merkwürdigsten Erscheinungen des Spätmittelalters. Die Ursache dafür lag in der Tatsache, dass die hörigen Bauern dieser Dörfer ebenso wie die Leibeigenen zur „Familia sancti Cyriaci“, zur außergewöhnlichen Klosterfamilie des heiligen Cyriakus, gehörten und damit unter dem Rechtsschutz der Äbtissin standen. Der Balbergische Konvent in Calbe bestand aus Bauern der im 15. Jahrhundert verlassenen Dorfstelle Balberge bzw. deren Nachfahren; Hinweise auf seine Existenz gab es 1434, urkundlich erwähnt wurde die Gemeinschaft 1505. Die Konventsakten sind leider im Dreißigjährigen Krieg vernichtet worden, aber einiges hat uns der Chronist Hävecker 1720 übermittelt. Die städtische Bauerngemeinde nannte sich nach dem alten Dorf-Patronat des Cyriaks-Stifts in Gernrode auch „Genossenschaft des heiligen Cyriakus“ und besaß eine eigene Lade. Diese Sondergemeinde bestand aus 12 Bauermeistern, aus deren Mitte jedes Jahr ein Vorsteher gewählt wurde, den Ältesten (- das waren die übrigen Bauern -), dem Schreiber und den beigeordneten Knechten. Sie besaß eine eigene Satzung und führte Prozesse auf genossenschaftlicher Basis. Der jeweils vorsitzende Bauermeister war der Vollversammlung verantwortlich.

Wegen ihrer ungewöhnlichen Zwischenstellung als Bauern und Bürger  mussten die "Balberger" einerseits dem Erzbischof als dem Stadtherrn Steuern zahlen und andererseits dem weltlichen (Fürst von Anhalt) und dem geistlichen Grundherren (Stift Gernrode) zinsen. 1547 kam sogar noch eine Kaisersteuer dazu.

Auch die Bürger, die nicht zur Genossenschaft gehörten, aber außer ihrem Gewerbe noch Ackerbau in der Calbenser Feldmark betrieben, setzten Bauermeister ein, die aber nichts mit den Balbergern zu tun hatten und die als eine Art Feldpolizei auf die Einhaltung der Acker- und Weidegrenzen achten mussten.

Wie wir bemerkt haben, hatte im 15. Jahrhundert eine Revolution im Militärwesen stattgefunden; die Feuerwaffen begannen alte Befestigungssysteme in Frage zu stellen. Für diese neuartigen Waffen wurden große Mengen Schwarzpulver benötigt, und zu dessen Herstellung besonders der Hauptbestandteil Salpeter. So tauchten im 15. Jahrhundert auch die Salpeterhütten als Lehen der Landesherren auf. 1419 wurde unter Erzbischof Günther II. von Schwarzburg (s. oben) eine solche erwähnt. Sein Nachfolger Friedrich II. von Beichlingen (s. oben) verpachtete 1455 die "Salpeterhütte vor Calbe" an einen Magdeburger Ministerialen. Später kam die Hütte auch in bürgerliche Hände. Sie war am nördlichen Ende der neu entstandenen Schlossvorstadt errichtet worden (heute Schlossstraße 42). Als Zins mussten jährlich zwei Tonnen Salpeter abgeliefert werden. Den Pächtern war inzwischen erlaubt worden, im ganzen Calbeschen Bereich Salpeter zu sammeln. So ging es auch im 16. Jahrhundert weiter, die Hütte blieb ein erzbischöfliches Lehensgut.

Nichtmineralisches Salpeter entstand besonders aus Harn, durch Abbau und Verwesung organischer Stoffe bzw. durch die von Bakterien bewirkte Nitrifikation. Im so genannten Erdhaus wurden an dafür errichteten Tonziegel-Mauern, an mit Exkrementen angereicherten Erdhaufen und an speziellen Dunggruben, die mit Urin und den Verwesungsprodukten aus der Abdeckerei (s. oben) gefüllt waren, die weiß-glänzenden Kristalle des Kaliumnitrats "gezüchtet", die man abkratzte und im Siedehaus in Pfannen weiterverarbeitete. Deshalb hieß die Salpeterhütte auch die Salpetersiederei (vgl. Station 13).

Dem Bier als einem bedeutenden Lebens- und Genussmittel kam im Mittelalter eine herausragende Bedeutung zu. Obwohl Bier schon seit dem frühen Mittelalter gebraut wurde, wissen wir erst seit dem Spätmittelalter genaueres über die kommunale Organisation des Brauens in unserer Stadt. Das mittelalterliche Bierbrauen war eine existentielle Angelegenheit. Wegen der schlechten hygienischen Bedingungen war Wassertrinken oft lebensgefährlich, und Bier gehörte damals zu den Grundnahrungsmitteln (vgl. Station 4). Bier brauen aber durfte nach der Willkür (s. oben) nur, wer mindestens drei Gulden Vermögenssteuer zahlte, also zu den Reicheren gehörte. Das betraf in Calbe mehr als hundert Familien, also etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung zu jener Zeit. Das Brauen war jedem Bürger nur alle neun Wochen gestattet, es sei denn, er bekam vom Rat eine Sondererlaubnis. Einem Stadtbürger war es nicht erlaubt, in der Vorstadt "dar buten in der taverne" (draußen in der Schenke) Bier zu trinken; Bier wurde im häuslichen Kreise, auch mit Knechten, oder aber nur im Ratskeller getrunken.

Es ist kaum zu glauben, dass 1478 schon ein Braunkohlebergwerk bei Calbe betrieben wurde. In diesem Jahr gestattete Erzbischof Ernst von Sachsen, dessen Wappen am Portal der Stadtkirchen-Kapelle zu sehen ist (vgl. Station 5), einigen zu einer Genossenschaft zusammengeschlossenen Calbenser Bürgern, in den Feldmarken von Glöthe  und Üllnitz Braunkohle zu fördern. Dieser Bergbau wurde jedoch nach einiger Zeit aufgegeben und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiter östlich wieder aufgenommen.

Die seit dem 10. Jahrhundert existierende Saalemühle (s. oben) war immer wieder um neue Mahlgänge erweitert worden, so dass 1520 sogar schon 5 große Mühlräder in Betrieb waren und die Anlage sich erheblich ausgeweitet hatte. Solch ein für das Ende des Mittelalters gewaltiger Mühlenbetrieb war ein Zeichen für die stetig anwachsende Bevölkerung (vgl. Station 3).

Besonderes Augenmerk legte man im 15. und 16. Jahrhundert auf die Hochwassersicherheit der Äcker und Wiesen, mit Nachdruck wurde der Dammbau unter Erzbischof Ernst von Sachsen betrieben. Dabei arbeiteten die Bürger von Calbe und Barby zusammen, obwohl die letztere Stadt nicht zum Magdeburger Erzstift, sondern als gräfliche Exklave zu Sachsen gehörte. Auch das Kloster erhielt diesbezügliche Unterstützung von den Bürgern.

An einer Urkunde von 1489 interessiert uns mehr als der Hinweis auf den Neubau der Hospitalkirche die Tatsache, dass die Niederschrift schon vorwiegend in hochdeutscher Lautung erfolgte. Die Neufassung der „Willkür“ von 1525 mit im Wesentlichen gleichem Inhalt wie die von der Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgte schon in hochdeutscher Sprache (vgl. Station 8).

Auf der Saale, die Teil einer Wasser-Nord-Süd-Achse ist, wurden wichtige Güter transportiert, im Nahbereich die lebenswichtigen Handelsgüter für Calbe, wie Holz, Salz, Bausteine, Getreide usw. Die nächsten Handelsstationen waren Staßfurt, Schönebeck, Magdeburg und Halle. Es gab nicht nur Schifffahrt, sondern auch Flößerei, die aber verboten wurde, als wertvolle Hafen- und Mühleneinrichtungen von den Baumstämmen zerstört wurden.

Die Schiffsanlegestelle befand sich von Alters her am Schlossanger. Der untere Teil des Mühlgrabens, in den die Schiffe hineinfahren mussten, war zu diesem Zweck so weit vertieft, dass er Lastkähne tragen konnte (vgl. Station 11). Die Staßfurter Salzsieder („Pfänner“) hatten in Calbe auf dem Anger eine eigene Niederlage von eingehandeltem Holz, das sie für ihre Siederei brauchten. Dafür mussten sie jährlich 2 rheinische Gulden zahlen, den Wert von 6 Morgen guten Ackerlandes und von zusätzlich dem Fünftel eines Bauernhofes. 1537 mussten sie schon je Schiff einen halben Gulden zahlen, und als 1541 der gesamte Anger bis zum Mägdesprung mit Holz befrachtet war, kam es 1542 zur drastischen Einschränkung; die Pfänner durften nur noch einen Platz von 38 mal 12 Ruten (etwa 130 mal 40 Meter) belagern.

1496 kündigte sich das stärkere bürgerliche Selbstbewusstsein der Reformationszeit in Calbe an. Der langjährige bisherige Rat, inzwischen bestehend aus 6 Bürgermeistern/Kämmerern und aus 6 Ratsherren, wurde abgesetzt und ein neuer berufen. Einige Mitglieder des alten Rates wurden inhaftiert; ihnen wurde vorgeworfen, nicht für das Wohl der Geburschaft (Gemeinschaft), sondern in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Damit so etwas in Zukunft verhindert werden konnte, wurde dem zwölfköpfigen Rat ein Kontrollausschuss beigegeben. Er bestand aus 6 Männern aus der städtischen Mittelschicht, den Vertretern der Innungen, die bislang von der Mitbestimmung ausgeschlossen waren (s. oben). Dieser kooperierende Ausschuss wurde „Sechsmänner“ genannt (vgl. Station 2).

Bei diesem schon fast revolutionären Vorgang zeigte sich, dass die breite Mitte des Stadtbürgertums nun nicht länger gewillt war, den selbstherrlichen Verwaltungsstil der Oberschicht  zu dulden, und selbst die Geschicke der Stadt mitbestimmen wollte.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts geriet auch Calbe in den Strudel des von Reformation und Bauernkrieg bewirkten frühbürgerlichen Umwälzungsprozesses.

Begonnen hatte alles, als der damals mächtigste Mann im Reich, der Kurfürst von Mainz Kardinal Albrecht V. von Brandenburg aus dem Hause Hohenzollern, Erzbischof von Mainz und Magdeburg (1513-1545), am 31.August 1513 Herrscher über unser Gebiet wurde. Er verkörperte all das, was Luther angriff, nämlich Orthodoxie, Ablasshandel und Reliquienkult. Das Amt hatte er sich mit der unerhörten Summe von 21 000 Dukaten, die er bei dem Bankhaus Jacob Fugger geliehen hatte, beim Papst erkauft. Für die Rückzahlung mussten die Stände, besonders die Städte, auf den in den 1530er Jahren wiederholt im Schloss Calbe stattfindenden Landtagen (s. oben) aufkommen, denen Albrecht dafür aber Zugeständnisse machte. Alle Menschen, die bei der erzbischöflichen Stuhlfeier Albrechts in Magdeburg dabei waren, wurde Ablass aller ihrer Sünden versprochen. Als dann im Juni 1517 auch noch der berüchtigte Ablass-Mönch Tetzel in Magdeburg sein bereits von Teilen des Bürgertums angefeindetes Unwesen trieb, schickte Martin Luther dem Kurfürsten und Erzbischof Albrecht am historischen 31. Oktober 1517 nach Calbe einen Brief mit seinen 95 Thesen und bat diesen, nicht den Ablass, sondern das Evangelium predigen zu lassen. Der Brief wurde am 16. November im Schloss Calbe von den erzbischöflichen Räten geöffnet, weil sich Albrecht zu diesem Zeitpunkt gerade in Mainz aufhielt. Später antwortete er Luther mit bösen Beschimpfungen. Nachdem der Reformator durch die Verbrennung der päpstlichen Bulle den endgültigen Bruch mit Rom vollzogen hatte, schrieb er noch einmal am 4.Februar 1520 an den inzwischen zum Kardinal erhobenen wichtigsten Vertreter der Gegenpartei im Reich und bat ihn, von den Argumenten des Evangeliums auszugehen und nicht von denen der Verleumder. Diesmal erreichte der Brief Albrecht im Schloss Calbe. Von dort aus antwortete er auf den zweiten Brief Luthers so bösartig, dass sich Luther, der auch nicht gerade zimperlich war, bitter über den Stil des Kardinals beschwerte.

Nachdem sich Magdeburg zu einer Hochburg der protestantischen Bewegung entwickelt hatte und sich Kleriker ebenso wie Bürger sogar im Magdeburger Dom zu Luther bekannten, wurde es für Albrecht immer brenzliger. Als auf Befehl des äußerst unbeliebten Erzbischofs Verteiler von Flugschriften mit Luthers Ideen verhaftet worden waren, wurde der Zorn der Volksmassen so bedrohlich, dass diese wieder freigelassen werden mussten. Immer mehr Gemeinden wählten sich protestantische Pfarrer, und Albrecht bat beim Papst darum, Magdeburg in den Bann zu tun. Als das nicht geschah, ging der Kardinal selbst mit militärischer Gewalt gegen die Stadt vor.

Nun aber näherte sich im Februar 1525 das Bauernheer Thomas Münzers dem Erzstift Magdeburg, und der Kardinal verschanzte sich schleunigst in der Schloss-Veste Calbe. Auch hier in Calbe schlug ihm eine Atmosphäre der Wut und des Hasses entgegen. Albrecht konnte erst wieder aufatmen, als die Bauern auch mit Hilfe seiner Soldaten am 15.Mai 1525 bei Frankenhausen geschlagen worden waren.

In Calbe selbst kam es 1524 jedoch unter dem Einfluss der erregenden Ereignisse zu Unruhen, über die wir durch das Tagebuch eines Magdeburger Beamten etwas besser bescheid wissen. Anlass für die Tumulte in Calbe war der so genannte Glockenraub.

Kardinal Albrecht hatte, bevor er sich nach Halle aus dem Staub machte, mit Hilfe seiner Komplizen, des Amtmanns Simon Hake (Hacke), des Bürgermeisters Hans Hermann, einiger anderer Ratsmitglieder und des (Tagebuch schreibenden) erzbischöflichen Beamten, gegen den Willen des Propstes und des Konvents eine Glocke der großen Klosterkirche demontieren und auf einem Ochsenwagen  nach Halle in sein neues Stift abtransportieren lassen.

Die Lutheranhänger bemächtigten sich sofort des Stoffes und verspotteten den  flüchtigen Kardinal in dem „Lied vom Glockendieb und  Ochsentreiber“. Die hier gebliebenen bürgerlichen und ritterlichen Komplizen bekamen in dem Spottlied auch gehörig ihr Fett weg. Wenn einer von ihnen die Straße betrat, schallte ihm das Lied besonders laut in die Ohren, ein unerhörter Vorgang für die selbstherrlichen ritterlichen Beamten und für die sonst so eitlen Ratsmitglieder. Das Lied wurde besonders in Magdeburg und Calbe sowie in den Vorstädten gesungen und stachelte die Menschen der unteren Schichten zur Tat an.

In Calbe war man empört über die Mitwirkung des Bürgermeisters und einiger Ratsmitglieder, wobei es wohl weniger um den Raub einer Klosterglocke als vielmehr um das Aufbrechen Jahrhunderte alter sozialer Strukturen ging. Im Ratskeller und in Schenken wurde zum Sturz des alten Rates aufgerufen. Die Anführer Lorenz Böddeker und Hans Hubold  wollten die „Verräter“ sogar an den Galgen bringen. Am 18. September 1524 wurden vor der katholischen Messe der Bürgermeister sowie die Herren Georg Hermann und Hans Philipps verhaftet und inhaftiert. Mit wahrscheinlich bewaffneter Hilfe des erzbischöflichen Statthalters Graf Botho von Stolberg gelang es, die Gefangenen zu befreien. Nun wurden der Anführer des Aufstandes Böddeker  und andere Beteiligte gefangen gesetzt. Die gesamte Stadt wurde zu einer Strafe verurteilt, deren Maß der Kardinal bei seiner Rückkehr festlegen sollte. Wahrscheinlich verlief das Ganze im Sande, denn der Erzbischof vermied klugerweise alles, was den Volkszorn erneut anstacheln konnte. Vor seiner Flucht ins katholische Mainz ließ er die Glocke aus Halle wieder nach Gottesgnaden zurückbringen (vgl. Station 11).

Der Vormarsch der neuen Lehre ergriff sogar die Klöster. Als der Propst Lukas durch einen Kämpfer für die Reformation, den Propst des Halberstädter Johannisklosters Eduard Weidensen, für die neue Lehre gewonnen wurde, setzte das katholische Domkapitel seinen gegenreformatorischen Anführer Johann von Walwitz als Archidiakon des Kirchensprengels Calbe ein. Er ging mit aller Schärfe gegen die Lutherischen vor, konnte aber den neuen Glauben nicht mehr aufhalten.

Auch der Propst von Gottesgnaden Johann de Pusco war pro-evangelisch eingestellt. Er legte der Einführung der Reformation in Calbe, wo er das Patronatsrecht über die Stadtkirche besaß, kein Hindernis in den Weg. Im Unterschied zu den noch vorhandenen katholischen Geistlichen, die weiterhin vom Kloster unterhalten wurden, mussten aber die evangelischen von ihrer Gemeinde selbst versorgt werden. Als es keine katholischen Pfarrer mehr in Calbe gab und das Patronat über die Stadtkirche vom Kloster an den Rat der Stadt übergegangen war, mussten noch katholische Altäre gepflegt und Seelenmessen nach dem alten Ritus gesungen werden, weil es sich um das testamentarische Vermächtnis von vor der Reformation Verstorbenen handelte (vgl. Station 5).

Auf dem ständischen Landtag im Januar 1541 im Schloss von Calbe wurden die Weichen für die konfessionelle Zukunft der Region gestellt. Der Stand der Ritterschaft erhielt vom Erzbischof die Zusage, selbst über die Konfessionszugehörigkeit entscheiden zu dürfen. Ob dieses Zugeständnis tatsächlich Albrecht gegen eine Geldzusage zur Tilgung seiner enormen Schulden abgetrotzt wurde, ist bei einigen Fachhistorikern eine nicht geklärte Frage. Tatsache ist, dass nach der „Flucht“ des Erzbischofs nach Mainz im Jahre 1542 in den Städten alle Dämme des Gehorsams brachen. Was der Ritterschaft zugebilligt worden war, nahmen die Bürger auch für sich in Anspruch (vgl. Station 11).

Am 11. Juni 1542 fand in der Stadtkirche „St. Stephani“ der erste evangelische Gottesdienst, die deutsche Messe mit Einführung des Evangeliums, und die Austeilung des Heiligen Abendmahls in beiderlei Gestalt statt. Am Anfang war der evangelische Gottesdienst noch in vielen Teilen an die alte Art der lateinischen Messe (Psalmen, Episteln, Gesänge u. a.) angelehnt, erst allmählich wurde er in eine neue Form gebracht.

Die erste stadtpolitische Maßnahme unter evangelischer Ägide war die Schließung der Hurenhäuser. 1543 wurde das ehemalige „Gemeine Haus“ für 21 Gulden an einen Bürger verkauft.

 

4. Abschnitt: Um 1540 bis 1680 (Kämpfe und Tragödien zu Beginn der Neuzeit)

 

Die Epoche von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in Calbe war hauptsächlich von zwei Prozessen geprägt, dem Ringen zwischen den neuen reformatorischen und den gegenreformatorischen Kräften sowie dem Bestreben der Fürsten nach Konsolidierung des absolutistischen Staats- und Wirtschaftssystems. Insbesondere war es die Zeit gehäuft auftretender Pestepidemien, des großen europäischen Machtpokers auf Kosten der Völker, des Dreißigjährigen Krieges, und eines verstärkt auftretenden Massenwahns, der Hexenhysterie.

Während es für die Auswirkungen der großen Pestpandemie von 1347 bis 1352, die Europa von Nordafrika bis Island überrollte und als „Schwarzer Tod“ ein Drittel (25 Mill.) der Einwohnerzahl Europas an Todesopfern forderte, in Calbe keine Belege gibt, wissen wir, wie die Seuche seit dem 16. Jahrhundert in Calbe wütete.

Die aus Asien mit dem Rattenfloh eingeschleppte Pest suchte Europa in unterschiedlich stark ausgeprägten Wellen bis zum 18. Jahrhundert heim. Auf anderen Kontinenten, auch in den USA,  gab es noch Pestpandemien bis 1900. Im 20. Jahrhundert wurde die Pest weltweit immer mehr eingedämmt, sie ist aber bis heute nicht gänzlich ausgerottet.

Wie sich aus den frühneuzeitlichen Aktennotizen rekonstruieren lässt, dauerten mehrere der Pestwellen in Calbe im 16. und 17. Jahrhundert ca. 2 - 6 Jahre (vgl. Station 6). Die Intervalle zwischen den einzelnen Wellen waren erschreckend kurz, zwischen 8 und 19 Jahren. Im Durchschnitt kam es alle 11 Jahre zum großen Sterben, bei dem jedes Mal 10 bis 25 Prozent der Einwohner Calbes dahingerafft wurden.

Anno 1551 seien durch eine große Pestwelle "allein in einem Sommer 130 Personen gestorben, daß man auf dem Kirch-Hofe bei der Stadt-Kirchen nicht Raum gehabt, dieselben, ohne andere wieder aufzugraben, zu beerdigen“, schrieb der Chronist Hävecker. Deshalb hatte sich der Rat der Stadt entschlossen, in der Bernburger Vorstadt direkt neben dem Friedhof an der St.-Laurentii-Kirche einen neuen Gottesacker für die Stadt anzulegen. 1566 hatte "sich abermal eine Contagion [Pestwelle] eingeschlichen, dadurch fast die ganze Stadt leer geworden."  

1585 verbot der Rat die Neujahrsfeiern "wegen der gefährlichen Sterbensläufte". Vor allem das sonst übliche Schenken und Nehmen kleiner Gaben sei zu gefährlich. 1595 trat erneut die Pest in Calbe auf, "davon auch sehr viele Menschen nicht nur in der Stadt Calbe, sondern auch in dem nächsten Dorf Brumby gestorben… Anno 1607 ließ die Pest abermal ihre Macht durch Gottes Verhängnis allhier sehen, dadurch eine große Anzahl der Menschen hingerafft wurde." Sie dauerte diesmal bis 1611 und musste so gefährlich gewirkt haben, dass die Stadtväter sogar den Handel von und nach draußen verboten und die Torwachen verstärkten. Die Stadt hatte sich verbarrikadiert wie im Krieg. Während der Pest-Epidemie in Calbe von 1623/24 sollen sogar drei Gespenster auf dem Lorenz-Friedhof erschienen sein. Diese drei Erscheinungen hätten verschiedene Leute gesehen, die das auch auf ihren Eid nehmen wollten. "Anno 1638 hat sich wiederum ein Sterben in der Stadt angefangen, weshalber unterschiedene Leute nacher Köthen, damit und andere Orte und flüchteten, viele aber derer, so geblieben, in wenig Tagen gesund, bald aber krank und tot geblieben sind." Während 1680/1681 im gesamten Herzogtum die Pest grassierte, wurde Calbe davon nicht so stark betroffen. Deshalb zogen die Kurfürstliche Regierung und das Konsistorium vorübergehend von Halle nach Calbe. Die Huldigungsfeiern von 1680 wurden auf 1681 verschoben. Seit dem August des Jahres 1681 ordnete der Calbenser Rat an, dass die Calbenser Toten ohne Gesang, also in aller Hast und Eile begraben werden sollten. Trotz der immer noch herrschenden Gefahr ließ sich Kurfürst Friedrich Wilhelm zusammen mit seiner Gemahlin in Magdeburg, Calbe und Halle im Mai 1681 huldigen (vgl. Abschnitt 1680 – 1815)).  Im 18. Jahrhundert wurde die Pest in Calbe weitgehend eingedämmt, was wohl an den verbesserten hygienischen Bedingungen lag (vgl. ebenda).

Großen Mut und eine tiefe Nächstenliebe bewies in Calbe und Umgebung nur ein Mann, welcher als Pestpfarrer (pestilentarius) tätig war, der Lorenz-Vorstadt-Pfarrer Cyriakus Müller, während sich die höher gestellten Geistlichen der Stadt "für spätere bessere Zeiten schonen" mussten. Dieser beachtenswerte Mann, den die Herren Kirchenvisitatoren 1562 als "nicht besonders gelehrt" einschätzten, besaß jedoch das, was man als "Herzensbildung" bezeichnen kann. Er betreute auch in "normalen" Zeiten die Armen und Siechen der Hospitalstifte.

Der wegen der großen Sterblichkeit während der Pestwelle von 1548 bis 1552 neu angelegte Stadtfriedhof (1551) in der Bernburger Vorstadt, gleich neben dem Lorenzfriedhof der beiden Vorstädte, war eine zunächst von den Bürgern bekämpfte Notlösung (vgl. Station 19).

Der Rat der Stadt kaufte das Gelände östlich vom schon vorhandenen Vorstadt-Friedhof bei der St.-Laurentii-Kirche. Das neu entstandene Friedhofsterrain wurde mit einer hohen Mauer umgeben.

Das Eingangs-Doppeltor befand sich dicht am Bernburger Stadttor. Ein Predigerstuhl, d. h. eine Behelfs-Kanzel, wurde im Freien errichtet und neue Bänke wurden für die Stadtbewohner in der Lorenzkirche installiert.

Am 29. September 1551 hielt der Stadtpfarrer (1547 - 1593) und vehemente Anhänger der Reformation Leonhard Jacobi (vgl. unten) die Einweihungsrede. Der uralte Vorstadtfriedhof lag nun auf der Westseite bei der Kirche, der neue Stadtfriedhof auf der Ostseite an der Bernburger Straße, beide durch eine Mauer getrennt, die nach dem Dreißigjährigen Krieg abgetragen wurde; Grenzsteine blieben jedoch. Die "städtischen Verstorbenen" wurden von dem oben erwähnten Predigerstuhl im Freien unter einem Mandelbaum verabschiedet, die vorstädtischen noch einmal durch "ihre" geöffnete St.-Laurentii-Kirche getragen. Damals gab es noch eine zweite Kirchentür, die jetzt zugemauert ist.

1844 wurde dieser (zweifache) Lorenzfriedhof geschlossen (1875 fand die letzte Beerdigung statt).

1569 war auch das Kloster „Gottes Gnade“ säkularisiert worden. Nach einem kurzzeitigen Versuch der Rekatholisierung während des Dreißigjährigen Krieges kam es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter die Verwaltung des landesherrlichen Schlossamtes, nachdem Administrator August von Sachsen-Weißenfels wenigstens die Wirtschaftsgebäude wieder aufbauen bzw. reparieren lassen hatte.

 Unmittelbar nach der Etablierung der Reformation im Magdeburger Land begann sich die Gegenreformation zu formieren und zum Gegenschlag auszuholen. In Calbe hatte sich die Reformation immer weiter gefestigt. Einige Calbenser Geistliche waren mit dem Reformator, Humanisten und führenden Theologen des Protestantismus Philipp Melanchthon bekannt, und der oben erwähnte Pfarrer Leonhard Jacobi war aus Magdeburg, der Hochburg des Protestantismus, nach Calbe gekommen.

Nachdem die protestantischen Fürsten den Schmalkaldischen Bund gegründet hatten, versuchte die Gegenseite mit Kaiser Karl V. an der Spitze, den Protestantismus im Schmalkaldischen Krieg aus Deutschland auszumerzen. Der Protestant Moritz von Sachsen kämpfte an der Seite des Kaisers gegen die Protestanten, besonders gegen seinen Vetter, den Kurfürsten Johann Friedrich I. (der Großmütige) von Sachsen, um dessen Kurfürstenkrone übernehmen  zu können – eines der vielen Beispiele aus jener dramatischen Zeit dafür, dass es vielen Fürsten weniger um die Glaubensrichtung, als vielmehr um Machterweiterung ging. Johann Friedrich hatte 1547 schon kurzfristig das Magdeburger Land und damit auch das Calbenser Gebiet  Sachsen einverleibt, als ihn sein Vetter mit den kaiserlichen Truppen in der Entscheidungsschlacht am 24. April 1548 bei Mühlberg (zwischen Torgau und Riesa) schlug. Nun wurde Moritz sächsischer Kurfürst; der Schmalkaldische Bund zerfiel. Karl V. verkündete auf dem Augsburger Reichstag  1548 eine „Zwischenreligion“, das Augsburger Interim, welches an die Protestanten Zugeständnisse machte, im Wesentlichen aber auf katholischen Positionen blieb. Die Stifter Magdeburg und Halberstadt, auch die Stadt Calbe und andere Städte, lehnten auf einer Synode in Eisleben das Interim rundweg ab. Calbe machte sogar durch vier eigene Kampfschriften Leonhard Jacobis von sich reden. Den Rat der Stadt Calbe hatte Jacobi hinter sich.  Magdeburg wurde Zentrum des Widerstandes und deshalb 1550/51 von den kaiserlichen Truppen  unter Moritz von Sachsen belagert. Das Umland  bekam die Schrecken des Landsknechtskrieges zu spüren, besonders durch die barbarischen Söldner des Herzogs Georg von Mecklenburg (vgl. Hertel, Geschichte..., S. 34). Das ehemalige Kloster Gottesgnaden (vgl. Abschnitte 1 und 2) wurde durch die Soldateska des sächsischen Obersten Severin Lorenz ausgeplündert, der Auftakt zum Verfall des Klosters war gegeben. 1548 brannte das Kloster fast völlig nieder. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch zwei Mönche mit dem letzten katholischen Propst (Klostervorsteher) Johann de Pusco in dem verfallenden Gemäuer. Der Propst sprach von Brandstiftung durch die Klosterfeinde. Im Volke dagegen ging das Gerücht um, der Propst hätte Ostern mit einer Schar Weiber (- offizielle Huren gab es allerdings in Calbe seit 1543 nicht mehr -) gefeiert und sich dabei so "vol getruncken", dass er in dem Chaos seine Schlafkammer selbst angesteckt habe. Wer lügt, ist heute nicht mehr zu belegen. Am 15. Februar 1550 kam vor den Stadttoren Feuer auf. Die (angeblichen?) Brandstifter wurden gefasst und auf der Radelbreite nahe dem Mägdesprung verbrannt. Nach der Kapitulation Magdeburgs 1551 plünderten katholisch-sächsische Landsknechte die Städte des ehemaligen Stiftes. Es kann sein, dass die seit 1549 in Calbe grassierende Pest (s. oben) die beutegierige Soldateska bis zu einem gewissen Grade abschreckte.

Als der Kaiser sich anschickte, eine Universalmacht zu errichten, kam es 1552 zu einer Fronde der protestantischen Fürsten gegen ihn. Flugs wechselte der machtgierige Moritz die Seite und führte nun die protestantische Fürstenfront an. Nach mehreren Schlachten kam es schließlich zur Aufhebung des auf beiden Seiten verhassten Interims und 1555 zum berühmten Augsburger Religionsfrieden zwischen den Katholiken und den als gleichberechtigt anerkannten Protestanten (- Reformierte waren davon ausgeschlossen -) mit der bekannten Formel „cuius regio, eius religio“. Die Landesfürsten konnten entscheiden, welche der beiden Konfessionen in ihrem Gebiet die Untertanen annehmen mussten. Das führte dazu, dass es heute noch Landschaften mit vorwiegend katholischer oder protestantischer Bevölkerung gibt und dass in einigen Fällen auch eine Wanderbewegung der Bürger und Bauern einsetzte.

1562 wurde unter dem ersten und letzten protestantischen Erzbischof Sigismund Markgraf von Brandenburg, einem jungen Mann (Regierung 1552 – 1566), der sich mit Eifer der Reformation und dem Aufbau eines protestantischen Beamtenstaates verschrieben hatte, aber jung verstarb, die erste evangelische Kirchenvisitation auch in Calbe durchgeführt. Dabei kamen einige Defizite sowohl im Glauben der Bürger als auch in der Ausbildung einiger Pfarrer zu Tage (vgl. Reccius, Chronik..., S. 37). Sigismund war 1552 im Schloss Calbe vom Domkapitel 14jährig in sein Amt eingesetzt worden. Hier fand auch im Januar/Februar 1564 der Landtag unter dem Erzbischof statt, bei dem 578 Taler verbraucht wurden und der den Gewerbetreibenden der Stadt einen beachtlichen Profit brachte. Die Nachfolger Sigismunds nannten sich klugerweise nicht mehr Erzbischöfe, sondern Administratoren. Der erste Magdeburger Administrator war Joachim Friedrich (Regierung 1566 – 1598), späterer Kurfürst von Brandenburg. Unter ihm wurde der Ausbau des Beamtenstaates weiter vorangetrieben, was zu Konflikten mit den um Selbständigkeit ringenden Stadträten führte. Nach der Säkularisation des Klosters „Gottes Gnade“ kam auch die Calbenser Saalemühle  unter die Zuständigkeit des Administrators, worauf eine Relieftafel an einem Mühlengebäude heute noch hinweist (s. Abb. rechts). Joachim Friedrich ordnete 1585 an, die Haushaltsführung der Stadt Calbe genauestens zu überprüfen. Bei der Revision kamen hohe Schulden, Diebstahl und Korruption ans Tageslicht. Durch einige Ratsmitglieder geraubte und zur persönlichen Bereicherung verschleuderte katholische Kirchenschätze mussten wieder beschafft und dem Fiskus zugeführt werden. Sogar das Stadtsiegel und mehrere Kanonen waren versetzt worden. Alles musste wieder an Ort und Stelle. Zwischen 1563 und 1582 hatte der Rat ständig mehr ausgegeben als eingenommen, und die Schuldenlast betrug 7429 Taler, nach heutiger Währung eine siebenstellige Ziffer. Ein loyaler Beamter wurde nun als Bürgermeister eingesetzt, und das Amt des Stadtschreibers, des einzigen Experten für Recht und Finanzen, musste 1593 ein Akademiker übernehmen (Magister Quirin Rudinger). Dabei blieb es in der Folgezeit (vgl. Reccius, S. 41). Unter Joachim Friedrich wurden die Bürger an „Recht und Ordnung“ gewöhnt. Das Stadtgericht tagte montags, Inspektionen der Schule, der Feuerstellen und Dächer fanden halbjährlich statt, und die Fleischbeschau wurde eingeführt. Die klar formulierte Haus- und Straßenordnung verkündete der Rat im Burding. Auch das Gewicht und die Preise der von den Innungen angebotenen Waren überprüften die Beamten. Das alles führte zu einem lange anhaltenden Kleinkrieg zwischen den Beamten im Schloss, kurz Amt genannt, und dem um kommunale Selbständigkeit ringenden Rat. Interessanterweise wurden die Beamten dabei von den Vertretern der Mittelschicht, den Sechsmännern, unterstützt. Dafür bekamen sie allerdings die Rache der Ratsherren zu spüren, z. B. indem man sie bei Rechtsfällen als untergeordnet einstufte. Für das gleiche (kleinere) Vergehen bekam ein Ratsherr Hausarrest, ein Sechsmann dagegen Gewahrsam im Rathaus (vgl. Reccius, S. 57).

Der Versuch des Rates, sich das Patronatsrecht über die St.-Laurentii-Kirche vom Schlossamt anzueignen, scheiterte 1589.

Auch die Fischerei-Brüderschaft, die als Vorstadt-Genossenschaft dem Amt unterstand, wurde in diese politischen Kompetenz-Rangeleien am Ende des 16. Jahrhunderts mit hineingezogen (vgl. Station 21).

Als der promovierte Stadtschreiber Rudinger zum Stadt- und Landrichter berufen wurde, stellte er sich schon seiner Stellung wegen auf die Seite des Schlossamtes. Die Angriffe des Rates richteten sich sofort gegen ihn. Aber der Schlosshauptmann (Amtmann) von Veltheim, der Großvater der späteren Gräfin Anna Margareta von Wrangel, beanspruchte nun auch noch das schon lange abgeschaffte Mitspracherecht bei der Ratswahl. In den Beschwerden an die Magdeburger Regierung beharrte der Rat auf seinen bisher mühsam errungenen Privilegien. Er und die Bürgerschaft seien nur an die Anweisungen des Administrators und seines Domkapitels gebunden. Da aber liefen die Ratsherren gegen die Intensionen ihres Landesherren an, der einen straff organisierten, hierarchisch strukturierten Beamtenstaat anstrebte. Während der Amtmann noch eine Vetternwirtschafts-Affäre des Bürgermeisters aufdeckte, kam 1601 der landesherrliche Bescheid, dass der Rat den Entscheidungen des Amtmanns zu folgen habe und die Gerichtsbarkeit die Angelegenheit des Schlossamtes sei. Nur bei einfachen Delikten, wie Verletzungen der Haus- und Straßenordnung, könne der Rat leicht strafen. Handelsangelegenheiten und Zahlungskonflikte gehörten vor das Gericht des Amtes. Der Rat dürfe keine Zeugen vernehmen oder Pfändungen durchführen (vgl. Reccius S. 43 f.). Der sich konsolidierende Beamtenstaat hatte gesiegt. Bis 1620 war auch die Funktion des aus früher Zeit stammenden Ältestengerichtes beseitigt wurden (vgl. ebenda, S. 45).

Der Aufbau des brandenburgisch-preußischen Beamtenstaates wurde jäh durch den Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) unterbrochen (vgl. Station 6).

Von der ersten Etappe des Krieges, dem böhmisch – pfälzischen Krieg, merkten die Calbenser nichts. Erst mit dem Eintritt des Dänenkönigs Christian IV. in das europäische Machtpoker wurde der Krieg auch in unsere Gegend getragen. Vom Jahr 1625 an begann das lange Leid der Bevölkerung des Magdeburger Landes, des Gebietes, das seit diesem Zeitpunkt mit  am schlimmsten in diesem Kriege betroffen wurde.

Bald rückten Truppen der Liga unter General Johann Tserclaes Graf von Tilly (1559 - 1632) gegen Calbe, und der Landtag, der das Bündnis zwischen dem Dänenkönig Christian IV. und dem Administrator Christian Wilhelm Markgraf von Brandenburg (Regierung 1598 – 1631) vertiefen sollte,  wurde schleunigst geschlossen. Soldaten des Administrators mussten das Schloss besetzt halten. Tillys Söldner erstürmten daraufhin die Mauern und die Schlossfestung und richteten unter den Markgräflichen ein grauenhaftes Gemetzel an. Anschließend wurde die Stadt geplündert. Wenig später, am 12. Oktober, kam der neu ernannte Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen, Albrecht Wenzel Eusebius Graf von Wallenstein (Waldstein), Herzog von Friedland (1583 - 1634), in Eilmärschen von Eger (heute: Cheb) über Halberstadt und Aschersleben nach Calbe, um sich in der Gegend mit den Liga-Truppen Tillys zu vereinigen. Der Rat öffnete ihm die Tore, nachdem er Kanonen vor den Mauern auffahren ließ und der Stadt eine faire Behandlung zugesichert hatte. Wallenstein blieb nur ganz kurz in Calbe, er übernachtete wahrscheinlich im "Goldenen Stern" (Schlossstraße 83). Seine verwundeten und kranken Soldaten ließ er in die Hospitäler legen und zog mit seiner Armee über Salze (Schönebeck) nach Halle und Querfurt weiter. 1626 war das Magdeburger Land, außer Magdeburg selbst, in den Händen der katholischen Partei. Tilly hatte am 27. August 1626 in der Schlacht bei Lutter am Barenberge Christian IV. vernichtend geschlagen. 1629 zog sich der dänische König aus Norddeutschland zurück, aber bald darauf landete 1830 ein mächtigerer „Beschützer“ der Protestanten in Pommern, König Gustav Adolf von Schweden. Während viele protestantische Fürsten zögerten, schlossen sich der Magdeburger Administrator Christian Wilhelm und die Stadt Magdeburg sofort dem Schwedenkönig an, obwohl das Magdeburger Gebiet noch in der Hand von katholischen Truppen und die Macht des Kaisers und der Liga damals auf ihrem Höhepunkt waren. Der Administrator hatte überall im Land Soldaten werben und in den meisten Städten Verteidigungszentren einrichten lassen, die jedoch wegen der militärischen Unfähigkeit Christian Wilhelms gestürmt und geplündert wurden.

Auch in die Veste Calbe, die im August 1630 von einer kleineren kaiserlichen Besatzung geräumt worden war, hatte er eiligst am 14. September 750 Musketiere entsandt, die aber sofort von 2 Regimentern (etwa 1600 - 2000 Mann) der Kaiserlichen unter General Viermond von Neersen verfolgt wurden. Ein Desaster schien vorprogrammiert. Wenige Tage später erschien Viermond und ließ Calbe, das Schloss und die Schanzen auf dem Heger mit kurzen, schweren 40-Pfünder-Geschützen und Feld-Schlangen unter Dauerbeschuss nehmen. Die Verteidiger, Soldaten und Bürger, wehrten sich tapfer, die Bürger sogar mit Steinen. Dabei verloren die Angreifer 300 Mann. Nach dem Bericht eines Zeitgenossen, des Pfarrers Jacob Möser aus Staßfurt, gelang es der kaiserlichen Übermacht am 22. September, durch Brandlegung am Schlosstor eine Schwachstelle zu erzeugen, die erschöpften Verteidiger, von denen 200 fielen, zu überrumpeln und um 11 Uhr vormittags in die Stadt einzudringen. Nun begannen die grauenvollsten 21 Stunden in der Calbenser Neuzeitgeschichte, die Überwältiger kannten kein Pardon. Es wurde geraubt, vergewaltigt und gemordet. Von Beutegier und Alkohol rasend geworden, wälzte sich die Soldateska Viermonds durch die Straßen Calbes. In der Stadt selbst wehrten sich die bürgerlichen und militärischen Verteidiger noch bis 17 Uhr gegen die starke Übermacht. Das Plündern und Schänden aber dauerte bis zum nächsten Morgen 8 Uhr, als durch ein Trommelsignal der Befehl zum Beenden des Plünderns gegeben wurde. Einige der Verteidiger, die nach dem Sieg der Übermacht nach Gottesgnaden geflüchtet waren, wurden von kroatischen Reitern durch eine Furt verfolgt und fast alle getötet. Viele Bürger, auch die Geistlichen, hatten sich in die St.-Stephani-Kirche zu retten versucht. Die Plünderer rammten jedoch die schweren Eichentüren auf, öffneten gewaltsam das Gewölbe der Sakristei, raubten alle Kostbarkeiten und stöberten auch die Menschen auf, die sich auf den Türmen und in der Wrangelkapelle versteckt hielten. „In Summa, sie konnten nicht sagen, was für ein Jammer da gewesen“, schrieb Möser. Den überlebenden Bürgern hatte man die Kleidungsstücke abgenommen, so dass sie in Lumpen gehüllt die zahlreichen Toten, unter denen auch der Bürgermeister Döring war, in Massengräbern begraben mussten. Diese Gruben hatte man eiligst, obwohl der Kirchhof schon offiziell seit 1551 geschlossen war (s. oben), in der Nähe der Schule, also auf der Nordseite der St.-Stephani-Kirche ausgehoben. In diesen schwarzen Stunden der Calbenser Geschichte wird es auch gewesen sein, dass ein großer Teil der Akten und Urkunden aus dem Archiv in die Saale geworfen und vernichtet wurde. Zur Mahnung und Anklage blieben noch fast ein Jahrhundert lang die großen Blutflecke an der nördlichen Mauer und das Blut eines um Gnade flehenden und in der Schlosskapelle erstochenen Bürgers vor der Kanzel sichtbar.

Auch die Rittergutsbesitzer von Haugwitz und ihre damals 8 Jahre alte Tochter Anna Margareta waren durch die Plünderungen verarmt. Wie aus einer Leichenpredigt hervorgeht, starb der Vater Anna Margaretas, Balthasar von Haugwitz, schon "frühzeitig" in Brandenburg und musste dort auch wegen der Kriegsereignisse beerdigt werden.

Zehn Jahre später heiratete der schwedische Oberst und nachmalige Generalmajor Carl Gustav Wrangel (1613 - 1676), der spätere Graf von Salmis, die schöne besitzlose Anna Margareta aus Calbe.

Es war eine durchaus glückliche Ehe. Seit 1640 ging die Karriere des befähigten Kriegsgewinnlers mit der schönen und cleveren Frau an seiner Seite steil aufwärts.

Während der Vorbereitungen zur Belagerung der Stadt Magdeburg im Mai 1631 hatte Calbe Einquartierungs- und Requisitionslasten durch die kaiserlichen und ligistischen Truppen unter Graf Gottfried Heinrich zu Pappenheim (1594 - 1632) und Tilly zu tragen. Inzwischen waren einige Bürger in die vermeintlich sichere Stadt Magdeburg geflohen, jedoch ereilte sie auch dort ein grausames Schicksal, wie das des Melchior Heydenreich, der mit einem Pferd in die große Stadt geflohen war, während der Belagerung das Pferd verzehren musste und bei der Erstürmung und Zerstörung Magdeburgs ums Leben kam. Tilly, der Magdeburg am 10. Mai 1631 gestürmt und zerstört hatte, wurde aber selbst am 17. September bei Breitenfeld von Gustav Adolf vernichtend geschlagen. Der damals erfolgreichste schwedische Feldherr Johan Banér (1596 - 1641) belagerte nun Magdeburg.

Am 31. Oktober erschien er in Calbe, und beim Kampf gegen die Kaiserlichen kam es erneut zum Blutvergießen. Den Kaiserlichen unter Pappenheim gelang es noch einmal, Magdeburg aus der Umklammerung Banérs zu befreien, die Schweden zogen sich auf Calbe zurück. Bald jedoch musste Pappenheim Magdeburg wegen Versorgungsschwierigkeiten aufgeben und zog in Richtung Weser ab, Banér folgte ihm mit seinem Heer. Die Schweden siegten in weiten Teilen Deutschlands und stellten auch in Calbe die "Ruhe und Ordnung" der Sieger her. Banér bekam 1632 für seine militärischen Verdienste die Ämter Egeln, Athensleben und Hadmersleben, der Kanzler Stalmann bekam Gottesgnaden. Damit hörten aber die Belastungen für Calbe durch Einquartierungen und Lieferungen nicht auf. 1632 war Calbe Kompanie-Sammelplatz des Hauptmanns Adolf Wilhelm von Krosigk. Dafür hatte Calbe die Unterbringung und Löhnung aufzubringen. Der Krieg musste eben auch auf der protestantischen Seite den Krieg ernähren. Am 29. Februar berechnete der Rat  für die von ihm gezahlten Kriegskosten 14237 Taler und 7 Groschen, eine gewaltige Summe, nach heutigem Geldwert eine zweistellige Millionensumme; außer den zerstörten Gebäuden und Auslösungen, außer den 6000 Pfund Brot und vielen Säcken Getreide als Armeeproviant und außer den aus dem Rathaus geraubten Kostbarkeiten, was alles zusammen auch noch einige tausend Taler ausmachte. Bald kamen auch noch die Truppen des Herzogs Georg von Lüneburg, "ein böse schädlich Volk", das "die Leute heftig geplaget und gepeiniget" in die Stadt. Nun setzte eine große Fluktuation ein, weil viele Bürger die hohen Kontributionen nicht mehr aufbringen konnten. Sie ließen ihr Hab und Gut im Stich und flüchteten aus der Stadt.  Inzwischen konnten die Bäcker nicht mehr backen, weil ihnen das Mehl fehlte. Wegen des Marodeur-Unwesens mussten die Bürger zusätzliche Wachen für die Tortürme stellen. Als die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg dem Frieden von Prag 1635 beitraten, waren die Schweden plötzlich zu Feinden geworden. Banér schlug im Juli ein Lager zwischen Staßfurt und Calbe mit 15 000 Mann auf, was die Städte, besonders aber auch die noch vorhandenen Dörfer, wiederum enorm belastete. Im Herbst wurden die Schweden von den sächsischen Truppen gezwungen, die Stifter Magdeburg und Halberstadt zu räumen und sich nach Brandenburg zurückzuziehen. Nun erhielt Calbe eine kursächsische Besatzung. 1636 vertrieb aber Banér wieder die Sachsen und rächte sich bitter an den leidgeprüften Städten. Zuerst wurden von ihm Stadt und Schloss Barby gestürmt und geplündert. Dann zog Banér in Eilmärschen nach Calbe, Könnern, Löbejün und Eisleben, welche kursächsische Besatzungen hatten. Diese Städte wurden gestürmt und geplündert und mussten blutig büßen, dass sie ihm von den Kursachsen weggenommen worden waren. Calbe blutete am 18. Januar 1637 bei einer fast ebenso verheerenden Plünderungsorgie wie seinerzeit 1630. Kaufleute, die von der Leipziger Messe kamen, raubte Banér unterwegs aus. Nach der Erstürmung und Plünderung musste nun Calbe wieder unter schwedischer Besatzung leben. Der Kurfürst von Sachsen, der Banér verfolgte, versuchte im Januar 1636 sechsmal vergeblich, Calbe zu stürmen. Baner  ging mit mehreren Regimentern über die Saalebrücke und schlug 12 Regimenter der Sachsen am Petersberg bei Halle. Die Calbenser Saalebrücke hatte er durch 1000 Mann sichern und mit Kanonen bestücken lassen, so wichtig war ihm dieser Übergang für seinen Rückzug nach Magdeburg, wo er ein großes Getreidevorratslager angelegt hatte. Bevor die Schweden sich (fast für immer) aus unserer Gegend „verabschiedeten“, ließ Banér durch seinen Oberst Golz die Brücke und das Kloster, nach Plünderung des letzten noch vorhandenen Brauchbaren, niederbrennen. Im Juli 1636 verließ Banér die Stadt Magdeburg, um in Wittstock an der Dosse die Kaiserlichen und die Kursachsen in einer bedeutsamen Schlacht zu schlagen. In unsere Gegend aber rückten die Geschlagenen ein. Die Kaiserlichen wurden befehligt von  Matthias Graf von Gallas (1584 oder 1588 - 1647), einem zu jener Zeit  von der Trunksucht gezeichneten, strategisch unfähigen Trientiner, dem man den tödlichen Verrat an Wallenstein nachsagte. Mit diesen neuen Herren begann hier wieder eine schlimme Zeit. Besonders hatten es die Kaiserlichen auf anhalt-zerbstische Dörfer und Städte abgesehen, wo sie die schlimmsten Grausamkeiten verübten. Calbe blieb aber weitestgehend von den Besuchen der Gallas-Horden verschont, weil - welch Ironie - die Brücke fehlte. Kaum war Gallas verschwunden, rückten 1637 wiederum Kaiserliche, diesmal unter Giovan Lodovico Freiherrn von Isolani (1580 oder 86 - 1640), erneut vor Calbe, wo sie ebenfalls übel hausten. Isolani war General einer Hilfstruppe, der kroatischen leichten Kavallerie. Das war eine Horde privilegierter Mörder, Räuber und Brandstifter, die die Aufgabe hatten, den Gegner, wo es nur ging, zu stören, Beute zu machen  und die Bevölkerung zu terrorisieren. Vor Calbe droschen sie das Getreide gleich auf dem Feld aus. Eine Abteilung dieser gefährlichen Reiter hatte es geschafft, in Calbe einzudringen. Plötzlich sprengten sie auf den Marktplatz, wo sich einige Bürger, auch der Bürgermeister, eiligst hinter einer steinernen Barrikade, der so genannten Brustwehr, verschanzten. Die wilden Attacken der Kroaten konnten durch einige gezielte Schüsse der geübten Bürger-Schützen abgewehrt werden. Die Isolani-Reiter machten sich aus dem Staub.

Plündernde bayrische Truppen, die die Salpeterhütte zerstörten und die St.-Laurentii-Kirche stark beschädigten, lagen 1640 in der Stadt. 1641, kurz vor Banérs Tod, erschien das Heer der Schweden noch einmal an der Stelle, an der die Brücke 5 Jahre zuvor zerstört worden war. Banér ließ unter großem Aufwand und erzwungener Mithilfe der Bevölkerung eine Ponton-Brücke aus Fässern bauen, um nach Magdeburg überzusetzen. Kaum war die Armee auf dem linken Ufer, ließ er das Meisterwerk zerstören, weil die Kaiserlichen folgten. Bei dieser Gelegenheit könnten Banérs Stellvertreter, Oberst Wrangel, und seine frisch vermählte schöne Ehefrau Anna Margareta die Südkapelle an der St.-Stephani-Kirche besucht und eine Schenkung vorgenommen haben, durch welche die Kapelle bis heute als Wrangel-Kapelle in Erinnerung blieb.

1643 zogen wie auch vorher schon marodierende Söldner durch die Calbenser Feldmark, die es besonders auf Pferde abgesehen hatten. Bauern und Bürger, die sich weigerten, ihre existentiell wichtigen Tiere herzugeben, wurden von den Marodeuren einfach niedergeschossen. 1644 lagen sich wieder die Kaiserlichen unter Graf Gallas und die Schweden unter dem neuen schwedischen Oberbefehlshaber Torstenson drei Monate lang vor Bernburg gegenüber, und das ging stark auf Kosten der Dörfer bzw. der Calbenser Südvorstadt. In diesem „Stellungskrieg“ wurden die Häuser der Bauern samt Einrichtung einfach abgerissen und in den Söldner-Lagern wieder aufgebaut. Einiges wurde auch als Feuerholz benutzt. Die Bauern jedoch, deren Haus, Hab und Gut abtransportiert worden war, mussten sehen, wie sie im Freien überlebten. Einige Dörfer wurden ganz vernichtet, wie z. B. Zuchau. Von den 72 Bauern vor dem Kriege war danach keiner mehr vorhanden. Zuchau war „bis auf den Grund verderbet worden, da von keinem Gebäude so viel überblieben, daß man eine Suppe dabei bereiten mögen.“ Die Laurentiuskirche in der Bernburger Vorstadt wurde von Gallas-Plünderern stark beschädigt. Sogar in der Stadt Calbe selbst hatten sich beide Armeen 1644 drei Monate lang eingenistet. Auf dem Heger mussten die Calbenser Schanzen errichten, noch heute "Schwedenschanzen" genannt, wobei die Bürger Fuhren leisteten, die Hörigen und Leibeigenen aber, die keine Pferde besaßen, selbst zu Hacke und Schaufel greifen mussten.

 Als sich die Kriegswalze 1645 allmählich in Richtung Süden nach Hessen und Bayern schob, konnten die Calbenser wieder aufatmen. Im Wesentlichen war für sie der Krieg nun vorbei. Die Bauern der umliegenden Dörfer und die Bewohner der Vorstädte aber holten sich aus den verlassenen Lagern ihre zum Teil noch brauchbaren Habseligkeiten und ihr Hausbaumaterial zurück. Während des gesamten Krieges hatten die Dörfer und Vorstädte am meisten zu leiden gehabt, weil sie schutzlos in der Landschaft lagen. Die Schlossvorstadt befand sich genau an der strategisch wichtigen Saalebrücke, über die sich alle Kriegsvölker herüberwälzten und dabei zuerst auf die arme Bevölkerung der Ketzerei und Gröperei trafen. Zogen die Söldner von Süden über Bernburg und Nienburg heran, trafen sie auf die Bernburger Vorstadt. Am schlimmsten aber erging es den Bauern in den Dörfern, die von der Soldateska oft schlechter als Vieh behandelt wurden. Die zum Amt Calbe gehörenden Dörfer waren so verwüstet, dass es kaum noch Zugtiere und Menschen für die Frondienste gab und dass weite Ackerflächen wüst lagen. Nur 14 Hufen, das war etwa ein Zehntel des ursprünglichen Ackerlandes der Stadt Calbe,  wurden am Ende des Krieges noch bestellt. Die Einwohnerzahl war auf etwa die Hälfte reduziert.

Die Friedensverhandlungen in Westfalen und die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück 1648 nahmen die verbliebenen Calbenser Einwohnern nur apathisch zur Kenntnis. Nach Abzug der letzten Schweden wurde in allen Kirchen des Erzstifts Magdeburg ein Friedensdankfest gefeiert und "dabei gedacht, in was vor unaußsprechlichen Unglück wir so lange gestecket und was Friede und Ruhe vor eine unermeßliche Wohlthat sey."

Nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens blieb das Magdeburger Land bei Administrator Herzog August von Sachsen-Weißenfels (Regierung 1631 - 1680) bis zu dessen Tod. August, der zweite Sohn des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., war 1635 Nachfolger des verstorbenen Magdeburger Administrators, des brandenburgischen Markgrafen Christian Wilhelm, geworden und residierte seit 1642 in Halle. Danach sollte das ehemalige Erzstift Magdeburg als Herzogtum zu Brandenburg-Preußen kommen, was dann auch 1680 geschah.

Gleich nach diesen Festlegungen verlangte der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm von den Ständen des Magdeburger Landes eine Eventualhuldigung im Schloss von Calbe, die aber dann doch in Groß-Salze (heute Teil von Schönebeck) am 4. April 1650 stattfand. Wahrscheinlich war das Calbenser Schloss in keinem guten Zustand. Auf die richtige Huldigung musste der Kurfürst noch 30 Jahre warten, denn Administrator August erfreute sich bester Gesundheit.

Ausgerechnet beim Übergang vom "finsteren" Mittelalter zur "aufgeklärten" Neuzeit trat eine kollektive Hysterie auf, die sich in der Verfolgung und physischen Vernichtung angeblich vom Teufel besessener Frauen, aber auch Männer und Kinder äußerte. Hunderttausende fielen seit dem Ende des 16.Jahrhunderts in Europa und den europäischen Kolonien dem kollektiven Irrsinn zum Opfer (vgl. Station 1).

Seit dem 16. Jahrhundert zog sich die europäische Kirche mit ihrer Ketzer verfolgenden Inquisition mehr und mehr aus dem schmutzigen "Geschäft" zurück und überließ den Fürsten und deren Beamten die Verfolgung der Schadenszauberer, Hexen genannt. 1487 hatte der deutsche Dominikanermönch und Inquisitor Heinrich Kramer („Institoris“) unter Mitwirkung des Dominikaners Jacob Sprenger ein Buch zur Bekämpfung der Hexen, "Malleus maleficarum" (Hexenhammer), "das verrückteste und dennoch unheilvollste Buch der Weltliteratur“ geschrieben. Es war eine Gebrauchsanweisung zur brutalen "Befragung" einer besonderen Gruppe von Ketzern, den Schadenszauberern, den Behexern. Dabei dachte er wie viele seiner Glaubensbrüder aufgrund einer starken Körper- und Sexualitätsfeindlichkeit der damaligen herrschenden Kirchenideologie in erster Linie an Frauen. Folgerichtig waren auch 80 Prozent der Beschuldigten Frauen. Kramer ging von einer Verschwörungstheorie aus, dass die Klimaverschlechterung, die Naturkatastrophen und Seuchen sowie die Unsicherheit durch soziale Umwälzungen von einer Sekte der Schadenszauberer verursacht würden.

Aber erst ca. hundert Jahre nach diesem pathologischen Buch, in der Krise des Feudalismus am Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, kam es zum vollen Ausbruch des Wahns. Dabei wurden nicht nur Frauen, sondern auch Männer und Kinder, nicht nur Angehörige der Unter-, sondern auch der Oberschichten auf grausame Weise durch die staatlichen Organe mit Duldung nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen Kirche vernichtet. Bei den Prozessen wurde durch "Besagungen" (Beschuldigung weiterer Menschen unter der Folter) ein regelrechtes Schneeballsystem aktiviert.

Während des Abklingens des Hexenwahns im 18. Jahrhundert wurden in allen deutschen Städten die meisten Hexenprozessakten vernichtet.

In den zweihundert Jahren des Hexenwahns wurden in Deutschland etwa 100 000 "Hexen" getötet, in Calbe sicher Dutzende.

Eine dieser vermeintlichen Hexen ist in der Erinnerung der Calbenser Geschichte lebendig geblieben.

Der Hexenprozess war im Jahre 1634, die Frau hieß Ursula Wurm. Sie war bei ihren Mitmenschen unbeliebt, weil sie, verwirrt und dem Trunke ergeben, auf der Straße meistens seltsame Schimpftiraden von sich gab. Bald traten mehrere Zeugen auf, die Ursula Wurm der aberwitzigsten Teufels-Vergehen beschuldigten.

Die grausame Mühle eines Hexen-Prozesses setzte sich für die Frau in Bewegung, aus der es zu 99% kein Entrinnen mehr gab.

Ein vorgeschriebenes Prozessverfahren im 17. Jahrhundert erweckte den Anschein von korrekter Vorgehensweise. An 4. Stelle des Verfahrens stand die Erkundung mittels Tortur nach entsprechender Entscheidung der juristischen Behörde. Die Folter und verschärfte Folter wurde durch den Scharfrichter (Henker) und seinen Gesellen durchgeführt, deren grausamer Phantasie dabei keine Grenzen gesetzt waren. Das Urteil musste durch den Landesherren, in unserem Falle durch den Administrator, bestätigt werden. Erst dann wurde die oder der Unglückliche verbrannt, lebendig gefesselt an einen Pfahl, während die Flammen sich ringsherum entfalteten, bzw. an eine Leiter, die in die schon lodernden Flammen gekippt wurde, oder nach vorherigem Erdrosseln.

Für Schadenszauberer (Hexen) und für Brandstifter war diese Hinrichtungsform vorgesehen.

Nachdem sich der Henker und seine Gesellen zur immer „schärferen Frage“, der verschärften Tortur, gesteigert hatten, gab es für Ursula Wurm nur einen Gedanken: das Ende der Qualen. Nach stundenlanger Folter durch Strecken, Gliederzerquetschen, Rippenzerbrechen und Brennen mit glühenden Eisen gab die gemarterte Frau alles, was die Herren hören wollten, zu Protokoll, z. B. dass sie ihre Zauberkünste vom Teufel gelernt und diese sechs Jahre lang ausgeübt habe. Dabei hätte sie Krankheiten über ein Kind, eine Frau und eine Jugendliche mit Hilfe von Kräutern und Zaubersprüchen gebracht. Vom Teufel habe sie 4 Groschen für den Pakt bekommen und ihm 5 „böse Dinger“ geboren, die sie auch zur Zauberei gebraucht hätte. Als Mitverschworene gab sie zwei bekannte Frauen und ihren Mann an, die auch verhaftet und wahrscheinlich ebenfalls verbrannt wurden.

Nach Verlauf einiger Wochen kam das Endurteil der Ursula Wurm vom Schöffenstuhl in Halle, der vorgesetzten Behörde, die zu der Zeit unter schwedischer Herrschaft stand, und am 10. Juli 1634 wurde sie zur außerhalb der Stadt gelegenen so genannten Radelbreite (heute etwa beim Ärztehaus im Norden der Stadt) gefahren und dort zur Ergötzung und "Abschreckung" des Pöbels und der Bürger öffentlich verbrannt.

Ursula Wurm blieb als die Calbenser "Hexe" in Erinnerung, obwohl es vor und nach ihr andere Unschuldige gab, die wegen unsinniger religiös verbrämter Behauptungen gefoltert und verbrannt worden waren.

1654 lag die Stadt Calbe mit dem Wiederaufbau zerstörter und verlassener Häuser noch weit zurück (vgl. Reccius, S. 58). Der Rat bemühte sich deshalb, die wüsten Häuser zu günstigen Konditionen an neue Besitzer zu bringen. So lag z. B. nach dem Krieg das Gebäude des ersten Gasthofes von Calbe am Markt wüst, aber schon 1652 erwarb es der ehemalige "Wirt vorm Schloßtor", Jacob Brösel, und baute es wieder auf. Der Rat, der am schnellen Wiederaufbau der vielen wüsten Häuser stark interessiert war, gestattete Brösel ein Freibrauen, um ihm die Bau-Finanzierung zu erleichtern. 1653 war der neue Gasthof fertig, im Mai des gleichen Jahres wurde er eröffnet und später „Brauner Hirsch“ genannt.

Auch die St.-Stephani-Kirche (vgl. Station 5) musste nach den Plünderungen und teilweisen Zerstörungen während des Dreißigjährigen Krieges (vgl. oben) wieder saniert werden. Unter dem Bürgermeister Lüdecke und dem Pfarrer Magister Konrad Lemmer, einem Sohn des ersten „Syndicus“ Lemmer (s. oben) wurden mit Hilfe von Stiftungen wohlhabender Bürger die Schäden repariert sowie ein neuer Altar und neue Brautstühle installiert. Schnitzmeister Gottfried Gigas aus Magdeburg, der 1656 den hölzernen Roland geschaffen hatte (s. unten), gestaltete 1658/59 den barocken Hochaltar, dessen Figuren teilweise noch erhalten sind. An Magister Konrad Lemmer erinnert ein zeitgenössisches Holzepitaph in dieser Kirche.

Nach einem kurzzeitigen Versuch der Rekatholisierung des Klosters „Gottes Gnade“ während des Dreißigjährigen Krieges kam es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter die Verwaltung des landesherrlichen Schlossamtes, nachdem Administrator August von Sachsen-Weißenfels wenigstens die Wirtschaftsgebäude wieder aufbauen bzw. reparieren lassen hatte. Die Klosterhauptkirche war nur noch eine Ruine.

Nach der langen „Schwedenzeit“ konnten die Calbenser Bürger aufatmen, sie waren aber durchaus nicht von der im Friedensschluss in Aussicht gestellten neuen Herrschaft Brandenburg-Preußens begeistert. Das lag wohl daran, dass der brandenburgische (Große) Kurfürst Friedrich Wilhelm (Regierung 1640 -1688) schon vor dem Ableben des aufgeklärten Administrators August von Sachsen-Weißenfels (Regierung 1631 -1680) in die Städte des Magdeburger Landes, obwohl ihm diese nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens noch gar nicht gehörten, militärische Besatzungen legte. In Calbe war das nach Urkundenlage 1672 geschehen (vgl. Hertel, S. 42f.). Diese Besatzungen wurden später Garnisonen genannt. Calbe besaß die zweifelhafte Ehre, 133 Jahre lang, bis zum ersten Zusammenbruch Preußens 1805, eine Garnisonsstadt gewesen zu sein (vgl. Abschnitt 1680 – 1805).

Aber schon nach dem Dreißigjährigen Krieg waren häufig Soldaten zur Unterstützung der Beamten in die Stadt gekommen, eine Polizei als Exekutivorgan gab es noch nicht. Diese Soldaten mussten die Bürger arretieren, wenn sie die Steuern nicht bezahlen konnten.

Da die Bürger nach den Vorstellungen Friedrich Wilhelms „ihre“ Soldaten unterbringen und verpflegen mussten, kam es in Calbe zu regelrechten Revolten der Bürger, zumal sie ja nach geltendem Recht noch gar nicht brandenburgisch-preußisch waren. So musste ein Rittmeister Hammerstein mit seiner Reiterschar schon wochenlang auf Kosten der Calbenser unterhalten werden. Es kam zu Empörungen, die Bürger bewaffneten sich und stellten ein viertel Jahr lang Wachen auf, um weiteren Besatzungszuzug zu verhindern. Daraufhin erklärte der Rittmeister die Stadt für feindlich gesinnt und sammelte in den umliegenden Dörfern seine Soldaten, um Calbe einzunehmen. Der für einen späten Abend im Februar 1673 geplante Angriff wurde jedoch von einem Pfarrer aus einem der umliegenden Dörfer den Calbensern verraten. Die anmarschierenden Truppen und die in der Stadt am Schloss und auf dem Markt operierenden Reiter wurden von den Calbensern, die geübte Schützen waren, in die Flucht geschlagen. Hammerstein konnte mit Mühe das eigene Leben retten.

Hier zeigte sich zum wiederholten Male, wie bedeutsam das Calbenser Schützenwesen für die Autonomiebestrebungen und die Selbstverteidigung der Bürger war. Das sportliche Schießen auf einen Spanholz-Vogel fand auch im 16./17.Jahrhundert auf der Radelbreite beim Mägdesprung statt und war mit stattlichen Preisen verbunden (vgl. Abschnitt 1170 – 1542). 1615 wurden Feuerwaffen außer den Armbrüsten angeschafft, um sich in der neuen Waffentechnik üben zu können.

Die Gewaltaktion der Calbenser gegen die Hammerstein-Besatzung konnte aber die Garnisonierungen nicht abwenden; bereits 1677 ließ ein Oberstleutnant von Lichtenhain gegen den massiven Widerstand des Rates und der Bürger auf dem Marktplatz einen Galgen errichten, an dem desertierte und wieder eingefangene Soldaten gehenkt wurden (vgl. Station 18).

Als der brandenburgische (Große) Kurfürst Friedrich Wilhelm daran ging, die Schweden aus dem Lande zu treiben, und 1675 zu der historischen Schlacht marschierte, die als die Schlacht bei Fehrbellin in die Geschichtsbücher eingehen  sollte, versteckten die Calbenser ihr Vieh auf dem Thie vor den brandenburgischen Truppen, obwohl Bereitstellung von Proviant angeordnet worden war. Sie waren aus verständlichen Gründen den Brandenburgern nicht wohl gesonnen. In der Schlacht bei Fehrbellin in der Prignitz wurden die Schweden unter dem alternden General Wrangel so entscheidend geschlagen, dass der Weg für die spätere brandenburgisch-preußische Vorherrschaft in Norddeutschland frei war. Genau am ersten Jahrestag dieser historischen Schlacht starb Wrangel am 25. Juni 1776 auf mysteriöse  Weise in seinem Schloss Spyker auf Rügen. Seine aus Calbe stammende Frau Anna Margareta war schon 3 Jahre vor ihm am 20. 3. 1673 in Stockholm im Alter von 51 Jahren gestorben. In ihrem Testament hatte sie ihrer „Geburts-Stadt Calbe“ eine bedeutende Stiftung zur Linderung der Not der Armen ausgesetzt. Von ihren 13 Kindern starben die meisten frühzeitig. Die Nachkommen einer Tochter leben heute in aller Welt.

1660 hatten sich die Verhältnisse in Calbe so weit stabilisiert, dass eine neue Willkür (s. Abschnitt 1180 -1542) vom Rat herausgegeben werden konnte. Das geschah wohl auch, um sich von der Jurisdiktion der landesherrlichen Beamten abzugrenzen. Allerdings nutzte das nicht viel. Der Rat demonstrierte jetzt Bürgernähe, indem er einen wöchentlichen Sprechtag (Mittwoch) einrichtete, an dem die Klagen der Stadtbewohner gehört wurden. Das war nach den Wunden, die der Dreißigjährige Krieg in der Stadt und Umgebung geschlagen hatte, auch notwendig geworden.

Entsprechend den Erfordernissen der von Humanismus und Renaissance eingeleiteten „neuen Zeit“, die schließlich in das Zeitalter der Aufklärung mündete, leistete sich die Stadt seit 1599 einen „Syndicus“ als Stadtschreiber, das heißt, einen Verwaltungsexperten des Rates, der einen Universitätsabschluss mit Promotion besaß (1593 promovierter Stadtschreiber Rudinger – s. oben). Der erste Syndikus in Calbe war Magister Konrad Lemmer, für den es eine barocke Steintafel am Eingangsportal des Sparkassengebäudes gibt. 1675 war ein Enkel Lemmers, Johann Friedrich Reichenbach, Syndikus in Calbe geworden. Lemmer und Reichenbach brachten es zu erheblichem Wohlstand (vgl. Station 18). Lemmer hatte den nach ihm benannten Lemmerhof (heute Gelände der Sparkasse und westlich dahinter) erbauen lassen. Sein Enkel Reichenbach erbte nicht nur diesen bedeutenden großbäuerlichen Hof am Brumbyer Tor, jener wurde auch später Bürgermeister (s. Abschnitt 1680 – 1815) und konnte sich das Rittergut kaufen. Schon 1601 hatten die langjährigen Besitzer dieses Freihofes inmitten der Stadt (s. Abschnitt 1180 – 1542), die Ritterfamilie von Ha(c)ke, das Gut an die von Ingerslebens verkauft. Wenige Jahre später kam es durch Heirat an die Herren von Haugwitz (vgl. oben Anna Margareta von Haugwitz sowie Stationen 5 und 8).

Die Leiden, die der Dreißigjährige Krieg brachte, hatten den Zwist zwischen Rat und Schlossamt in den Hintergrund treten lassen, nun flammte er wieder auf und dauerte bis zum Eintritt in die „Preußenzeit“ an. Beide Seiten testeten durch empfindliche Hiebe die Schmerzgrenze des „Gegners“ (vgl. Reccius, S. 58 ff.).

 

1645 wurde die mittelalterliche Rolandfigur (vgl. Abschnitt 1170 – 1542 und Station 2) vor dem (neuen) Rathaus in einer Malerrechnung wieder erwähnt. Als sie 1656 total unansehnlich geworden war, erteilte der Rat der Stadt dem Schnitzmeister Gottfried Gigas aus Magdeburg, der 1658/59 auch den barocken Hochaltar in der Stadtkirche St. Stephani (s. oben) gestaltete, den Auftrag, eine hölzerne Rolandfigur zu schaffen. Das im Herbst 1656 angefertigte, 4 Meter hohe Werk wurde vom Rat gekauft,  aufgestellt und alles zu seinem Schutz arrangiert. Sofort gab es Streit zwischen dem Schlossamt und dem Rat der Stadt um die Rechtmäßigkeit der Aufstellung des neuen Rolands. Die Beamten weigerten sich, die Handlungsweise des Rates anzuerkennen, weil sie darin ein erneutes Signal für städtische Autonomiebestrebungen sahen. Erst 1658 kam es zu einem Kompromiss zu Gunsten des Standbildes.

1662 lehnte der Rat das Ansinnen des Schlossamtes ab, dass die Bürger bei der Wildschweinjagd der Schlossbeamten Hilfsdienste leisteten. Auch die Pflasterung der Straßen vor den Toren sei Angelegenheit des Amtes und nicht der Stadt.

1663 wollte der Geleitsmann (= landesherrlicher Zollverwalter) Christoph Deutschbein Bürger in Calbe werden. Er besaß u. a. die einträglichsten Gasthöfe vor den Toren der Stadt, den „Goldenen Stern“ in der Schloss- und den „Goldenen Engel“ in der Bernburger Vorstadt. Die landesherrlichen Zölle und die Konkurrenz durch die gut gehenden Vorstadt-Gasthöfe waren dem Rat ein Dorn im Auge. Als Beamter des Administrators und Angestellter des Schlossamtes sträubte sich Deutschbein dagegen, den Bürgereid zu leisten. Der Rat bestand aber darauf und setzte seinen Willen durch. Der Sohn Christian Friedrich Deutschbein wurde selber Ratsherr und später auch Bürgermeister. Bürger zu werden, war seit 1584 erschwert worden, die Kandidaten mussten nicht nur ein Mahl für die Ratsherren ausrichten, sondern auch eine Bürgschaft und ein Leumundszeugnis beibringen.

1675 gab es Streit wegen eines Schlagbaumes, den der Rat zur Erhebung eines Wegezolles vor dem Brumbyer Tor aufgestellt und den der Geleitsmann Törkler niedergerissen hatte. Der Schlagbaum wurde nach einem Kompromiss mit dem Amt wieder aufgestellt.

1678 maßte sich der Amtmann an, die Rechnungen des Rates zu kontrollieren. Die Ratsherren lehnten das mit der Begründung ab, dass die Kontrolle schon die Sechsmänner vorgenommen hätten.

Als man 1679 die Braut eines Schlossbeamten am Tag vor der Hochzeit mit seidenen Röcken, einer Perlenkette und goldenem Schmuck auf der Straße sah, wurde sie vom Rat wegen Übertretung der Magdeburger Kleiderordnung belangt und verwarnt. Sie war „nur“ die Tochter des verstorbenen Landsteuereinnehmers Wilcke, eines niederen Beamten. Am nächsten Tag war sie die Frau eines Amtsaktuars (Gerichtsschriftführers) und durfte die verbotenen Dinge standesgemäß tragen. Über diese Schikane des Rates beschwerte sich der Bräutigam beim Schlossamtmann.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwand in Calbe auch die Trennung in ehrliche und unehrliche Berufe (vgl. Abschnitt 1180 -1542). Die Bader wurden als Handwerker anerkannt, wohl wegen ihrer zunehmenden Verdienste als „Volks-Ärzte“. Auch das Aufblühen des Apothekenwesens in Calbe gehört in das 16. und das 17. Jahrhundert. Der Rat selber förderte den Bau von Apotheken. Apotheker erhielten landesherrliche Privilegien, um sich vor der Konkurrenz von Kräuterweibern und „Scharlatanen“ schützen zu können. Das erste nachweisbare Calbenser Apothekengebäude des Apothekers Blumstengel befand sich 1672 in der Bernburger Straße 94 (vgl. Station 4).

1675 gab es einen ersten akademisch ausgebildeten Arzt in Calbe, den Physikus Dr. Keyl, der, wie auch seine Nachfolger die Aufsicht über die anderen medizinischen Berufsgruppen in Calbe, die Apotheker, Bader und Hebammen hatte (vgl. Station 10).

1582 war eine neue Schule gebaut worden, anscheinend an der Stelle der alten (vgl. Abschnitt 1180 – 1542), und im 17. Jahrhundert gab es sogar eine Mädchenschule in Calbe (vgl. Reccius, S. 38, S. 57).

Zwei hallische Fuhrunternehmer richteten 1670 mit Genehmigung der landesherrlichen Regierung einen regelmäßigen Postverkehr auf der Straße zwischen Magdeburg und Halle über Calbe ein, der die Strecke zweimal in der Woche bewältigte. 1671 schloss sich ein weiterer Fuhrunternehmer an, so dass die Strecke nun dreimal in der Woche befahren werden konnte. Befördert wurden Personen, Briefe, Päckchen und Frachtgut (vgl. Station 9, Reccius, S. 59 f.).

Die Stadt war noch von Stadtmauern mit Toren und Türmen umgeben. Diese wurden erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts abgetragen. Das Schloss war ganz im Sinne des Barock mit vielen Erkern und Türmen versehen worden, die aber in den nächsten hundert Jahren verfielen und unter preußischer Ägide wieder abgetragen wurden.

 

Alte Karten weisen auf ein auch im frühneuzeitlichen Calbe schlecht gelöstes Problem hin: das der Kanalisation und Entwässerung. Abwasser musste entsorgt, aber auch das Wasser aus dem vor der Stadt im Westen liegenden sumpfigen Gebiet des Soolbrunnens abgeleitet werden. Hävecker berichtet, dass sich in den kleinen Gassen furchtbar stinkende Wasserschleusen befanden, eine Quelle für die Seuchen jener Zeit (s. oben). Eine davon hieß die Federpfütze, die heutige Kanalgasse. Dort sei, so erzählte der Chronist Hävecker, schon des öfteren ein Gespenst gesehen worden, das Reitermännchen in Gestalt eines Mannes ohne Kopf.

Die beiden Vorstädte behielten auch weiterhin den Status von Dörfern. Die Schloss-Vorstädter waren bis auf ganz wenige Ausnahmen bettelarm, sie besaßen nur 31 Morgen Ackerland, das vorwiegend der gärtnerischen Selbstverorgung dienen musste. 1660 wurden in den 42 (- in der Mehrzahl -) armseligen Haushalten sieben Kühe, zehn Schafe, zehn Schweine, ein Pferd und einige Hühner gezählt (vgl. Dietrich, Gang..., S. 2 und Station 13).

Am Schluss dieses Kapitels können noch einige „Schlagzeilen“ dazu dienen, einen vertiefenden Einblick in das Leben der Calbenser zu jener Zeit zu erhalten (vgl. Reccius, S.38ff.).

Die Saalemühle, die 1561 schon 6 verschiedene Mahlwerke besaß (vgl. Hertel, Geschichte..., S. 214 und Station 3), war unter dem ersten Administrator Joachim Friedrich 1595 (s. oben) neu errichtet worden. Die Stadtkirche St. Stephani erhielt 1561 einen Taufstein und eine Kanzel im Renaissance-Stil, die von dem Aderstedter Baumeister und Steinmetz Urban Hachenberg angefertigt worden waren. Durch schweren Eisgang wurde 1571 die Brücke über die Saale, welche später Banér zerstören ließ, weggerissen. Der Gemüseanbau hauptsächlich von Zwiebeln („Seppeln“, später „Bollen“), Grünkohl und Mohrrüben nahm erheblich zu (1591). Nachdem die alten Flutrinnen, auch die von Joachim Friedrich 1595 geschaffene, schnell wieder versandeten, scheint die 1605 gebaute Schleusenanlage besser konstruiert gewesen zu sein, denn sie funktionierte im wesentlichen bis zum Ende des Jahrhunderts. Fremde Fuhrleute versuchten die Wegezölle zu umgehen und legten Umgehungs-Fahrwege jenseits der Westmauer an (1652), aus denen später die Magdeburger und die Arnstedt-Straße entstanden. Erwischte Sünder wurden zu erheblichen Strafen verurteilt, befreundete Fuhrmänner aus Nachbarstädten kamen jedoch manchmal mit milden Bußgeldern davon. Dem Ratsherren (Kämmerer) Arnold Steinhaus(en) gelang 1655 das Brauen des danach in Calbe sehr beliebten Breyhans, eines Starkbieres, nach einem alten hannoverschen Rezept von 1526; Patentschutz gab es noch nicht (vgl. Station 4). Der Glöckner der Stadtkirche wurde fristlos entlassen, weil er im „Goldenen Stern“ mit dem Henker, mit dem noch im 17. Jahrhundert nach alter Sitte niemand verkehren durfte, Bruderschaft getrunken hatte (1662). Ärmere Bürger verkauften immer häufiger an reichere ihr Braurecht, was mehr und mehr zur Monopolisierung führte (seit 1665). Zu Ostern 1676 feierten junge Leute aus der Stadt zusammen mit Soldaten auf der Wunderburg ein uraltes Erweckungsfest (vgl. Abschnitt Um 2000 v. Chr. bis 9. Jahrhundert n. Chr. und Station 22). Das war wahrscheinlich das letzte Mal, denn die Teilnehmer wurden bestraft, der anführende Schneidermeister zu einer sehr hohen Geldstrafe verurteilt und dergleichen Rituale streng verboten. Während die katholische Kirche jahrhundertelang diesen alten Volksbrauch sogar gefördert hatte, untersagte der protestantische Pietismus solchen „Aberglauben“. 1679 richtete ein Großfeuer in der Bernburger Vorstadt großen Schaden an.

 

5. Abschnitt: 1680 bis 1815 (Calbe unter Preußens „Gloria“ bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft)

 

Am 4. Juni 1680 starb der letzte Administrator des Erzstiftes Magdeburg, August von Sachsen, in seiner Lieblingsresidenz in Halle. Nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens übernahm der brandenburgische Kurfürst von diesem Zeitpunkt an unser Territorium als Herzogtum Magdeburg.

Während 1680/1681 im gesamten Herzogtum die Pest grassierte, wurde Calbe davon nicht so stark betroffen. Deshalb zogen die neue Kurfürstliche Regierung und das Konsistorium vorübergehend nach Calbe. Die Huldigungsfeiern von 1680 wurden auf 1681 verschoben. Trotz der immer noch herrschenden Gefahr ließ sich der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm dann doch zusammen mit seiner Gemahlin in Magdeburg, Calbe (auf dem Schloss) und Halle im Mai 1681 huldigen (vgl. Station 6).

Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620, Reg. 1640-1688)

Mit der Zugehörigkeit zu Brandenburg, das seit seinem Sieg im 1. Nordischen Krieg 1660 auch das bislang polnische Herzogtum Preußen besaß, begann für das Magdeburger Land ebenso wie für andere norddeutsche Gebiete ein tiefgreifend neuer Abschnitt in der Geschichte.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg leitete Friedrich Wilhelm, genannt der Große Kurfürst, den Wiederaufbau des maroden Staates Brandenburg ein. In der Folge suchte er sein unzusammenhängendes Territorium zu arrondieren; dazu baute er zum einen ein stehendes Heer auf, zum anderen wechselte er in der Außenpolitik je nach Nutzen die Fronten. Zur Finanzierung seines Heeres errichtete er eine absolutistisch zentralisierte Domänen-, Steuer- und Kriegsverwaltung sowie ein merkantilistisches Wirtschaftssystem; einen entscheidenden Impuls bekam das brandenburgisch-preußische Wirtschaftsleben durch den Zuzug Tausender Hugenotten, die Friedrich Wilhelm mit dem Edikt von Potsdam 1685 in Brandenburg aufnahm und hier ansiedelte (vgl. Teil 2). 1675 besiegte er bei Fehrbellin die Schweden, die in Brandenburg eingefallen waren (vgl. Abschnitt 4).

Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg (1657, Reg. 1688-1713) als Friedrich I. „König in Preußen“ (Reg. 1701-1713)

 

Unter seinem Sohn Friedrich I., der sich in Königsberg zum „König in Preußen“ krönte, wurden Kunst und Wissenschaft gefördert (Universität Halle, Akademie der Künste in Berlin, Preußische Akademie der Wissenschaften auf Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz, Charité in Berlin). 1689 besuchte der Kurfürst Calbe auf dem Weg von Halle nach Magdeburg und war vom „Cälbischen“  Bier so angetan, dass er sich Fässer davon nach Berlin kommen ließ.

König Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688, Reg. 1713-1740)

 

Friedrichs Sohn, König Friedrich Wilhelm I., der ein sparsames Leben und einen bürgerlich einfachen, vom Pietismus geprägten Hof führte, in dessen Mittelpunkt die Arbeit für den Staat stand, hielt ein großes stehendes Heer für unabdingbar, weshalb er Wirtschaft und Verwaltung des Landes auf den Ausbau und die Organisation dieses Heeres ausrichtete. Unter Friedrich Wilhelm, dem „Soldatenkönig”, erhielt Brandenburg-Preußen eine vornehmlich militärische Ausrichtung, und unter seiner Regierung wurde die Schicht der pflichttreuen, gewissenhaften und ordentlichen Staatsbeamten herangezogen. Diese preußischen Tugenden gingen schließlich auch bald auf die Untertanen über. Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Disziplin und Loyalität wurden zu bewunderten und belächelten sittlichen Eigenschaften der Preußen und darüber hinaus der künftigen Deutschen.

Friedrich Wilhelms Sohn, der als König Friedrich II. (der Große) in die Geschichte einging, zeigte sich für die Ideen der Aufklärung recht aufgeschlossen. Dank seiner militärischen Erfolge und seines diplomatischen Geschicks stieg unter ihm Preußen zur europäischen Großmacht auf. Friedrich fühlte sich als „aufgeklärter“ Monarch und in der Hierarchie des Verwaltungsapparates als oberster Beamter („erster Diener“). Er führte ein straff organisiertes merkantilistisches Wirtschaftssystem und eine strenge Steuerpolitik ein, um die Staatseinnahmen anzuheben. Friedrich der Große regierte absolut mit Hilfe seiner Kabinettsräte, sah sich sowohl humanitären Ideen, der religiösen Toleranz und der Wohlfahrt seines Volkes als auch der Staatsräson verpflichtet und förderte zeitlebens Wissenschaft und Künste.

König Friedrich II. (1712, Reg. 1740-1786)

Unter seinem Neffen König Friedrich Wilhelm II. (1744, Reg. 1786-1797), der den Ideen der Aufklärung feindlich gegenüber stand, ging es wegen seiner und der Unfähigkeit des von ihm berufenen Kabinetts mit der Wirtschaft und dem außenpolitischen Ansehen Preußens wieder bergab.

Die Zentralisierung  und Bürokratisierung des Landes durch die großen Preußenherrscher bekam auch sehr schnell die Kommune Calbe zu spüren. Als erste Verwaltungsmaßnahmen wurden 1685 die statistische Erfassung der Bevölkerung des neuen Herzogtums Magdeburg, später (1726) die Vermessung der Gemarkung Calbe sowie der Ämter durchgeführt und ein neues Kataster angelegt. Aus dem bischöflichen Schlossamt wurde 1685 das Amt Calbe; es wurde von Beamten, die hier wie überall in Brandenburg-Preußen gut davon leben konnten, erblich gepachtet (wenn nicht anders vermerkt, stammen die meisten Angaben aus Reccius, Chronik…, a. a. O., S. 61ff.). Am Ende des 17. Jahrhunderts waren aus den Vögten und Schlosshauptmännern des Mittelalters preußische Amtmänner geworden (vgl. Hertel, S. 172). Sie hatten meist den akademischen Titel Lizentiat oder Magister erworben und waren von ihrem König zu Königlich Preußischen Räten ernannt worden. Die zur Loyalität gegenüber König und Staat verpflichteten Beamten wurden die wichtigsten Stützen Preußens. In den ersten Jahren, als es noch Amtspächter gab, die keine juristische Ausbildung hatten, wurden ihnen Justitiare zur Seite gestellt (vgl. Hertel, S. 173). Für den anspruchsvollen Lebensstil der höheren Beamten mussten die vielen dem Amt untertänigen hörigen und leibeigenen Bauern die wirtschaftliche Grundlage durch ihre Abgaben und Dienste schaffen. Den Amtmännern unterstanden die beiden Vorstädte sowie die Dörfer Biere, Eickendorf, Eggersdorf, Brumby, Zens, Micheln, Maxdorf, Elmen, Salze, Zuchau und Gramsdorf (vgl. Hertel, S. 175).

1708 wurde der jährlich wechselnde Rat auf Befehl des Königs in einen ständigen Magistrat (Mitglieder auf Lebenszeit) umgewandelt. Er bestand 1708 aus zunächst 5 Personen, dem Bürgermeister, Rittergutsbesitzer und Steuerdirektor Reichenbach, dem Kämmerer, einem Akziseeinnehmer, den 2 Ratmännern, einem Stadt- und Landrichter und einem Gutspächter und dem Syndikus. Später kam noch ein Zweiter Bürgermeister dazu, so dass es 6 Magistratsmitglieder wurden. In friderizianischer Zeit ergänzte man den Magistrat durch die Sechsmänner. Schon am ersten Magistrat wurde deutlich, dass es bei den neu geschaffenen städtischen Verwaltungsorganen auf staatliche Beamte, die zur Loyalität gegenüber König und Staat verpflichtet waren, ankam. 

Entsprechend den militärischen Ambitionen der Könige, die Magdeburg zur zeitgemäßen Festung ausbauen wollten, wurde 1714 die Landesregierung von Halle wieder nach Magdeburg verlegt. Zum Festungsbau musste auch die Stadt Calbe auf königlichen Befehl 1704 beisteuern, mit der erheblichen Summe von 1047 Talern.

Die Wohnung des Försters, die so genannte Heidereiterei, wurde 1709 aus der Schlossvorstadt an den Wald von Schwarz verlegt, um Wilddiebereien und Holzdiebstähle leichter verhindern zu können. Zur genauen Erfassung des Güterverkehrs wurden schon 1698 amtliche Torschreiber eingesetzt. Im gleichen Jahr erhielten auch ausgebildete Schreib- und Rechenmeister zur Unterweisung des Magistrats und der anderen Beamten freie Wohnungen in Calbe. Zur Verbesserung der Kommunikation von „oben nach unten“ und umgekehrt gab es seit 1713 Landreiter. Seit dem Soldatenkönig hießen die vorgesetzten königlichen Landes-Beamten (in unserem Falle in Magdeburg) „Kriegs- und Domänenräte“, denn Friedrich Wilhelm I. hatte 1722 ein „schlankes Superministerium“, das „Generaloberkriegs- Finanz- und Domänendirektorium“, geschaffen, das alle Aufgaben der Wirtschaft, Verwaltung und des Militärs mit minimalem Aufwand zentralistisch zu realisieren hatte. 1715 reiste der Kriegs- und Steuerkommissar Rudloff extra aus Magdeburg an, um den auf dem Rathaus versammelten Bürgern eine Reihe neuer königlicher Verfügungen bekannt zu geben. In Zukunft besorgte das, wie inzwischen auch in anderen Städten, ein Ausrufer, der aber auch gleichzeitig das derzeitige Warenangebot mit Preisen kundtat. 1717 und 1723 wurden scharfe Bestimmungen gegen die „Zuchtlosigkeit der Jugend“ in Calbe verkündet, und 1739 kam die Anweisung des Kriegs- und Domänenrates aus Magdeburg, dass die Bürger mindestens  einmal wöchentlich die Straße vor ihrem Hause fegen mussten. Den alten Streit, wie er seit dem Mittelalter zwischen dem erzbischöflichen Schlossamt und dem städtischen Rat geführt worden war, wollten auch die Ratsmänner „gewohnheitsmäßig“ weiter führen. Sie hatten wohl noch nicht ganz begriffen, dass es sich beim brandenburgisch-preußischen Zentral- und Beamtenstaat um eine neue Qualität der Administration handelte. In alter Manier verwahrte sich Stadt-Syndikus Reichenbach 1689 dagegen, dass die Bürger dem Amtspächter, der zum Stadt- und Landrichter ernannt worden war, juristisch unterstellt sein sollten, zumal dieser rechtsunkundig war und deshalb de facto der Amtsaktuar die Rolle des Richters versah. Im weiteren wurde der Aktuar sogar als Feind des Rates denunziert, und die Amtsseite bezichtigte den Syndikus des Aktendiebstahls. Besonders erbost waren die Bürger darüber, dass der Herr Amtsaktuar die Gerichtsverhandlungen „aus Bequemlichkeit“, wie sie meinten, im Schloss durchführte. So konnte aber der Streit zwischen preußischen Beamten und Untertanen nicht weitergehen; 1722 erschien deshalb der Magdeburger Königliche Kriegsrat Horn „vor Ort“ in Calbe und machte klar, dass es um handfeste Interessen des Staates und der Wirtschaft und nicht um kleinkarierte Rechthabereien der Stadtoberschicht ging. So entschied er u. a. gegen die Ratsherren für den Verbleib eines Jungen in der Tuchmacher-Lehre, obwohl dieser 6 Monate nach der Hochzeit seiner Eltern geboren, also unehelich gezeugt worden war. Außerdem verlangte der hohe Beamte wieder einmal die Beseitigung der Misthaufen von den Straßen und gab baupolizeiliche Befehle.

1730 bekam der Magistrat schließlich einen Königlich Preußischen Rat als Beigeordneten des zweiten Bürgermeisters, der durch den Kriegsrat Horn in sein Amt eingeführt wurde. Es dauerte aber immerhin noch bis 1799, dass dem Magistrat und seinem Syndikus jegliche juristischen Befugnisse (z. B. Testamentsannahmen) entzogen wurden; 1816 wurde das Amt des Syndikus ganz abgeschafft.

Besonders unter Friedrich II. wurde die Justiz entsprechend den Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus reformiert. Der König war stolz darauf, dass in seinem Staat jeder Untertan sein Recht fand. Wie stark sich die Situation verändert hatte, zeigt eine Aktennotiz von 1747, dass der Bürger Valtin Siedentopf einen Verweis erhielt, weil "er wiederholt seine Magd mit Schlägen gar übel traktieret". Als Siedentopf zur Entschuldigung behauptete, die Magd habe ihn bestohlen, erklärte der Magistrat, "er habe dergleichen der Obrigkeit zur Bestrafung zu melden und dürfe sich nicht eigenmächtig Satisfaktion verschaffen". 5 Tage Arrest erhielt Siedentopf dann doch noch, als er verkündete, "er scheiße auf den Magistrat".

Um mehr Hafträume zu schaffen, baute man in Calbe 1805 den Turm am Brumbyer Tor in ein zweites städtisches Gefängnis um (vgl. Hertel, S. 114).

In preußischer Zeit war der erst 1656 neu errichtete, gute alte Roland (vgl. Abschn. 4) nur noch ein Schmuck- und Schaustück geworden, der an einstige große Zeiten städtischer, wenn auch nur teilweiser Eigenverantwortlichkeit erinnerte.

Noch 1688 war in Calbe der lahme Meister Stoppel wegen eines 19jährigen Paktes mit dem Teufel!!! verbrannt worden (vgl. ebenda, S. 103). Eine der ersten Amtshandlungen nach Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. war 1714 das Verbot der Hexenprozesse. 1715 bekam der Henker den Befehl, die Brandsäule an der Radelbreite im Norden vor der Stadt zu beseitigen. Auch andere mit Quälereien verbundene Hinrichtungsarten wie das Rädern wurden in Preußen verboten. Schandsteine und Pranger blieben aber bestehen. Die Übertretung der ständischen Kleiderordnung genügte, um hart bestraft zu werden. 1723 hatte es die Magd Marie Golitz gewagt, auf der Straße eine Baumwollschürze!!! zu tragen. Deshalb musste sie mit umgehängter Schürze drei Tage!!! am Pranger stehen. Das harte Vorgehen gegen die „Putzsucht“ der Mägde, das uns in den Annalen jener Zeit öfter begegnet, hatte aber auch etwas mit dem Vordringen des preußischen Pietismus und seiner Schmuckfeindlichkeit zu tun (vgl. weiter unten).

Von 1700 bis 1780 stand der Galgen im Bereich der heutigen Kleingärten hinter der Bahnbrücke links auf der Höhe der Gärtnerei. Diese Gegend 300 m westlich hinter der Bahnlinie hieß damals die "Amtsbreite", "Galgenbreite" oder "Vor dem Gericht". Der Galgen bestand aus drei gemauerten Säulen, auf denen oben ein mit Haken versehener Querbalken lag. Eine Leiter diente den Gesellen des Henkers dazu, die Stricke für die Delinquenten anbringen und die Gehenkten wieder abnehmen zu können. Der durch den Richter der Regierung Verurteilte wurde auf einem zweirädrigen Karren aus der Stadt gefahren und durch den Nachrichter (Henker) an diesem Gerüst gehenkt. Die Leichen der Hingerichteten wurden an Ort und Stelle unter dem Galgen verscharrt oder an eine Universität zu wissenschaftlichen Zwecken geliefert (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 41). Nach 1780 scheint Calbe keine eigene Hinrichtungsstätte mehr gehabt zu haben. Die Zeit der Aufklärung hatte wie in anderen preußischen Städten die Zahl der Hinrichtungen, vornehmlich der öffentlichen, deutlich zurück gehen lassen.

Aus dem „unehrenhaften“ mittelalterlichen Beruf des Henkers war der Posten eines Nachrichters geworden, der als preußischer Beamter seine Tochter auf eine höhere Schule schicken konnte und dessen Sohn Dr. med. wurde, wie man am Beispiel des Scharfrichters Kahlo im 18. Jahrhundert sehen konnte. Der anrüchige Beruf des Abdeckers oder Schinders, den der Nachrichter seit dem Mittelalter meist mit ausübte, hieß nun „Caviller(vgl. Hertel, S. 98). Auch die Cavillerei und die Nachrichterei waren Erbpachtämter geworden.

Wie die Könige in anderen führenden europäischen Ländern orientierten sich die preußischen Fürsten und Monarchen ebenfalls auf das merkantilistische Wirtschaftssystem, um ihr Land reich und unabhängig zu machen. Das in Preußen auch Kameralismus (frühe Form der Volkswirtschaftslehre) genannte System setzte hier auf eine möglichst starke aktive Handelsbilanz durch Schutz der eigenen Warenproduktion und auf Peuplierung (Einwanderungspolitik).

Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung war erst einmal die Einführung einheitlicher Maße. 1714 wurde in Calbe bekannt gegeben, dass von nun an im Lande die so genannten Berliner Maße galten. Die Hohlmaße Scheffel und Metze wurden geeicht und durch einen Wagemeister beaufsichtigt. Wegezölle und mit ihnen die Zollbeamten, die seit dem Mittelalter immer noch Geleitsmänner genannt wurden, bekamen wieder eine große Bedeutung. Um die seit alten Zeiten bevorzugte Umgehung des Wegezolls an der Westseite der Stadt vorbei zu unterbinden, legte die königliche Regierung die Fernverkehrsstraße in Richtung Halle durch das Brumbyer Tor, wo auch ein Zollhaus errichtet wurde. 1693 wurde dieser neue Weg mit Steinen aus Glöthe gepflastert.

Die Bürger waren mit einer Vielzahl von Steuern belegt, die von Akzise- und Steuerbeamten erhoben und eingetrieben wurden. Unter Akzisen verstand man indirekte Verbrauchersteuern, die besonders auf Güter des täglichen Bedarfs oft gleich vor den Stadttoren erhoben wurden und wie eine heutige Mehrwertsteuer eine Preiserhöhung bewirkten. Daneben gab es die direkten Steuern (Kontributionen zum Aufbau und Unterhalt der riesigen Militärmaschine), besonders die Grundsteuern. Die große Schar der niederen Steuer- und Verwaltungsbeamten musste selber aus den Steuergeldern, wenn auch recht schmal, entlohnt werden, da sie keine Gutspächter waren. Die äußerst geringe Besoldung der niederen Beamten, die man damals noch allgemein Offizianten oder Staatsdiener nannte, wurde durch die „Ehre“, dem preußischen Staat zu dienen, durch die klingenden Titel wie „Königlicher Rat“ oder Steuerkommissar und die Aussicht auf eine sehr bescheidene Pension wieder wett gemacht. Außerdem hatte jeder in der preußischen Beamtenhierarchie die Möglichkeit, sich durch besonderen Fleiß ein Stück weit auf den raffiniert ausgeklügelten Stufen nach oben zu dienen, zu avancieren, wie es hieß.

Um Warensteuer-Hinterziehungen durch Schmuggel zu verhindern, erging 1722 der königliche Befehl an die Calbenser, Türen zur Saale hin zuzumauern.

Wer in eine andere Stadt ziehen wollte, musste ein Wegzugsgeld in der drastischen Höhe von 10 Prozent seines Gesamtvermögens bezahlen (1711).

Gepflasterte Fernverkehrsstraßen waren bis zum Tode Friedrichs II. wegen der immensen Kosten (10 km befestigter Straße kosteten 53 300 Taler) verpönt. Erst nach Friedrich dem Großen entstanden die ersten Chausseen nach französischem Vorbild. 1788 war in der Nähe Calbes die bedeutende Magdeburg-Leipziger Chaussee (heute: B 6, B 71) auf Befehl Friedrich Wilhelms II. gebaut worden. Innerhalb Calbes waren schon seit der Zeit Friedrichs I. neue, allerdings unbefestigte Straßen entstanden. Nach Abriss der südlichen Stadtmauer wurde 1697 die „neue Straße“ (heute: Neustadt) und nach Zufüllen des nördlichen Grabens 1710 die Koloniestraße (heute: Grabenstraße) angelegt. An der Westseite um die Stadt herum wurde 1695 eine Straße gebaut, allerdings ohne königlich-staatliche Unterstützung. Die Könige beschränkten sich darauf, die Städte und Landadligen durch Verordnungen zum Bau von Straßen zu verpflichten, was aber oft an deren leeren Kassen scheiterte. Die Pflasterung der wichtigsten Straßen innerhalb der Stadt begann erst unter Friedrich Wilhelm II., die der Grabenstraße erfolgte 1788. Die Straßenpflasterung in Calbe ging 1798 weiter zügig vonstatten, die Steine kamen aus Rothenburg bei Könnern saaleaufwärts per Schiff.

Hotel „Schwarzer Adler“ 1927

Die preußischen Könige bzw. ihre Beamten achteten streng auf die Benutzung der vorgeschriebenen Verkehrswege, dass ihnen auch keine einzige Zoll- und Steuerabgabe entging. Zur Versorgung der Fuhr- und Handelsleute erging 1697 der kurfürstliche Befehl, entlang dieser Magistralen „gute Gasthöfe“ zu bauen. Vor dem Brumbyer Tor wurde im gleichen Jahr für 858 Taler der „Rote Adler“ gebaut, der an einen Posthalter und Gastwirt verpachtet wurde. Später wurde der Gasthof nach dem preußischen Wappentier „Schwarzer Adler“ genannt. Man baute im 19. Jahrhundert das Gebäude zu einem Hotel um und nutzte es nach 1945 als Geschäfts- und Wohnhaus.

Um den großen Verwaltungs-, Wirtschafts- und Militärapparat effizient in Gang zu halten, war eine gute Kommunikation vonnöten. Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte trotz Widerspruchs des Kaisers und des Reichs-Erbpostmeisters, Graf von Thurn und Taxis, die Postverwaltung in seinem Territorium als sein Regal behauptet. Er hob den Reichs-Botendienst in seinem Land auf und setzte an dessen Stelle eine wöchentlich zweimalige Geschwindpost und eine langsame Post zwischen Magdeburg und Halle ein. Alle diese Posten mussten die Fähre bei Tippelskirchen passieren. Als der König 1711 eine andere Poststrecke über Bernburg einrichtete (vgl. Hertel, S. 125 f.), fielen bei dieser Route die

Verzögerung und die Unwägbarkeiten durch den Fährbetrieb weg. Calbe hatte schon 1686 ein kurfürstliches Postamt bekommen, weil es an der Strecke Magdeburg-Halle lag. Der erste Calbenser Postmeister war Johann Bertram. Später hatte es der Postmeister Förster bis zum Titel eines Hofrates gebracht. Er wurde 1739 zum Bürgermeister ernannt, ein Zeichen für die hohe Wertschätzung des preußischen Postwesens.

Unter Friedrich I. wurden die Postfrequenzen stark erweitert, und 1713 erließ Friedrich Wilhelm I. die erste preußische Postverordnung, zu der er sich preußisch knapp äußerte: „ …sollen Posten anlegen in Preussen von Ort zu Ort, ich will haben ein Landt, das kultivieret sein soll, [ge]höret Post dazu.“ (nach: Preußen - Chronik eines deutschen Staates, http://www.preussen-chronik.de)

Befördert wurden nicht nur staatliche, sondern auch private Nachrichten sowie private Personen und Güter. Das brachte viel Geld in die Staatskasse. Von Postmeistern versorgte Poststationen lagen ungefähr 4,6 bis 5 preußische Meilen (Meile = 7,5325 km) voneinander entfernt. Das entsprach bei den schlechten Straßenverhältnissen einer Tagereise mit dem Postwagen. Um von Calbe nach Magdeburg zu kommen, war für einen im 18. Jahrhundert mit der Post Reisenden also ein Tag einzuplanen, und von Calbe nach Halle waren es zwei Tage.

Schon 1740 brachte das staatliche Postunternehmen 220 000 Taler Reingewinn. Die Verordnungen Friedrichs II. von 1766 für das Postwesen und die Postmeister regelten alle Dienstvorgänge peinlich genau, und bei Friedrichs Tode hatte die Post während seiner Regierungszeit 20 Millionen Taler erwirtschaftet, und das trotz des schlechten Straßenzustandes.

Nachdem die Saaleschifffahrt im Dreißigjährigen Krieg fast völlig zum Erliegen gekommen und die Schleuse von 1605 (vgl. Abschnitt 4) ziemlich verfallen war, befahl Kurfürst Friedrich 1695 den Bau einer neuen, mit Steinen befestigten Schleuse. Sie wurde etwas weiter nördlich von der alten Anlage ausgeführt. Insgesamt mussten 7 Schleusen von Halle bis zur Saalemündung angelegt werden (Calbe war die letzte), was enorme Summen verschlang (vgl. Hertel, S. 233). Da Steine knapp und teuer waren, wurde kurzerhand auf kurfürstlichen Befehl die Hauptkirche des ehemaligen Klosters „Gottes Gnade“ von Osten her Stein für Stein abgetragen und das Material (im Wert von 5000 Talern) einschließlich romanischer Verzierungen und gotischer Skulpturen im Schleusenbett verbaut. Die große Glocke, die schon in der Reformationszeit eine  pikante Rolle gespielt hatte (vgl. Abschnitt 3), wurde bei dieser Gelegenheit auch gleich mit abtransportiert. In Berlin schmolz man die Gottesgnadener Glocke ein und goss daraus zwei Glocken für die Bethlehemkirche der böhmischen Exilanten (vgl. Station 12).

Die 1695/96 in Betrieb genommene Schleuse wurde bis 1891genutzt.

Bald kam die Schifffahrt wieder in Gang, und 1704 passierten durchschnittlich 10 Schiffe Calbe (vgl. Hertel, S. 246). Die Saaledeiche wurden verbessert und ausgebaut. Als Beamter war ein Deichinspektor eingesetzt worden.

Der Umschlaghafen der Stadt lag am Mühlgraben auf dem Schlossanger. Hier war 1700 eine Schiffswerkstatt eingerichtet worden.

Um die Zölle an der Saalemündung zu umgehen, hatte sich König Friedrich Wilhelm I. in die Idee eines Abkürzungs-Kanals von Calbe nach Frohse verliebt. Das so genannte Saalhorn, die Mündungsstelle der Saale in die Elbe, befand sich mit einer dynastischen Nebenlinie, dem Hause Sachsen-Barby, in kursächsischer Hand. Hier traf man auf einen bedeutenden Umschlagplatz des gesamten Salz-, Holz- und Kohlehandels, aber hier wurde von den Kur-Sachsen auch kräftig durch Zölle abkassiert.

Der sparsame Soldatenkönig wollte also nicht nur die Schifffahrtswege verkürzen, sondern in erster Linie den konkurrierenden Kursachsen ein Schnippchen schlagen, wenn er einen geraden Kanal von der Bernburger Vorstadt an Calbe entlang bis nach Frohse bei Schönebeck bauen ließ. Damit musste der Preuße aber nicht nur in Konflikte mit dem Hof in Dresden kommen, sondern auch mit dem Fürsten Johann August von Anhalt-Zerbst, einem Onkel der späteren russischen Zarin Katharina II., dem unter anderem auch das Gebiet um Klein-Mühlingen gehörte. Diese Enklave in preußischem Gebiet wurde bei dem Projekt unweigerlich durchschnitten. Unter diesem schlechten Stern der drohenden Auseinandersetzungen mit zwei nachbarlichen Territorial-Mächten, den Anhaltinern und den Kursachsen, wurde der Kanalbau in Angriff genommen.

Schon am 23. Januar 1726 war der ausgearbeitete Plan für den Kanalbau dem König vorgelegt worden. Für Anwerbungen, Anmeldungen und Anweisungen wurde der Oberstleutnant von Wallrave, gleichsam als Koordinator und Bauleiter, in der Anfangsphase verantwortlich gemacht. Bereits am 4. Mai 1725 hatte Wallrave zusammen mit dem Magdeburger Kammerpräsidenten von Katte und anderen Regierungsmitgliedern das in Frage kommende Terrain zwischen Frohse und Calbe besichtigt. Insgesamt veranschlagte man als Baukosten 200 000 Taler, die erste Zahlung von vorläufig 50 000 Talern erfolgte am 29. Juni 1726. Um zu sparen, wurden die Steine der schon halb abgebrochenen Stiftskirche in Gottesgnaden (s. oben) restlos abgetragen. Sie sollten zum Bau der 5 Schleusen benutzt werden. Die Strecke war in 139 Stationen zu je 30 Ruten (etwa 120 bis 150 Meter) eingeteilt worden. Die Kanaltiefe sollte durchschnittlich etwa 5 Meter betragen, die Breite an der Sohle 10 Meter.

Beim Baubeginn in Frohse am 3. Februar 1727 waren die neu ernannten Kanalbau-Kommissionsräte Fürst Leopold II. von Anhalt-Dessau (der "Alte Dessauer"), Gouverneur der Magdeburger Festung, sowie die Kriegs- und Domänenräte Kollern und Wernicke anwesend. Vom Februar stieg die Zahl der Arbeiter innerhalb weniger Wochen von mehr als 1000 auf 2500. Diese hier nie zuvor gesehenen Arbeitermassen wurden in Calbe, Schönebeck, Salze, Frohse, den umliegenden Dörfern und verschiedenen Gasthäusern untergebracht. Von ihrem Arbeitslohn zahlte man ihnen immer nur einen geringen Teil aus, damit sie auch bis zum Schluss beim Kanalbau blieben.

Im März gingen die Arbeiten zügig voran, und am 1. April fand ein Ortstermin aller Hauptverantwortlichen mit dem Alten Dessauer in Calbe statt, um den Kanalverlauf bei möglichst geringem Häuserverlust festzulegen. Das Kanal-Bett sollte westlich neben der heutigen Arnstedt- und Magdeburger Straße entlangführen. Beim erneuten Ortstermin der Verantwortlichen am 2. Mai in der Bernburger Vorstadt trennten nur noch wenige Meter das Kanalbett von der Saale. Ein Teil des Laurentiusfriedhofs und zwei Häuser an der Bernburger Straße waren dabei geopfert worden. Nachdem nun die Hauptarbeiten beendet waren, wurden die Arbeiter großenteils, bis auf 400, die an den Wasserpumpen und Rammen bleiben mussten, entlassen. Der Ausbau der Schleusen und die Durchstiche bei Frohse und Calbe wurden erwartet.

Doch am 28. Juli hieß der Befehl: Arbeiten am Kanal bis auf weiteres einstellen und alle Arbeiter entlassen. Die ein Jahr zuvor ausgezahlten 50 000 Taler waren bis auf 149 Taler verbraucht worden. Der König gab zerknirscht mit den "preußisch" knappen Worten auf: "Soll cessiren [aufhören, Schluss machen], schade daß das Geld soll in Dreck geschmissen werden." (Dietrich, Ruhestätten, S. 21).

Wahrscheinlich trugen diplomatische Interventionen und hohe Entschädigungsforderungen des Fürsten von Anhalt-Zerbst für die Nutzung seiner Mühlinger Enklave (s. oben) dazu bei. Es waren aber wohl hauptsächlich die massiven wirtschaftlichen Drohungen Augusts des Starken, des mächtigen kursächsischen Herrschers, gewesen, die Friedrich Wilhelm I. in die Knie gezwungen hatten. Zum Abbruch trug sicher auch die Berechnung der erheblichen Erhaltungskosten des langen Kanals (17km) bei.

1799 wurde der Plan des Kanals erneut von der Magdeburgischen Kammer aufgegriffen, was bei Friedrich Wilhelm III. von Preußen begeisterte Zustimmung fand, jedoch durch die antifranzösischen Koalitionskriege wieder beiseite geschoben werden musste. Einen letzten Anlauf unternahm man 1810 und plante Kosten in Höhe von 2Millionen Talern ein. Da war es das negative Gutachten des Schönebecker Salinendirektors, das  die Magdeburger Regierung von einem solchen Kanal endgültig Abstand nehmen ließ.

Allmählich beseitigte man wieder die Kanalspuren. Das unebene Kirchhofgelände wurde einigermaßen planiert. Die Bewohner der Alten und der Neuen Sorge füllten den Graben und legten neue Gärten an.

Der Landgraben (heute noch im Volksmund: "der Kanal") an der heutigen Straße nach Schönebeck und der Schönebecker Solgraben sind übrigens Relikte dieser Ausschachtungsarbeiten für den geplanten Saale-Elbe-Kanal.

Ebenso wie die Ämter (Schloss und Gottesgnaden) verpachteten die preußischen Könige als Rechtsnachfolger der Erzbischöfe bzw. Administratoren und des säkularisierten Klosters auch die Mühle, die Salpeterhütte, die Fischerei u. a. Das Rittergut wurde sogar verkauft.

1683 pachtete ein Neugatterslebener Müller die Calbenser Mühle mit 8 Gängen einschließlich der Walk- und Sägemühle zusammen mit den Lachsreusen für 500 Taler jährlich. Ersatzmühlsteine sollten aus den Steinbrüchen in Blankenheim, Rothenburg und Hettstedt frei herantransportiert werden. Auch die Anfahrt des zu sägenden Holzes aus dem Lödderitzer Wald sollte frei sein. Frei durften nur die Beamten der zwei Ämter Getreide für ihren Haushaltsbedarf mahlen lassen.

Steintafel mit Hinweis auf den Mühlen-Erbpächter Andreas Christoph Donner 1797

Die Untertanen der zwei Ämter, also die Dorfbewohner in einem Umkreis mit einem Radius von ca. 15 km, wurden verpflichtet, in der Calbenser Mühle mahlen zu lassen. Um den bei den Müllern in der Vergangenheit so beliebten Betrügereien vorzubeugen, richtete die Stadt eine Mehlwaage mit einem vereidigten Waagemeister ein. Die Maße, kupferne Metzen und Scheffel, waren mit dem Stadtwappen und einem C versehen. Als Calbe bereits eine bedeutende Tuchmacherstadt geworden war (s. unten), befahl König Friedrich Wilhelm I. 1723 den Bau einer weiteren Walkmühle und einer Ölpresse, zu dem die Stadt die Hälfte der Kosten (1614 Taler) beisteuern sollte. Der Magistrat antwortete, dass man erst einmal die Breite, wohl auch wegen des Militärs (s. Teil 2), pflastern müsse. Der König zog seinen Befehl zurück. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist die Walkmühle für grobes Tuch, für Fries, neben der Getreidemühle dennoch gebaut worden, ebenso eine Öl-, eine Graupen- und eine neue Sägemühle.

Auch die Salpeterhütte in der Bernburger Vorstadt (vgl. Abschnitt 3), die bis 1680 dem Administrator August, Herzog von Sachsen-Weißenfels, gehört hatte, vor dem Dreißigjährigen Krieg aber städtisches Bürgergut gewesen war, kam unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft zur allgemeinen Verpachtung. Für eine Pacht von 200 Talern jährlich nutzten Hofrat Steinhäuser, Kommerzienrat Guischard und Geheimer Kriegsrat Krug von Nidda das Gut, das nun mit einer niederen Gerichtsbarkeit über die Hüttenarbeiter ausgestattet war. 1748 erließ der preußische König Friedrich II. wegen seines großen Schießpulverbedarfes den Befehl, dass die Salpeterhüttenpächter verpflichtet seien, Salpeter nicht nur an hütteneigenen, sondern an allen Mauern der Stadt, auch an und in den Häusern der Bürger und Vorstadtbewohner, abkratzen zu lassen, was natürlich zu Empörungen führte. Eigens zur Salpetergewinnung sollten Salpeterwände errichtet werden. 1767 wurde das gesamte Grundstück, das mit seinen Obstgärten inzwischen bis in die heutige Große Deichstraße hinein reichte, an Kriegs- und Domänenrat Schlutius verpachtet. Allerdings musste sich dieser verpflichten, jährlich 1000 Zentner Salpeter, den Zentner für einen Preis von 15 Talern, nach Berlin zu liefern. 1794 wurde die Salpetersiederei in die Verwaltung des Bergamtes Rothenburg bei Könnern eingegliedert.

Ein besonderes Problem stellte für die preußischen Könige die Verpachtung der Fischerei (vgl. Abschnitte 3 und 4) und damit die Auflösung der traditionellen Nicolai-Brüderschaft dar.

Die Innungsstatuten der Nicolai-Brüderschaft waren am 4. Juni 1687 vom neuen brandenburgisch-preußischen Landesherrn, dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm, und am 1. August 1724 auch vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. bestätigt worden. Der Soldatenkönig hatte aber von den Fischern für diese Gefälligkeit 50 Taler in seine "Rekrutenkasse" gefordert. Die Fischer antworteten, dass sie zu arm seien, um eine solch hohe Summe aufzubringen, und boten dem "Soldatenkönig" stattdessen 25 Taler an. Und Friedrich Wilhelm gab sich nach einiger Zeit zufrieden. Mit dieser Bestätigung war die Nicolai-Brüderschaft eine königlich-privilegierte Innung geworden. Die Brüderschaft trotzte dem König Friedrich Wilhelm I. sogar eine Senkung der Erbpacht von 200 auf 100 Taler ab. Die Fischer hatten in einem Schreiben an den König erklärt, dass die Fischer-Brüder auf keinen Fall mehr als 100 Taler aufbringen zu könnten. Wütend schrieb Friedrich Wilhelm I. die Fischerei zur allgemeinen Verpachtung aus. Wohl aus Respekt gegenüber den Nicolai-Brüdern und aus Furcht vor einer Ächtung meldeten sich keine neuen Pächter. Da gab der König klein bei und war schließlich am 28. März 1713 mit den 100 Talern Erbpacht-Gebühren einverstanden (vgl. Hertel, S. 257). Später ist die Pacht-Taxe sogar noch auf 60 Taler gesenkt worden. Die kleine Fischergemeinschaft hatte ihre obsolete Brüderschaft, die in einer Zeit des Kameralismus und aufkommenden modernen Kapitalismus anachronistisch geworden war, gerettet.

Als 1684 das Ehepaar von Schlegel, einzige Erben des traditionsreichen Rittergutes, kinderlos starb, fiel das Rittergut an den kurbrandenburgischen Kurfürsten. 1685 erwarb der Syndikus Johann Friedrich Reichenbach das Rittergut "erbkauffsweise samt allen Pertinentien [Zugehörigkeiten] und zugehörigen Gerechtigkeiten, Aeckern, Wiesen und Garten" (Hävecker, S. 80). Nun besaß der in den Adelsstand erhobene von Reichenbach sowohl das beachtliche Rittergut als auch den stolzen Lemmerhof in der Nähe des Brumbyer Tores (vgl. Station 18). Er hatte 1666 in Leipzig studiert, wurde am 29.4.1675 in Calbe als Syndikus vereidigt und hier 1708 von der königlich-preußischen Regierung als Bürgermeister eingesetzt.

Nachdem 1694 das Rittergutshaus der Reichenbachs in der Ritterstraße 1 durch eine Feuersbrunst vernichtet worden war, blieb die Stelle erst einmal 19 Jahre wüst. Die Stadt hatte ja darauf keinen Einfluss, und die wohlhabende Familie Reichenbach, die andere Häuser besaß, war auf das alte Gutshaus nicht angewiesen. Erst nach dem Tode ihres Mannes (1710) ließ die Witwe Reichenbach 1715 das Rittergutshaus im barocken Stil wieder aufbauen. Die lateinische Inschrift am Tor lautete: "Mit Gottes gnädiger Güte, dem allein alles, was man empfängt, zuzuschreiben ist, hat dieses Haus, das du hier errichtet siehst, und das ehedem durch eine Feuersbrunst vernichtet war, die Witwe Anna Katharina Reichenbachin geb. Fiedlern 1715 wieder aufbauen lassen, nachdem ihr Gemahl Johann Friedrich Reichenbach, kurfürstlicher [brandenburgischer] und bernburgisch-anhaltinischer Rat, Landrichter über Rosenburg, Steuerdirektor und von hiesiger Stadt Syndicus und Bürgermeister, fünf Jahre vorher verschieden war."

Rittergutsbesitzer hatten auch in preußischer Zeit außer anderen Obrigkeitsrechten die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizeistrafgewalt über die untertänigen Bauern inne. Darum gab es auch an der früheren kleinen Eingangspforte zum Hof des Gutes ein Halseisen wie am Markt oder am Schlosstor, an das straffällige Hintersassen des Rittergutes angeschlossen wurden (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 14). Diese Stelle nannte man den Pranger des Rittergutes.

1752 pachtete Andreas Franke, wohnhaft in der Poststraße, das Rittergut von den Reichenbachschen Erben. 1785 besaß das eigenständige Rittergut etwa ein Zehntel des Viehbestandes der Stadt Calbe (44 Rinder, 200 Schafe, 8 Pferde) und ca. 30 Grundzinshauser nicht nur in Calbe und den Vorstädten, sondern u. a. auch in Staßfurt, Bernburg und Zens (Kinderling, Eine Ortsbeschreibung ...). Zum Rittergut gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts 345 Morgen Acker, die überall zwischen den Bürgeräckern verstreut, aber großenteils nahe bei der Stadt lagen. Sie bestanden jeweils aus zwei, vier und zehn bis 15 Morgen großen Flächen. Schließlich verkauften die Reichenbachschen Erben, die weit entfernt wohnten, das Rittergut an einen Schwiegersohn Frankes, den Färbermeister Schmidt, der das stark verschuldete Gut wiederum an einen Baron von Stedingk verkaufte. Als 1814 der Baron 80 Prozent des Grundes und Bodens (281 Morgen) an verschiedene Käufer veräußerte, war das Ende des Rittergutes, nicht aber des Gebäudes, eingeleitet worden.

Um die städtische Produktion anzukurbeln, hatte Friedrich Wilhelm I. in den 1720er und 30er Jahren Dorfhandwerker der Bekleidungsgewerbe mit Vergünstigungen animiert, nach Calbe zu ziehen. Zähneknirschend musste die Bürgerschaft auf die sonst üblichen Abgaben zum Bürgermahl und an die Innungen verzichten.

Zum Ausbau der neuen Residenz Potsdam hatte das Herzogtum Magdeburg 12 415 Taler, Calbe davon 300 Taler aufzubringen. Wie eine große Siedler-Werbeaktion des Soldatenkönigs für Potsdam in Calbe verlief, ist nicht bekannt.

Die Zeit Calbes unter den preußischen Königen ist verbunden mit einer Blütezeit der Tuch-, speziell der Friesproduktion.

Tuchmacher wurden damals Handwerker und Arbeiter genannt, die ein wollenes, aus Streichgarn erzeugtes Gewebe herstellten, dessen Oberfläche durch Walken und Scheren samtig weich geworden war. Walken erfolgte durch Drücken und Kneten unter Einwirkung von Wärme und Flüssigkeiten in Walkmühlen (vgl. oben). Das Tuchscheren, also das Kurzschneiden der Wollflusen auf weniger als einen Millimeter, geschah mit ca. 20 kg schweren Scheren, die von Hand bedient wurden. Meist wurde anschließend das Tuch durch spezielle Techniken gefärbt. Am Anfang der Tuchherstellung stand eine große Anzahl von Lehrjungen, Gesellen, Kindern und Frauen, die die Wolle vor dem vom Meister konzipierten (gezettelten) Webstück waschen, kardieren (grob kämmen), kämmen und spinnen mussten. Die fertigen Tuche eigneten sich vorzüglich zum Schneidern von Uniformen, an denen die preußischen Monarchen für ihr stehendes Heer einen großen Bedarf hatten, weshalb auch Schneider per königlichen Befehl nach Calbe beordert wurden. Besonders stark gewalktes lockeres, ungeschorenes Tuch wurde Fries genannt und für die Herstellung von Lazarett-, Pferde- und Biwak-Decken benötigt. Wegen des Fehlens von sachkundigen Scherern und der zunächst geringen Qualität der Wolle im Magdeburger Land wurden in Calbe zu Beginn des 18. Jahrhunderts fast nur Friese hergestellt.

Den Beginn des großen Aufschwungs der Calbenser Tuchproduktion bestimmte das Privilegium des Großen Kurfürsten vom 23. Dezember 1687 für 7 nach Calbe eingewanderte Pfälzer Tuchmacherfamilien. Die Schutzbriefe und Vergünstigungen zogen immer mehr Tuchmacher in die Stadt. 1733/34 waren unter 58 Neubürgern 25 Tuchmacher, unter ihnen der Stammvater der legendären Calbenser Tuchfabrikanten-Familie Nicolai. Den königlichen Privilegienbrief erhielten die Tuchmacher der Stadt von Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1738. 1746 war ein erster Boom des Tuchgewerbes zu verzeichnen: 123 Meister stellten zusammen mit 140 Gesellen jährlich 8000 bis 9000 Stück Tuchprodukte, fast nur Friese (99,9%), her, das Stück zu 10 Talern (vgl. Hertel, S. 90). 1779 gab es in Calbe 134 Tuchmacher und 386 Spinner(innen), die hauptsächlich Friese im Wert von 65 756 Talern herstellten. Calbe lag in Bezug auf die Anzahl der im Tuchmachgewerbe Tätigen an der Spitze aller Städte im Magdeburger Land. 1754 hatte sich der Begriff Tuchmacherstraße für die alte Öl- bzw. Judenstraße durchgesetzt.

Je stärker die Tuchproduktion in Calbe aufblühte, desto mehr geriet der Wollhandel in die Hände von spekulierenden Kaufleuten. Trotz königlicher Verordnungen von 1747 und 1774 zum Schutz der Tuchproduzenten, die die Wollausfuhr und die Spekulation der Kaufleute verboten, kam die Tucherzeugung durch Verteuerung der Wolle und durch Verlag seitens der Händler zeitweilig ins Stocken. Krisen schüttelten die Branche, die erste schwere war die von 1740-1743. Die Geister des Kapitalismus, die von den preußischen Königen gerufen worden waren, zeigten nun auch ihre hässlichen Seiten. 1740 waren von 174 Tuchmachern 46 arbeitslos (26,4%). Das bedeutete damals Not und Elend für Leute, die als Weber, Walker und Scherer oft nicht gerade zum wohlhabenderen Handwerkertum gehörten. Auch die vielen Zuarbeiter, z. B. die Spinnerinnen, wurden dann brotlos. Um ihre Beschäftigung zu sichern, zahlten einige Spinnerinnen von ihrem ohnehin nicht üppigen Lohn Schutzgelder, und Tuchmacher verkauften Wolle, obwohl das verboten war (1714). Auf den Leipziger Messen zu Beginn der 1740er Jahre erreichten die Calbenser Tuchmacher nur noch die Hälfte ihres bisherigen Absatzes, und die Tuchproduktion ging zeitweise stark zurück. 1770 würgte die Preisschere die Calbenser Tuchproduktion. Da das Gewerbe stark von der Armeeausstattung abhängig war, wirkten sich auch ausbleibende Kriege verheerend auf die Wirtschaftslage aus. Als die Meister in Erwartung des Bayrischen Erbfolgekrieges 1778 (vgl. Teil. 2 und Station 18) zu viel produziert hatten, und beim Ausbleiben der großen Schlachten auf ihren Waren sitzen blieben oder sie verschleudern mussten, führte das zum Ruin vieler Meister (vgl. Hertel, ebenda). Eine abstruse Situation: Während die einfachen Soldaten sich freuten, dass der Krieg nahezu friedlich im Sande verlaufen war, brachte das vielen Tuchmachern Verlust und Bankrott.

Staatshilfe war vonnöten, um das Tuchmachergewerbe in Calbe am Leben zu erhalten. Zu Beginn des Jahres 1786 schickten die Calbenser Tuchmacher an den zuständigen Kriegs- und Domänenrat Avenarius in Magdeburg einen Brief mit der Bitte um Rettung ihrer Existenzen. Darin hieß es, dass etwa zwei Drittel der 122 Meister als Knechte der Kaufleute anzusehen seien, „da sie gegen die Vorschüsse zu ihrem Wollankauf die fabrizierten Friese um solche Preise abliefern mußten, daß sie kaum das trockene Brot dabei verdienen und jährlich an 100 Taler verlieren, welche sie dann borgen und in Armut geraten mußten, so daß sie schließlich die Profession gar nicht mehr betreiben konnten.“ (vgl. Hertel, ebenda) Avenarius leitete den Hilferuf schleunigst nach Potsdam weiter, und am 17. Mai 1786 bewilligte der schwer kranke Friedrich II. 6000 Taler zum Wollkauf.

Um die Calbenser Tuchmacher von den Spekulationen und dem Verlagssystem der Kaufleute zu befreien, wurde 1792 ein staatliches königliches Wollmagazin vor dem Brumbyer Tor (heute: Friedensplatz/Magazinstraße) errichtet. Ein Ratmann und ein Obermeister fungierten als Verwalter. Durch den Aufkauf der Wolle seitens des Staates und das Verhindern des Vorkaufs durch die Händler bzw. deren Verlagspraktiken konnten die Meister nun mit Gewinn auf eigene Rechnung arbeiten. Auch die neue Erlaubnis (1789), mit einem amtlichen Genehmigungsschein die Wolle selbst in den Dörfern einkaufen zu dürfen, führte zu einem Aufschwung in der Friesproduktion. Aber schon 1795 gab es eine erneute Krise, bei der 27% der Tuchmacher arbeitslos wurden. Als man merkte, dass durch staatlichen Protektionismus die Sache nur verschlimmert wurde, gab Friedrich Wilhelm II. den Wollhandel 1802 gänzlich frei. Nun konnte das kapitalistische System voll greifen. Die Wollproduktion stieg zwar in den nächsten Jahren an, aber eine heftige Konkurrenz der Produzenten untereinander und auf dem Binnenmarkt führte zu einem verstärkten Ruin vieler Tuchmacher, die man später als Lohnarbeiter in den entstehenden Fabriken wieder fand. Die innovativsten Tuch-Produzenten aber, wie die Familien Ritter, Grobe (seit 1780) und Nicolai, wurden dabei wirtschaftlich immer leistungsfähiger und reicher. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzten die staatlichen Stellen mehr auf eine Steigerung der Produktion durch Verbesserung der Wollqualität, d. h. durch Züchtung edlerer Schafrassen.

Den preußischen Königen kam es ganz im Sinn des Kameralismus (s. oben) darauf an, so viel wie möglich im Land selbst zu erzeugen und so viel wie möglich gute Produkte auszuführen. Deshalb verboten sie beispielsweise die Einfuhr von Holz, und der Große Kurfürst befahl 1683, dass jedes Calbenser Brautpaar nach der Trauung zwei Bäume zu pflanzen hatte. Die Salpetersiederei in Calbe und die Salinen in Salze und Staßfurt brauchten viel Brennmaterial. Zunächst wurde der gesamte Schwarzer Busch 1781 gerodet, dann bezog man verstärkt Holz aus dem Lödderitzer Forst. Versuchsweise wurde 1785 auf dem Wartenberg –allerdings mit enttäuschendem Ergebnis- nach Kohle gegraben. Dabei fand man viele Urnen aus vorgeschichtlicher Zeit (s. Abschnitt 1).

Die allgemeinen Einfuhrverbote und die Schutzzölle wirkten allerdings für den Kleinhandel in Calbe recht schädigend, da die Stadt nah an den anhaltinischen (Nienburg, Kleinmühlingen) und kursächsischen (Barby) Grenzen lag. 1769 war der Calbenser Marktverkehr um 50% zurückgegangen. Die „ausländischen“ Händler wollten „sich den starken Visitationen durch die Accisebedienten nicht unterwerfen“ und blieben deshalb fort, meldete der Stadtkämmerer.

Herausragende Bedeutung hatte auch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion in Preußen. Im 18. Jahrhundert wurde auf den Stadt-Feldern weiterhin vorwiegend Getreide angebaut. Das für Calbe in späteren Zeiten so charakteristische Gemüse stand noch nicht im Mittelpunkt, wurde aber schon, besonders bei den Vorstädtern, in den Gärten gezüchtet, womit jene auch hausieren gingen (1723). Aber schon 1796 erhob ein Kammerrat Beschwerde darüber, dass die Calbenser auf den Brachen der ehemaligen Dreifelderwirtschaft statt Getreide Bohnen, Kartoffeln und anderes Gemüse anbauten.

Nach dem für Preußen desaströsen Siebenjährigen Krieg (vgl. Teil 2 und Station 18) hatte Friedrich II. das „Retablissement“, den raschen Wiederaufbau, angeordnet und alle Reserven dafür mobilisiert. Die Chemie hatte sich bereits als Wissenschaft gemausert und von ihrer „Mutter“, der okkulten Alchimie gelöst. Verbesserte Düngungsmethoden machten es möglich, allmählich auch die Brachen zu bebauen und von der traditionellen Dreifelderwirtschaft abzugehen. 1785 wurde in Calbe  Dünger verkauft, und der Magistrat stellte fest, dass das Weideland immer knapper geworden war. Auch der Übergang zur Stallfütterung trug dazu bei, dass die extensive Weidewirtschaft zugunsten einer intensiveren Bebauung wich. Die noch 1688 nachweislich in Calbe genutzte Allmende, der Bürgerthie wie auch anderes allgemeines Weideland, musste deshalb ebenfalls als Ackerland zugänglich gemacht werden. Die jährliche Viehdrift über die Saale war zwar eine schöne, uralte Tradition, brachte aber viele Beschwerlichkeiten und Gefahren mit sich. 1720 waren z. B. vier Mägde bei der Überfahrt ertrunken. Solche Überquerungen des Flusses mit Kähnen waren in den 5 Weidemonaten zweimal täglich zum Melken der Kühe erforderlich. Diese Gefährdungen waren aber wohl nicht der Grund für die allmähliche Beseitigung der Allmende um Calbe, eher wohl die Bemühungen des Königs im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Reorganisation. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Thie nicht mehr als Viehweide und seit der Wende zum 19. Jahrhundert schon teilweise als Ackerland genutzt. 1771 erging an die Calbenser gegen die Einwände des Amtmannes die königliche Verfügung, die Brachen zu nutzen, wenn feuchte Böden um Calbe wie der Solbrunnen und das „gelobte Land“  in nassen Frühjahren nicht bestellbar seien. Auf den Übergang zur Stallfütterung des Viehs weist der Anbau von Rüben um Calbe und die Ausfuhr von Rübensaat im Jahre 1770 hin. Rüben, sowohl Kohlrüben als auch zuckerhaltige Runkelrüben, waren im Brandenburgischen schon vor den Kartoffeln angebaut worden. Von der durch den Chemiker Andreas Sigismund Marggraf 1747 entdeckten Kristallzuckergewinnung aus der Runkelrübe wollte der König nichts wissen. So blieb die Rübe bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts überwiegend eine Futterpflanze.

Die große Hungersnot im Reich, hervorgerufen durch die Missernten 1770 – 72 führte auch in Calbe, hier noch verstärkt durch zwei Hochwasser, zu einer Katastrophe. Die Menschen aßen vor Hunger Unkräuter wie die Wicke und fingen Fische, die in Pfützen auf den Feldern schwammen. 10 Prozent („über 300“) der Bewohner von Calbe starben 1772 an Typhus (vgl. Einwohnerzahlen Abb. unten). In Calbe dauerte das Desaster sogar noch bis 1773, als Mai-Schnee zur Vernichtung eines Teiles der Getreideernte beitrug. Erneut starben allein in der Stephani-Gemeinde 226 Menschen an Typhus. Die Missernten und Hungersnöte trugen dazu bei, dass Friedrich II. noch stärker auf den Kartoffelanbau setzte und die Getreidezüchter mit den Worten anspornte: "Der größte Feldherr ist derjenige, der zwei Körner wachsen läßt, wo bisher nur ein Korn wuchs".

Nach der Anpflanzung von Salweiden, die der Soldatenkönig für Calbe an allen morastigen Stellen, z. B. am versumpften Bett seines gescheiterten Kanals (vgl. oben) sowie an der Schlöte und am Solbrunnen, zur Verbesserung des  Bodens angeordnet hatte (1719/1727), war Friedrich II. von der Idee besessen, um die Stadt herum weiße Maulbeerbäume zur Seidenraupenzucht anzupflanzen. Da die Raupe, welche die im Rokoko so beliebte Seide produzierte, sich ausschließlich von Maulbeerblättern ernährte, wurden um Calbe große Plantagen dieses subtropischen Baumes angelegt. 1750 wurde von der Regierung eine gute Belohnung für den Anbau dieser Pflanzen ausgesetzt, denn Friedrich der Große wollte Preußen in Sachen Seide zum Selbstversorger machen. Überall in Preußen, vor allem an Straßenrändern und anderen freien Flecken ließ der Monarch die exotische Pflanze anbauen. 1770 betrieb der hugenottische Kolonist (vgl. Teil 2) Jean Jeannavelle neben seinem Strumpfwirker-Gewerbe eine Seidenraupenzucht, wofür er eine Maulbeerplantage von 2,5 Morgen angelegt hatte. Die vom Magistrat an den Gärtner Steinhäuser verpachtete Maulbeerplantage auf der Wunderburg war wenig erfolgreich, 1771 verkümmerte eine Reihe von Bäumen. 1785 waren 14 Morgen um Calbe mit Maulbeerbäumen bepflanzt. Trotz geringer Erfolge wurden immer wieder neue Versuche gestartet, und noch 1804 war von einer Maulbeerplantage auf der Alten Sorge links vor dem Brumbyer Tor (heute: Westseite der Magdeburger Straße) die Rede. Obwohl die Versuche bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts liefen,  erwies sich die damals mit zwei Millionen Talern geförderte königliche Initiative als Fehlschlag. Sowohl der Weiden- als auch der Maulbeerbaum-Anbau waren wohl bei einigen Calbensern nicht beliebt, denn wiederholt beschwerten sich Plantagenbesitzer über das mutwillige Ausreißen von Setzlingen.

Ausgelöst durch die Kontinentalsperre Napoleons und das damit verbundene Fehlen des in den deutschen Ländern so beliebten Kaffees kam es in Preußen zur Herausbildung eines neuen Produktionszweiges. 1807 richtete Amtmann Schoche in der Schlossvorstadt eine Zichoriendarre ein. Dort wurden die Wurzeln der bei uns an Wegrändern wachsenden Wegwarte oder Kaffeezichorie  getrocknet und geröstet, um gemahlen als Kaffeeersatz zu dienen. Als Surrogat und Streckungsmittel wurde die Pflanze in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert verwendet. Durch die für die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten unerschwinglich hohen Kaffeepreise, besonders aber durch die Kontinentalsperre nahm die Zichorienverarbeitung im 19. und darüber hinaus bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland einen großen Aufschwung.

Außer dem mit hohen Verbrauchersteuern belegten, aus den englischen Kolonien stammenden Kaffee war im 18. Jahrhundert ein weiteres Genussmittel immer beliebter geworden: der Tabak. Seit 1730 wurde in Calbe verboten, mit brennender Tabakspfeife über die Straße zu gehen, was besonders einige Knechte betraf. Sogar die Lehrer erhielten 1731 eine Verwarnung, weil sie sich während des Georgi-Schulfeiertages (25. April), an dem sie mit den Kindern singend und Gaben erbettelnd durch die Stadt zogen, „wider den Anstand in Gegenwart der Schüler im Ratsgasthofe hingesetzt und Tobak geraucht haben“. Die Tabakakzise war eine wichtige Einnahmequelle für den preußischen Staat geworden. 1769 nötigte die General-Tabakadministration zwei Kaufleute in Calbe gegen ihren Willen, den vom Staat beherrschten Tabakhandel (Tabakregie) im Ort zu übernehmen. 1797 wurde die erste Tabagie im Hohendorfer Busch errichtet, weitere folgten. Tabagies waren die ersten öffentlichen Gaststätten und eine gute Einnahmequelle für den Staat. Hier wurde neben Speise und Trank eine Tonpfeife nebst einer Prise Tabak gegen eine Gebühr von wenigen Pfennigen gereicht. So erfreuten sich die Tabagies bald eines regen Zuspruchs des Publikums aus den unteren Schichten.

Trotz der im 18. Jahrhundert gehäuft aufgetretenen, zum Teil verheerenden Hochwasser (vgl. Station 21) und trotz mehrerer Seuchenjahre (1750/1772/1773) ging es unter den preußischen Königen in Calbe wirtschaftlich stark bergauf. Gegenüber dem Mittelalter und der frühen Neuzeit vervierfachte sich in dieser Zeit die Einwohnerzahl (s. Abb.).

Als die Zahl der Einwohner rasch wuchs, wurde die Stadt zunächst an der Süd- und Nordseite erweitert. Entlang der Neuen Straße (Neustadt) baute man um 1700 eine Reihe Häuser, die aber nicht zur Vorstadt, sondern in den Verwaltungsbereich der Stadt gehörten. Allmählich wurden die Außenmauern abgetragen und oft gleich als Baumaterial verwandt. Die Innenmauern fanden in einigen Fällen Verwendung als Häuserrückwand. Das gleiche geschah nur wenige Jahre später zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf der Nordseite an der Koloniestraße (Grabenstraße). Eine weitere Möglichkeit der Stadterweiterung wurde an der Westseite genutzt. 1756 gab der Magistrat den ehemaligen Stadtgraben in südlicher Richtung vor dem Brumbyer Tor als Baugelände für Neusiedler frei. 1770 hatten hier bereits 30 Familien ihr Haus gebaut. Nach Süden zu entstand vor dem Westtor in den 1770er/80er Jahren ebenfalls ein Neubaugebiet. Die beiden Siedlungen, die auch zur Stadt gehörten, nannten die Calbenser die Alte (nördlich) und die Neue Sorge (südlich). In etwa entsprachen sie Teilen der Arnstedt- und der Magdeburger Straße. Der Begriff „Sorge“ hat sich aus dem mittel- und frühneuhochdeutschen Wort „Zarge“ herausgebildet und bedeutet „Rand“, in dem Falle „Stadtrand“.

Ein besonderes infrastrukturelles Problem waren die Stadtbrände. Am 16. März 1683 brach durch Unachtsamkeit einer Magd beim Umgang mit Asche im Haus der wohlhabenden Witwe Bünger in der Breite ein Brand aus, der sich in kurzer Zeit über die halbe Stadt ausbreitete. Soldaten hatten Alarm geschlagen, weil der Turmwächter nicht auf seinem Posten war und ein Ersatzmann fehlte. Bei diesem Brand wurden innerhalb der Stadt 84 Häuser mitsamt Scheunen und allem Zubehör und in der Schlossvorstadt 25 Häuser total vernichtet. 1695 meldete der Rat der kurfürstlichen Regierung den Wiederaufbau. Aber bereits am 23. Oktober 1713 fielen 47 Wohnhäuser, 44 Scheunen und viele Nebengebäude einem Brand zum Opfer, der in der Ölstraße (südlicher Teil der späteren Tuchmacherstraße) ausgebrochen war und der vor allem die Schlossstraße heimsuchte.

Um wertvolle ökonomische Potenzen nicht den Flammengewalten zu opfern, sorgten nun preußische Beamte mit großer Strenge für die Einhaltung der Brandschutzbestimmungen. Die Holzbauweise der Häuser wurde allmählich verdrängt und die Menschen durch Anordnungen und Kontrollen zum sorgfältigeren Umgang mit dem Feuer angehalten. 1720 wurden hölzerne Schornsteine verboten. Neue Kenntnisse in neuen Wissenschaftszweigen wie beispielsweise der Physik machte auch eine effektivere Feuerbekämpfung möglich. Seit 1745 wurde für den Einsatz bei Bränden eine Wasserpumpe (Spritze) benutzt. Das Gebäude zur Aufbewahrung der Pumpe war das Spritzenhaus an der St.-Stephani-Kirche. 1795 erging der Befehl, 36 Sturmfässer mit stets sauberem Wasser in der Stadt aufzustellen.

Auch das in den 1680er Jahren neu gebaute städtische Brauhaus profitierte von der neuen Pumpentechnik. In diesem Gemeinschafts-Brauhaus konnten nun die Brauberechtigten mit besserer Technologie brauen. Wo jetzt das "allgemeine Brauhaus" stand, war im Mittelalter das Brauwasser mit großer Mühe und viel Unkosten aus der Saale befördert worden. Besonders zur Winterzeit war das ein gefährliches Unterfangen, als mit Pferden und Wasser-Kufen das kostbare Brauwasser herangeholt werden musste. Nun wurde das Saalewasser mittels einer Pumpe und einem Rohrsystem in die Braupfanne geleitet. Das Brauhaus besaß zwei Pfannen, verschiedene Bottiche und Kühlfässer. Es konnte sowohl normales Gebrauchs-Bier ("Cälberei") als auch "Breyhan", eine Starkbier-Variante hergestellt werden.

Ein aus dem Mittelalter stammendes Wahrzeichen der Stadt, das Schloss, hatte in der Preußenzeit seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Es gab keine erzbischöflichen Landesherren bzw. Administratoren und keine ständischen Landtage mehr. Damit war die ehemalige „Veste Calbe“ zum Sitz der Amtsverwaltung und zur Herberge für selten durchreisende Fürsten degradiert worden; der Große Kurfürst logierte im Schloss Calbe dreimal und sein Sohn  Friedrich I. zweimal. Die Folge war, dass man für die Instandhaltung des barocken Gebäudes mit den 8 Türmen und vielen Erkern nicht mehr die gleiche Sorgfalt wie früher aufwendete, und sich darauf beschränkte, einige wenige wichtigeTeile notdürftig zu erhalten. Als 1704 das Schloss in Erbpacht gegeben wurde, trug man einige Erker und Türme wegen Baufälligkeit ab. 1708 fielen auf königlichen Befehl die letzten Erker und alles wurde unter ein Dach gebracht. Nur ein Turm blieb stehen, dessen Höhe in der Folgezeit auch reduziert wurde. In dieser unschönen schmucklosen Kastenform blieb das Schloss Calbe bis zu seinem Ende 1945 erhalten.

Am Neuen Markt (heute: Marktplatz) gab es 1682 zwei Gasthöfe, die dem Rat gehörten: der Ratskeller (im Rathaus), der Ratswage-Keller (daneben, Markt 20). Der „Braune Hirsch“ war im Besitz des Bürgermeisters. Nur im Ratskeller durften  auch Wein und fremdes Bier ausgeschenkt werden. Der Ratswage-Keller hatte nur Calbenser Bier (Cälberei) zu führen. Das Haus Markt 20, in dem sich die Ratswage und der Bier-Keller befanden, war ein ehemaliges Freihaus. 1696 tauschte Handwerksmeister Danheil mit dem Rat sein vor dem Rathaus stehendes, für 300 Taler  erworbenes Haus gegen das Ratswagegebäude. Er durfte nun auch den Ausschank von Cälberei für eine Akzise weiter betreiben. Der Tausch wurde deshalb betrieben, weil das Danheilsche Haus vor dem Rathaus sehr störend wirkte und abgerissen werden sollte. Das geschah jedoch erst einige Jahre später, weil der Rat wegen Geldnot (Bau des „Roten Adlers“ auf kurfürstlichen Befehl 1697) das Gebäude auf dem Marktplatz noch einmal an Magister Johann Heinrich Hävecker, den späteren ersten Ortschronisten, verkaufen musste.

Im Jahr 1696 musste auch das Rathaus von Grund auf renoviert werden. Der Zimmermeister Bormann erhielt vom Rat den Auftrag, den maroden Bau grundlegend zu sanieren. Man erneuerte die Wände und legte anstelle des alten Schieferdaches Dachziegel auf. Die zum Eingang führende Treppe wurde aus Sandstein hergestellt,  mit einem Geländer versehen und über den Keller-Eingang ein Altan gebaut. Eine Erneuerung der Ratsstube erfolgte 1713. Neben dem Bildnis des richtenden Königs Salomo hingen die Bilder des Königs, der Bürgermeister, der Syndici, Kämmerer und Ratmänner. Mitten in der Stube hing ein Kronleuchter aus Hirschgeweih mit den Wappen früherer Regenten. Schränke mit Akten, Büchern und Urkunden befanden  sich an den Wänden. Vor dem Rathaus bzw. Ratskeller stand eine Linde mit Bänken darunter (vgl. Hertel, S.117f.). Die Linde war ein Symbol aus germanischen Zeiten, deshalb wurde auch jegliches ungebührliches Benehmen unter ihr bestraft.

Gleich hinter dem Rathaus steht der Wachturm, der schon früh als Gefängnis für Schwerverbrecher diente und bis heute im Volksmund der Hexenturm heißt. Als er 1775 als Färbereimanufaktur eingerichtet und der obere Teil abgerissen werden sollte, entschied sich der Magistrat für seine Erhaltung, weil dieser Turm noch in sehr gutem Zustand und eine weit sichtbare Zierde der Stadt sei, seine Wetterfahne der Wettervorhersage und  seine Position der Gefahrenerkennung diene und weil der Turm als Archiv fungieren müsse. Dieser Entscheid war gut und richtig.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg war das Calbenser Schützenwesen zum Erliegen gekommen. Die neue Staatszugehörigkeit zu Brandenburg-Preußen und ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung machten den Bürgern Mut, den Schützenverein wieder ins Leben zu rufen. Am 9. Mai 1684 baten die Bürger von Calbe den Großen Kurfürsten, Waffenübungen, Scheiben- und Vogelschießen anstellen zu dürfen. Als sie jedoch darum baten, dass der Fürst ihnen eine gewisse Summe aus den städtischen Akzise-Einnahmen für die „Exercitia“ bewillige, wurde ihr Ansinnen abgelehnt. Erst unter seinem Sohn, dem späteren König Friedrich I., der Calbe von seinen Besuchen besonders wegen des guten Bieres in erfreulicher Erinnerung hatte, wurde dem Stadtkämmerer 1693 bewilligt, 30 Taler für die Bürgerschützen aus der Akzisekasse zu nehmen, wovon 15 Taler für die Errichtung einer Schützenbaracke und 15 Taler für Preise verwendet wurden. Die Statuten gab sich die neue Schützengesellschaft am 25. Mai 1694. Bei der Erneuerung der Statuten 1698 schafften sich die Schützen eine Fahne an. Schützenübungen und Schützenfeste bewegten sich jetzt in militärischen Formen. Vom 24. Juni (Johannistag) bis 29. September (Michaelistag) fanden nun regelmäßig montags um 13 Uhr Preisschießen statt. 1700/01 wurde die Baracke durch ein Schützenhaus aus Holzbohlen mit steinernem Fundament ersetzt. Es stand auf der südlichen Seite  vor dem Brumbyer Tor. Der ehemalige Stadtgraben war zum Schießgraben umfunktioniert worden. Der aus der Akzisekasse gezahlte Zuschuss war auf 20 Taler jährlich reduziert worden (vgl. Hertel, S. 94f.). Das letzte Preisschießen fand 1712 statt (vgl. Reccius, S. 74). 14 Jahre bestand die inaktive Schützengesellschaft unter dem Soldatenkönig noch, dann löste sie sich 1727 auf. Waren behördliche Schikanen unter einem König, der mehr Interesse an einem stehenden Heer als an einem Verein bürgerlicher Selbstbestätigung hatte, der Grund dafür? Das Schützenhaus kaufte 1727 ein Bürger und baute es zu einem Wohnhaus auf der Alten Sorge aus. Erst unter Friedrich II. entstand erneut eine Schützengesellschaft. 1742, nach dem in Calbe mit einem großem Fest gefeierten siegreichen Ende des ersten Schlesischen Krieges (vgl. Teil 2), erließ Bürgermeister Haacke einen Aufruf zum Preisschießen, der zur Gründung des neuen Vereins mit zwei Schützenkompanien führte, der auch wieder ganz militärisch ausgerichtet war. Die Schießübungen und –wettbewerbe fanden wie früher im Schießgraben vor dem Brumbyer Tor statt. Friedrich gewährte keinen Zuschuss aus der Akzisekasse mehr, und die Bürger mussten ihre Preisschießen selbst finanzieren. Der König erlaubte ihnen aber ganz im kameralistischen Sinne, einen Viehmarkt abzuhalten und sich aus dessen Ertrag Preise anzuschaffen. Der neue Viehmarkt wurde jährlich zu Mariä Geburt (8. September) innerhalb der Stadt auf der Breite durchführt (vgl. Hertel, S. 95). Aber als der Calbenser Verein 1770 und 74 wegen Privilegierungen - besonders für junge Bürgerschützen -  beim Magistrat vorstellig wurde, lehnte dieser alle Anträge ab (vgl. Reccius, S. 78f.). Die preußische Schützengesellschaft fand ihr Ende in der Zeit der napoleonischen Besatzung.

 

Im 18. Jahrhundert kam es in Calbe wie auch in anderen preußischen Städten, bedingt durch Merkantilismus, Aufklärung und  wissenschaftliche Weltsicht, zu einem bedeutenden Aufschwung in der medizinischen Versorgung und im Schulwesen. Zwar gab es immer noch Quacksalber und Kräuterweiblein, aber diese wurden allmählich durch eine seriöse Ärzte- und Apothekerschaft zurückgedrängt. 1712 erhielt in Calbe ein Wunderdoktor Apel, der auf dem Markt seine Mittel anpries und dabei von einem Possenreißer aus Werbungsgründen unterstützt wurde, eine Strafe von 2 1/2 Talern. Die Ärzte, die an mehrfach neu entstandenen Universitäten eine akademische Ausbildung mit ordentlichem Abschluss erwerben mussten, wurden in den Städten zur Förderung der Volksgesundheit eingesetzt. Einen solchen Allgemeinmediziner nannte man Stadtphysikus. Seit 1716 tauchten in Calbe nur noch als Dr. oder Lic. med. promovierte Stadtphysici auf, unter ihnen auch ein Sohn des Nachrichters (Henkers) Kahlo. Der erste promovierte Physikus war Postarzt, also ein für die staatsmonopolistische Post (vgl. Teil 1) gegen Gehalt tätiger Arzt (vgl. Hertel, S. 97f.).

Amputation des Unterarmes im 18. Jh., nach: Heister, Lorenz, Chirurgie, Nürnberg 1724

Daneben gab es noch den Beruf des Chirurgus, der (vorerst) keinen Universitätsabschluss, dafür aber ein Handwerkerdiplom haben musste. Seine Tätigkeit umfasste Zähneziehen, Unfallchirurgie und operative Eingriffe wie Amputationen und Geschwulstentfernen. Eröffnungen des Bauch- oder gar des Brustraumes waren beim damaligen Stand der medizinischen Technik auch den Chirurgen nicht möglich. Der Stand der Chirurgen stammte vom Beruf der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bader her. Noch 1782 musste ein Chirurgus eine Prüfung beim Stadtphysikus ablegen, um seine Befähigung nachzuweisen.

Die Calbenser Physici, von denen es manch einer sogar bis zum Bürgermeister brachte (z. B. 1742 Dr. Karl Haacke), mussten auch gegen ein Salär von jährlich 40 Talern, die aus der Stadtkasse, den Kirchenspenden und den Armenstiftungen genommen wurden, als städtische Armenärzte tätig sein. Die Armen der Stadt durften nach der Armenordung von 1703 nur in ihrer Kommune betteln. Dazu gab man ihnen eine Blechmarke mit dem Stadtwappen, damit sie sich als „interne“ Bettelarmut ausweisen konnten. Fremden  war das Betteln in Calbe untersagt (vgl. ebenda, S. 77). Um Seuchen keinen Angriffspunkt zu bieten, mussten die anfälligen Stadtarmen medizinisch solide versorgt werden; deshalb waren staatliche Armenärzte von so großer Wichtigkeit. 1731 wurde im Hospital auf Grund erweiterter hygienischer Erkenntnisse eine Isolierstation eingerichtet.

Auch das städtische Apothekenwesen nahm in jener Zeit einen Aufschwung. 1689 achtete der Rat der Stadt Calbe, wie wir aus einem Vertrag wissen, darauf, dass eine ärztliche Aufsicht über die Rats-Apotheke Bernburger Straße 94 gegeben war. Der Stadtphysikus sollte den Apotheker daran erinnern, dass er stets die notwendigen und richtigen Arzneimittel vorrätig habe und die nicht mehr brauchbaren vernichte. Außerdem war der Arzt verpflichtet, die Apothekerlehrlinge und -gesellen gebührend zu examinieren, ob sie "genügend Wissenschaft" für ihre verantwortungsvolle Tätigkeit besaßen. 1698 berichtete der Stadtphysikus dem Rat, er habe die Apotheke „visitiert und alle Arzneien wie auch andere Sachen in gutem Stande befunden".

Im Jahr 1700 rückte ein Apotheker in den Rat auf, betrieb aber weiterhin sein Gewerbe. 1707 eröffnete ein anderer eine zweite Apotheke in der Querstraße (heute: Wilhelm-Loewe-Straße) Nr. 44 mit einer Konzession der Königlich-Preußischen Kriegs- und Domänenkammer zu Magdeburg. Dieses Grundstück befand sich gleich neben dem alten Schulhaus (vgl. unten). 1719 wurde die Rats-Apotheke, welche (wie auch die andere) Hauseigentum des jeweiligen Apothekers war, durch Umzug von der Bernburger in die Schlossstraße 111 verlegt. Nun lagen die beiden Apotheken nah beieinander. Als der Besitzer die königlich-preußische Apotheke 1741 schloss und das Privileg an seinen Kontrahenten verkaufte, stand die königlich-privilegierte Ratsapotheke konkurrenzlos da. Sie wurde 1760 in das Gebäude Markt Nr. 5 verlegt, wo sie sich heute noch als Stadt-Apotheke befindet. 1807 setzte Napoleon im Königreich Westfalen (s. unten) alle königlich-preußischen Privilegien außer Kraft. Seitdem wurde auch die Apotheke in Calbe als Einrichtung mit Realkonzession behandelt und „gehandelt".

 

Die St.-Stephani-Kirche war gleich nach dem Dreißigjährigen Krieg durch beachtliche finanzielle Anstrengungen der Bürger renoviert worden (vgl. Abschnitt 4). Im 18. Jahrhundert mussten noch einige turnusmäßige Sanierungsarbeiten vorgenommen werden, wie z. B. die Ausbesserung des Ganges zwischen den Türmen 1723. Die Turmbläser hatten ihn nicht mehr gefahrlos betreten können. 1720 wurde die Orgel, die aus der Zeit um 1460 stammte und schon viermal renoviert und erweitert worden war, bedeutend vergrößert (vgl. Hertel, S. 142). Als ein Küster 1732 bat, das Gewölbe der Kirche so, wie das schon sein Vorgänger getan hatte, als Lager für Holz, Bier und Lebensmittel nutzen zu dürfen, wurde das vom Magistrat strikt verboten, weil die Ratten sich inzwischen gut ernährt und die Bedienung der Orgel u. a. mit ihren Vorratslagern und Nestern gestört hatten. 1784 musste die über 300 Jahre alte Orgel generalüberholt werden, und dafür spendete die Bürgerschaft 400 Taler.

Mit den Renovierungsarbeiten in und an der St. Laurentii-Kirche konnte erst kurze Zeit vor 1700 begonnen werden. Dazu wurde auf des Kurfürsten Befehl eine Geldsammlung im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt durchgeführt (vgl. Hävecker, S. 48). 1699 gab ein Schulmeister zu Protokoll, dass man Holz aus der Kirche des inzwischen wüsten Dorfes Hohendorf zum Auf- und Ausbau der Vorstadt-Kirche benutzt habe (vgl. Hertel, Die Wüstungen..., a. a. O., S. 171). Diese Arbeiten zogen sich bis etwa 1711 hin. Wie aus den alten Bauunterlagen hervorgeht, wurde dabei die Kirche nach Osten und Westen erweitert. Wenn die Erweiterung auch nach Osten geschah, wie u. a. an den Nähten zu erkennen ist, muss zwangsläufig die Rundapsis neu aufgebaut worden sein. Dabei hat sie außerdem eine Erhöhung erfahren, was an den unterschiedlichen Steinen erkennbar ist. Ob die Apsis davor in dieser Form überhaupt existiert hat oder ob sie einer architektonischen Laune der Erneuerer entsprang, bleibt eine offene Frage. In dieser Zeit am Anfang des 18. Jahrhunderts wurde das romanische Bild der Kirche beseitigt. Man trug den Turm ab, ersetzte ihn durch einen kleinen barocken Fachwerk-Dachreiter, der die Glocken aufnahm, und die romanischen Rundbogen wurden in gotische Spitzen umgewandelt (vgl. Dietrich, Gang, S. 15). Die unter Friedrich I. begonnene und unter Friedrich Wilhelm I. abgeschlossene Erweiterung und Veränderung der St.-Laurentii-Kirche wurde u. a. vorgenommen, weil die Bevölkerungszahl der Vorstädte ein halbes Jahrhundert nach dem verheerenden Krieg gegenüber dem Vorkriegsstand um etwa 50 Prozent angewachsen war. Die Nicolai-Fischer-Brüderschaft (vgl. Teil 1) hatte, nachdem die Hohendorfer St.-Nicolai-Kirche wüst geworden war, bis zum Ende ihres Bestehens 1945 einen Altar in der Lorenzkirche und war ins Kirchengebet eingeschlossen. Nach der Zugehörigkeit Calbes zu Brandenburg-Preußen machten die neuen Herrscher auch von ihrem erworbenen Patronatsrecht Gebrauch und bestimmten  vier Kandidaten für das Amt des Vorstadtpfarrers, von denen der Rat einen auswählen konnte. Die Pfarrer der St.-Laurentii-Kirche hatten zusätzlich die Seelsorge auch in der Schlossvorstadt (vgl. Station 13) und den Gottesdienst im Filial (der Tochterkirche) Trabitz mit zu übernehmen.

 

Zu den bekanntesten und bedeutendsten Calbenser Pfarrern gehörte Johann Heinrich Hävecker, der am 20.8.1640 in Calbe an der Saale als Sohn des Brumbyer Pfarrers Mag. Heinrich Hävecker und der Kaufmannstochter Anna Maria Wilcke  geboren wurde. Er studierte an den Universitäten in Helmstedt und Wittenberg, wo er 1663 den Magistergrad erwarb und danach selbst Vorlesungen hielt. Aus der Ehe mit einer Tochter des bedeutenden Pietisten Christian Scriver, einem Freund Jacob Speners, gingen drei Söhne hervor, die Pfarrer bzw. Bürgermeister in Aken und Calbe wurden. 1665 wurde Johann Heinrich Hävecker Schulrektor in Calbe, 1681 Diakon und 1693 Pastor primarius  sowie Kirchen-Inspektor des Holzkreises mit 40 Kirchen und den dazu gehörenden Schulen. Die bei seinen vielen Inspektionsreisen gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse kamen J. H. Hävecker bei der Abfassung der schon im 18. Jahrhundert wiederholt aufgelegten Schrift "Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Aken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..." (1720) zu Gute. Die Mehrzahl seiner Schriften war der pietistischen Erbauung gewidmet (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 11, S. 113), ein mehrfach aufgelegter Katechismus, christliche Erbauungsliteratur, Arbeiten zur Theorie der Predigt und Kirchenlieder waren darunter. Hävecker war  Übersetzer aus dem Englischen und der Herausgeber von Schriften seines Schwiegervaters, des pietistischen Theologen Christian Scriver (vgl. Pabst, Bd. 16, S. 15ff.). Der schon zu Lebzeiten viel beachtete Pietist Hävecker starb 1722 in Calbe.

Johann Heinrich Hävecker (1640 - 22.7.1722)

Der Pietismus war eine um 1650 entstandene religiöse Bewegung des deutschen Protestantismus, in deren Mittelpunkt Verinnerlichung, persönliche Bekehrung und die Umsetzung des Glaubens im täglichen  Leben standen.  Die Pietisten blieben Mitglieder der evangelischen Kirche, versuchten jedoch diese durch ihre Frömmigkeit (Pietät) zu reformieren und der nach einem Jahrhundert zur Büchergelehrsamkeit  (Orthodoxie) erstarrten lutherischen Lehre entgegen zu wirken. Der Pietismus entstand zwar auch als Gegenkonzept zur philosophischen, philologischen und naturwissenschaftlichen Aufklärung, befand sich aber letztlich mit dieser auch in einer fruchtbaren Wechselbeziehung. Die Auswirkungen des Pietismus, der vom englischen Puritanismus beeinflusst wurde, reichten u. a. in der Literatur von der Aufklärung über den Sturm und Drang bis in die Klassik und Romantik. Der Pietismus hat das protestantisch-kirchliche Leben (Gottesdienst, Bibelstunden, Katechismusunterricht, neue Lieder, Erbauungsliteratur, Konfirmation, Armenfürsorge, Innere und Äußere Mission u. a.) entscheidend beflügelt. Der Pietismus hat mitgeholfen, preußische Tugenden wie Treue, Standhaftigkeit, Gesetzlichkeit, Fleiß, Pünktlichkeit und Strebsamkeit zu vertiefen, trat aber auch für Entsagung, Demut und Dulden ein. Besonders fatal für die Entwicklung des Moralbewusstseins war die Propagierung von Prüderie und Lustfeindlichkeit, konträr zum ursprünglichen barocken Empfinden. Man hatte sich schmucklos und schlicht in dunklen Farben zu kleiden sowie sich ernst und gesittet zu benehmen. Frohsinn, Feste, Schabernack, alte derbe Bräuche und Tanzvergnügen wurden verboten. Die vielen, oft noch aus uralten Zeiten stammenden Brauchtümer, wie z. B. die Frühjahrs-Prozession um die Feldmark mit anschließender Segnung mit anschließenden ausgiebigen Gelagen oder die Feiern auf der Wunderburg durften nun nicht mehr stattfinden. Auch wurden in Calbe jegliche Prachtentfaltung bei Beerdigungen (1719), „Üppigkeit und Gelage“ (1720), der spektakuläre Umzug mit dem Meisterochsen der Fleischer (1727) sowie aufreizender Kopfputz und wertvolle Tücher der Frauen (1722) untersagt. Die Calbenser hielten sich jedoch nicht immer daran, und empfindliche Strafen folgten prompt. Besonders schmerzlich war für die Calbenser, die wie alle Menschen des Mittelalters und Barocks gern intensiv und üppig feierten, um 1700 die Abschaffung der seit dem Mittelalter auf dem Rathaus-Tanzboden stattfindenden Feste, an denen die gesamte Stadt teilnahm und die man Kälbertänze nannte. Wer nicht zum Abendmahl ging, musste die Stadt verlassen (1682), und uneheliche Kinder durften (wie die Juden) kein Handwerk erlernen (1722).

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde  der Pietismus mehr und mehr durch die Bewegung der Aufklärung zurück gedrängt. Gegen Ende des Jahrhunderts begann man auch in Calbe, den Pietismus zu überwinden und sich zaghaft der Aufklärungs-Bewegung anzuschließen. Gegen Spott und Widerstand der natürlich immer noch vorhandenen strengen Moralisten wurde ein Liebhabertheater ins Leben gerufen, das mit großem Erfolg im Jahr 5 – 6 Vorstellungen gab. Als erstes Stück wurde im September 1790 das Lustspiel “Der Schatz“ von Lessing aufgeführt.

 

Einer der bedeutendsten Pietisten und Pädagogen, August Hermann Francke, war höchstwahrscheinlich 1702 nach Calbe gekommen und hatte in der  Heilig-Geist-Kirche gepredigt (vgl. Rocke, S. 116). Allerdings ist diese Predigt bislang nicht aktenmäßig und durch zeitgenössische Zeugnisse belegbar. Warum Hävecker in seiner berühmten Chronik dieses Ereignis nicht erwähnte, ist unklar. War Francke ein unliebsamer Konkurrent oder hatte der alte Mann (- bei der Niederschrift war Hävecker über 80 Jahre alt -) dieses Ereignis ganz einfach vergessen?

Jakob Friedrich Reimmann (1668 - 1743)

Auch ein Pionier der aufblühenden Aufklärung, Jakob Friedrich Reimmann (1668 - 1743),  war mit Calbe und der Familie Hävecker verbunden. Der später berühmte, aus ärmlichen Verhältnissen stammende und durch enormes Selbststudium zu Gelehrten-Ansehen gelangte Reimann musste sich mit 22 Jahren als Hauslehrer bei der Familie des Oberamtmanns Hanstein in Calbe verdingen.  Seiner Lesewut kam ein Mann entgegen, von dem man das nicht erwartet hätte, der Ratsherr und spätere Bürgermeister Christian Friedrich Deutschbein (Teutschbein). Dieser wohl reichste Mann Calbes war auch philologisch interessiert und besaß eine Bibliothek, aus der er dem wissenshungrigen Habenichts wertvolle Bücher, einige sogar in arabischer Sprache, auslieh. Auch in dem Diakon Hävecker (s. oben) hatte er einen väterlichen Freund und in dessen Familie warmherzige Aufnahme gefunden. Besonders war der 23jährige der 17jährigen Nichte Häveckers im nahe gelegenen Brumby zugetan. Deshalb zögerte Reimmann nun sogar, lukrativere Angebote in anderen Städten anzunehmen. Als er 1692 doch noch eine Berufung als Schulrektor in Osterwieck (Harz) annahm, hätte ihn sein mangelndes Selbstwertgefühl beinahe in eine Krise gestürzt. Doch der Freund Johann Heinrich Hävecker reiste schleunigst in den Harz hinterher. Bald brachte er das Gespräch aufs Heiraten. Der niedergeschlagene Reimmann warf ein, dass ihm bei seiner schlechten Besoldung kein vernünftiger Mensch seine Tochter anvertrauen würde. Doch Hävecker gab ihm zu verstehen, dass die Häveckers mit der Heirat einverstanden waren. Die Verlobung wurde zu Reimmanns Freude sofort arrangiert, und am 14.2.1693 fand in der Kirche Brumby im Beisein der Familie Hävecker und der Familie Reimmann die Hochzeit "mit Jungfer Anna Margaretha, Herrn Magister Conradi Hävecker, Pastoris eheliche Tochter, nach 3maligem ordentlichen  Aufgebot öffentlich" statt. Damit begann eine schicksalsreiche und glückliche Ehe. Jakob Friedrich begann bedeutende Werke zu veröffentlichen. 1702 ernannte der preußische König Friedrich I. den ungemein fleißigen und begabten Gelehrten zum Inspektor im Fürstentum Halberstadt. Gottfried Wilhelm Leibniz war auf Reimmanns Werke aufmerksam geworden und besuchte ihn mehrmals. Damit begann eine lebenslang dauernde Freundschaft, die mit einem "starken Briefwechsel" verbunden war. Als er 1717 den Posten des Stadtsuperintendenten in Hildesheim annahm, hatte wohl die materielle Dürftigkeit bei Reimmanns ein Ende. Jakob Friedrich Reimmann konnte sich noch intensiver seinen Studien widmen. Seine von den Zeitgenossen bewunderte enorme Bildung und sein wissenschaftlicher Fleiß hatten jedoch auch ihre gesundheitlichen Schattenseiten. Der 1716 verstorbene Freund Leibniz hatte wiederholt gewarnt: "Wenn wir weniger täten, könnten wir mehr tun." 1735 kam eine Lungenkrankheit wieder verstärkt zum Ausbruch, aber erst 3 Tage vor seinem Tod legte der erschöpfte Mann die Schreibfeder nieder. Er starb 1743 an Auszehrung infolge einer Alterstuberkulose. Mit seinen bedeutenden Werken zur Literatur-, Atheismus- und Philosophiegeschichte sowie zur Systematisierung des Gedankengutes war er ein Wegbereiter der späteren Germanistik und der vergleichenden Systematik in den Geisteswissenschaften (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 27, S. 716).

Sein väterlicher Freund und Verwandter in Calbe, Johann Heinrich Hävecker war zwei Jahre nach dem Erscheinen seiner Chronik im Juli 1722 gestorben.

Ein anderer bedeutender Vertreter der Aufklärung war der Calbenser Pfarrer, Liederdichter, Sprachforscher und Quellen-Sammler Johann Friedrich August Kinderling, geboren 1743 in Magdeburg, gestorben am 28. 8.1807 in Calbe. Er war zum Magister phil. promoviert worden und seit 1768 als Lehrer, zwei Jahre später als Rektor in Kloster Berge (heute Stadtteil von Magdeburg),  seit 1771 als Prediger in Schwarz und seit 1774 als Diakon und nachfolgend als Pastor in Calbe tätig. Besonders hat sich Kinderling um die Erforschung der deutschen Sprache verdient gemacht. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten „Über die Reinigkeit der deutschen Sprache und die Beförderungsmittel derselben mit einer Musterung der fremden Wörter und anderen Wörterverzeichnissen“  (Berlin 1795) und „Geschichte der niedersächsischen oder sogenannten plattdeutschen Sprache, vornehmlich bis auf Luthers Zeiten, nebst einer Musterung der vornehmsten Denkmale dieser Mundart“ (Magdeburg 1800) erhielt er von der königlichen preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin einen zweiten und von der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen einen ersten Preis. Seine zahlreichen Schriften zur Geschichte der deutschen Sprache, besonders der Sprache im Mittelalter, waren Standardwerke in der Fachwelt der Aufklärungszeit und wirkten wie die Reimmanns auf die wenig später entstehende germanistische Wissenschaft. Kinderling hatte auch Kirchenlieder im Stil der literarischen Aufklärung verfasst. Als 1780 eine Welle der Empörung durch das Land ging, weil Friedrich II. die Einführung des so genannten Berliner Gesangbuches mit neuen aufklärerischen Liedtexten angeregt hatte, trat Kinderling in verschiedenen Schriften für die Notwendigkeit ein, „die alten Kirchengesänge zu verbessern“ (vgl. ebenda, Bd. 15, S. 754).

 

Die brandenburgisch-preußischen Herrscher betrieben nach dem Dreißigjährigen Krieg, der ihr ohnehin nicht gerade dicht besiedeltes Land stark entvölkert hatte, eine Politik der planmäßigen Besiedlung, die Peuplierung genannt wurde. So suchten der Große Kurfürst und seine Nachfolger stets nach Menschen, möglichst mit wirtschaftlichen Kompetenzen, die gewillt waren, in ihr Land zu ziehen. Glaubensdinge mussten dabei ganz im Sinn des merkantilistischen Zieles und der Aufklärung im Hintergrund bleiben. Solche Menschen fanden sie u. a. in den französischen und pfälzischen Calvinisten und in den Juden.

Im katholischen Frankreich wurden die calvinistisch-protestantischen Hugenotten seit Beginn der Reformation brutal verfolgt. Als durch das Edikt von Fontainebleau Ludwigs XIV. am 18.10.1685 das tolerante Edikt von Nantes (von 1598) wieder aufgehoben wurde und die französischen reformierten Protestanten erneut verfolgt wurden, erließ der Große Kurfürst am 8.11.1685 in Preußen das Potsdamer Toleranzedikt, in dem allen preußischen Untertanen Glaubensfreiheit und fremden Einwanderern mit wichtigen Berufen eine Reihe von Fördermaßnahmen und Vergünstigungen zugesichert wurden. Bald darauf wurden 20 000 hugenottische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und der Pfalz in weiten Teilen Preußens, auch in Calbe, angesiedelt.

Nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus der Pfalz kamen Flüchtlinge. In das an Frankreich grenzende Kurfürstentum Pfalz hatten sich im 17. Jahrhundert viele Hugenotten geflüchtet, weil Karl Ludwig, der Sohn des "Winterkönigs von Böhmen", im Westfälischen Frieden 1648/49 die Pfalz erhielt und sie mit religiöser Toleranz und geistiger Aufgeschlossenheit regierte. Hugenotten wurden mit Privilegien ausgestattet und brachten das Kurfürstentum rasch zur kulturellen und wirtschaftlichen Blüte. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688 bis 1697 jedoch erhob Ludwig XIV. von Frankreich Anspruch auf das prosperierende Gebiet. Bald sah sich der Sonnenkönig aber einer Großen Allianz von Kaiserreich, England, Spanien, Niederlanden und Savoyen gegenüber. Auf seinem Rückzug wandte er in der Pfalz die "Taktik der verbrannten Erde" an, um vom frühkapitalistisch blühenden Land auch seinen Gegnern nichts zurückzulassen. Die Urheber des Wohlstandes flohen in Scharen. Die "Pfälzer" fanden in Brandenburg-Preußen eine neue Heimat. (Übrigens: Auch der Gründervater der späteren Magdeburger Grusonwerke, Abraham Gruson, war ein Pfälzer Emigrant.)

Die französischen Auswanderer brachten das entsprechende technische Know-how mit, und nicht nur das, sie übermittelten auch eine sublime Lebensart, welche die Preußen noch nicht kannten.

1687 wurden auf Anordnung des Großen Kurfürsten (Privilegium vom 23.12.) in Calbe sieben pfälzische Tuchmacher angesiedelt. 1709 kamen die ersten französischen Refugiés hierher. 1732 existierten 19 französische und 44 pfälzische Familien in der Stadt. Diese ersten Aussiedler der Neuzeit in Calbe wurden in einer eigenen "Kolonie" am inzwischen zugeschütteten nördlichen Stadtgraben (der heutigen Grabenstraße, früher "Koloniestraße") (vgl. Station 10) angesiedelt und bestimmten fortan die Geschicke der Stadt maßgeblich mit. 1716 umfasste die „französische Kolonie“ 63 Personen. Die Neusiedler waren hier vorwiegend als Tuchmacher (vgl. Teil 1) tätig. Der 1723 nach Calbe gekommene junge Refugiè und Tuchfärbermeister Jean Tournier trug wesentlich zur Steigerung der Calbenser Tuchproduktion bei.

Ihren reformierten Glauben durften die Neubürger später in der ehemaligen Schlosskapelle ausüben. Bis deren Zerstörungen beseitigt worden waren, mussten sie zunächst einmal in die Heilig-Geist-Kirche ausweichen. Spannungen und Streitigkeiten zwischen den reformierten Einwanderern und den alteingesessenen lutherischen Calbensern waren zwar nicht im Sinne der preußischen Herrscher, sie waren jedoch Indikatoren für eine tiefer sitzende ökonomische Rivalität. U. a. gab es in Calbe entehrende Auflagen für Reformierte: So durften z. B. die calvinistischen Verstorbenen nicht tagsüber mit den lutherischen Toten, sondern nur nachts beerdigt werden. Um zermürbende Streitigkeiten zu verhindern, bestimmte 1711 ein königliches Reglement, dass die Trauzeremonie bei Eheschließungen zwischen Lutheranern und Reformierten dem Bekenntnis des Mannes folgen musste. Töchter folgten dem Glauben der Mutter, Söhne dem des Vaters (vgl. Hertel, S. 158). Die hugenottischen Einwanderer, die etwa ein Zehntel der Calbenser Bevölkerung im 18.Jahrhundert ausmachten, sind aber bald mit der Calbenser "Ur"bevölkerung verschmolzen, manchmal trifft man noch auf ihre (oftmals eingedeutschten) Familiennamen. Um 1900 gab es nur noch eine kleine reformierte Gemeinde in der Schlosskirche (vgl. ebenda), und im 20. Jahrhundert verschwand sie ganz.

1791 starb der Schönfärber und Tuchhändler Jean Tournier im Alter von 93 Jahren. Er war hier in Calbe zu einem sehr reichen und angesehenen Mann geworden, der von seinem Vermögen dem Pfarrer der Reformierten ein Haus in der Tuchmacherstraße/Ecke Grabenstraße geschenkt und in der Stadt eine Vielzahl von bürgerlichen und staatlichen Funktionen innehatte, u. a. den Posten des Kolonie-Assessors. Schon vor 1780 wohnte er vorwiegend in der Scheunenstraße 26, wie Einquartierungsnotizen aus der Zeit der friderizianischen Kriege (s. unten) belegen (vgl. Reccius, Chronik,  S. 80). Informationen über das inzwischen beseitigte scheinbare Erbbegräbnis der Tourniers auf dem Laurentiusfriedhof erhalten Sie an der Station 20. Das Haus der Familie Tournier am Markt kam in neuen Besitz. Der Kaufmann Bernhard Grobe aus Bernburg war Bürger der Stadt Calbe geworden, hatte 1780 das Tourniersche Haus am Markt Nr. 14 erworben und Wilhelmine Charlotte Ritter geheiratet. Er war der Vater des Fabrikbesitzers Gustav Grobe aus der Zeit der ersten Etappe der industriellen Revolution. Danach kam es zeitweilig in den Besitz der ebenfalls in Calbe und Umgebung berühmten Tuchfabrikanten-Familie Nicolai.

Die Judenpeuplierung in Calbe blieb eher bescheiden. Beruhend auf der Aufklärung und dem darin essentiell enthaltenen Toleranzgedanken gab es zwar nicht mehr die Bosheiten und Verbrechen christlicher Menschen gegenüber Juden wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit, aber von Gleichstellung konnte in einer Zeit des Pietismus (s. oben) noch lange keine Rede sein. Der pietistische Protestantismus setzte eher auf Missionierung, das heißt in diesem Fall, auf die Bekehrung von Menschen jüdischen Glaubens zum Christentum; echte Toleranz lag dem Pietismus fern. 1706 war auf königlichen Befehl der Schutzjude Joseph aufgenommen worden, der aber nicht lange blieb. 1708 wurde in Calbe ein Jude namens Joseph Levi christlich getauft, um ihm das Los der Bettelei zu ersparen, wie es hieß. Der Konvertit wurde nach eigener Wahl Schneider; als Jude hätte er kein Handwerk erlernen dürfen. Nachdem er vom Magistrat eingekleidet worden war, hatte er sich auf Wanderschaft begeben. Zwei königliche Schutzjuden lassen sich seit 1718 bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Calbe nachweisen. Das Verhältnis zwischen Calbensern und Juden muss auch nicht gerade harmonisch gewesen sein. Immerhin drohte die königliche General-Tabak-Administration zwei Calbenser Kaufleuten, die sich 1769 weigerten, weiterhin den staatlichenTabaksvertrieb (vgl. Teil 1) im Ort zu übernehmen, damit, zwei königlich privilegierte Juden damit zu beauftragen. Die Drohung wirkte. Erst mit der Französischen Revolution kam der Durchbruch, sie brachte auch für die jüdischen Mitmenschen die juristische, politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung - zumindest nach dem Gesetz (s. unten).

 

Von Anfang an hatten die Calbenser Bürger ein gespaltenes, teilweise auch gespanntes Verhältnis zum brandenburgisch-preußischen Militär.

Bereits 1677, also drei Jahre vor dem Ableben des Administrators und somit vor dem vereinbarten Zeitpunkt der Machtübernahme, hatte sich in Calbe kurfürstliches  Militär einquartiert, und die Calbenser waren empört wegen der Errichtung eines Kompanie-Galgens auf ihrem Marktplatz. Auch 1683/84 lag für einige Zeit Militär in Calbe.

Für die Zeiten der Garnisonierungen hatten die Bürger "ihre" Soldaten in den Wohnungen aufzunehmen und zu beköstigen. Auf dem Alten und Neuen Markt wurde je ein Wachlokal eingerichtet, „Corps de garde“ genannt.

1722 lag das gesamte "Dessauer Regiment" (Infanterie-Regiment Nr. 3), die Muster-Militäreinheit unter dem Generalfeldmarschall Leopold Fürst von Anhalt-Dessau, 7 Wochen lang in Calbe (Regiment 1000-2000 Mann). Der "Alte Dessauer", ein Freund des "Soldatenkönigs" und der "Drillmeister" Preußens, hatte einige Neuerungen eingeführt, wie straffe Dienstreglementierung, Einführung des eisernen Ladestocks und Erhöhung der Feuerkraft, das Exerzieren und den Gleichschritt.

In Friedenszeiten gingen die jungen Burschen nach der 18monatigen Grundausbildung und der festgesetzten jährlichen Exerzier- und Garnisonszeit für einige Monate im Jahr nach Hause. In der Garnison blieb ein Drittel der Mannschaft. So waren demnach 1722 etwa 300 bis 600 Soldaten bei 600 Calbenser Familien untergebracht.

Am 18. Oktober 1741, während des ersten Schlesischen Krieges, rückten 4 Kompanien (400–800 Mann) des "Regiments zu Fuß" (Nr. 9) von Leps  in Calbe in die Winterquartiere. Das war ein Regiment, welches im zweiten und dritten Schlesischen Krieg traurige Berühmtheit wegen seiner hohen Verluste (jeweils 10 bis 50 % Tote und rund 20 bis 40 % Verwundete) erlangte.

Nach dem preußischen Sieg bei Chotusitz (tsch. Chotusice) am 17. 5. 1742 über die Österreicher feierte das erste Bataillon (Bataillon 500-1000 Mann) des Leps-Regimentes in Calbe mit großem Aufwand. Auf den Hohendorfer Wiesen vor der malerischen Waldkulisse bewirtete der Regimentskommandeur die Herren Offiziere auf das Herrlichste. Auf dem Anger nahe dem Sandhof wurde ein Feuerwerk abgebrannt mit Raketen  und Feuerkugeln, die über die Saale rollten. Nachdem sich der Herr General in sein Quartier im Reichenbachschen Rittergut zurückgezogen hatte, brachten ihm die aufgekratzten Offiziere noch ein Ständchen, zogen dann aber weiter, um "anzügliche Arien unter Leierbegleitung" unter den Fenstern derjenigen Ratsmitglieder zu singen, mit denen sie auf Kriegsfuß standen. Das gab allerdings Ärger, aber am 18. Juni kam das zweite Bataillon von Aken, und kurz danach rückte das nun vollständige Regiment nach Westfalen ab. Doch die Ruhepause für die Bürger dauerte kaum länger als ein Jahr.

Im Oktober 1743 kam das zweite Bataillon des neu gegründeten Füsilierregiments Hessen-Darmstadt  (Infanterieregiment Nr. 47) ins Quartier nach Calbe. Das Bataillon blieb bis 1753 in Calbe stationiert. Der Kommandeur des in Calbe stationierten Bataillons war Oberst Baron Bolstern von Boltenstern, sein Stellvertreter Major von Kleist. Außer den beiden hohen Stabsoffizieren waren auch 19 andere Offiziere ins Calbenser Quartier  gekommen, weiterhin 48 Unteroffiziere, 48 Unteroffiziers-Ehefrauen, vier Feldscher (Militärmediziner), 16 Tambours (Militärmusiker), eine Tambour-Ehefrau, 546 Füsiliere (Infanteriesoldaten, nach frz. fusil = Gewehr) und 93 Soldaten-Ehefrauen (vgl. Hertel, S. 47).

Das Bataillon hatte also eine Stärke von 635 Mann. Über die Einquartierungen gab es, wie die Akten berichten, viel Wut unter der Bürgerschaft, die sie vorwiegend an den Behörden ausließ. Bald schon gab es eine Rüge des Kommandeurs, weil trotz des Alarms nicht ein einziger Bürger zur Verfolgung eines Deserteurs auf dem Marktplatz, wie befohlen, erschienen war. Dann kamen auch noch die ehrenrührigen Beschwerden des Obersten und seiner Offiziere hinzu, in Calbe würde ein schlechtes Bier gebraut, schlechtes Brot gebacken und es gebe zu wenig Fleisch. Das brachte den Rat so in Rage, dass sich einer der Sechsmänner gegenüber von Bolstern zu einer in den Akten notierten boshaften Bemerkung hinreißen ließ. Von Bolsterns Umgang mit Menschen scheint nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei seinen Soldaten auf Widerwillen gestoßen zu sein, denn wiederholt sind in den Akten Hinweise auf Gewalttätigkeiten und Desertionen zu finden.

Am 17. September 1747 kam der Erlass, die Hintertüren der Calbenser Häuser verschlossen, alle Leitern angekettet zu halten und keine neuen Ausgänge anzulegen, um Desertionen zu erschweren.

Als ein Soldat 1744 mit drei anderen Kameraden bei der Flucht gestellt wurde und in seiner Verzweiflung einen ihn verfolgenden Unteroffizier durch einen Stich ins Bein so verletzte, dass dieser später verstarb, wurde er in Calbe auf dem Marktplatz in Anwesenheit des Bataillons gehenkt. Abends musste der Henker den Leichnam abnehmen und zum Galgenplatz, 800 Meter westlich vor dem Brumbyer Tor (vgl. Teil 1) auf einem Brett schleifen (- nicht fahren). Dort wurde die Leiche des noch im Tode gedemütigten Mannes ohne Grab unter dem Galgen verscharrt. Einem Unteroffizier mit 3 Mann gelang am Pfingsttag 1744 die Flucht.

Die Calbenser Bürger mussten auf Befehl des Kommandeurs ohne Entschädigung ständig 4 Pferde zur Verfolgung von Deserteuren bereithalten. Soldaten, die für die Truppe Kutscherdienste zu versehen hatten, waren besonders desertionsverdächtig. Deshalb wurde ihnen ein Teil des Kopfes kahl geschoren. Bei Verdacht mussten sie die Kopfbedeckung abnehmen. 1758 suchte man einen Deserteur vom Regiment Alt-Braunschweig vergeblich bei seinen Eltern in Calbe; er war aus dem Lazarett in Torgau geflüchtet.

Die rivalisierenden Staaten versuchten wechselseitig, die Soldaten der Gegenseite zur Desertion zu bewegen, wobei potentielle Flüchtige mit materiellen Vergünstigungen gelockt wurden. 1756, zu Beginn des Siebenjährigen Krieges waren die Städte von hoher Stelle angewiesen worden, österreichischen und französischen Deserteuren "täglich zwei Groschen Zehrgeld aus öffentlichen Kassen" zu verabreichen.

Wie weit Gewalt auch bei der skrupellosen Jagd nach Soldaten im Spiel war, zeigt ein Calbenser Vernehmungsprotokoll von 1769. In Ratibor (Raciborz) hatte man den preußischen Infanterie-Soldaten Kröckel als Überläufer festgenommen. Der ehemalige preußische Unteroffizier, der invalide Sattler Johann Samuel Drenkmann, der ihn kannte und jetzt in Calbe lebte, gab zu Protokoll, "es treffe zu, daß die Östreicher den gefangenen preußischen Musketier Kröckel durch qualvolle Behandlung - Krummschließen u. dergl. - gezwungen hätten, kaiserliche Dienste anzunehmen."

Friedrich Wilhelm I. beendete die "wilden Rekrutierungen", die großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet hatten, indem er das 1733 Kantonierungssystem einführte, nach dem das ganze Land in Militärkantone eingeteilt wurde, aus denen sich die Regimenter zu rekrutieren hatten. Die Rekrutierungen betrafen ausschließlich Bauern- und Handwerksburschen. Die Kommandeure ließen in ihrem Kanton alle gesunden und gut gewachsenen Jungen registrieren, um sie dem jeweiligen Regiment zu verpflichten. Die Knaben trugen nun die Regimentsfarbe an ihren Hütchen, die sie als künftige Soldaten kennzeichnete.

Um die Jungen als potentielle Soldaten und die Mädchen als künftige Soldatenfrauen für militärischen Glanz zu begeistern, bekamen die Schulkinder bei Truppen-Durchmärschen, Paraden und Militär-Festen schulfrei. Nach der Konfirmation wurde die Jungmannschaft »enrolliert«, d. h. in die Stammlisten eingetragen. Benötigte der Kommandeur Ersatz, zog er so viele Enrollierte mit der vorgeschriebenen Größe ein, wie er brauchte. Übrigens: Das geflügelte Wort vom "unsicheren Kantonisten" stammt aus dieser Zeit, als es auch junge Burschen gab, die sich mit dem Gedanken trugen, nicht "bei der [Regiments-]Fahne" zu bleiben und sich rechtzeitig abzusetzen, also bereits als Enrollierte vor ihrem Militärdienst zu desertieren.

Leib-Kürassier

Calbe gehörte zum Kanton für das Infanterie-Regiment Nr. 5 (Regiment zu Fuß) [1655 - 1806], dem berühmt-berüchtigten "Leibregiment des Königs". So hatten denn auch die jungen Männer aus Calbe neben denen aus Magdeburg, Staßfurt, Aken, Egeln, Görtzke, Loburg, Luckenwalde sowie den Bauernburschen aus den Kreisen Jerichow I und II, Luckenwalde und aus dem Holzkreis 1 des Herzogtums Magdeburg die zweifelhafte Ehre, für ihre hohen Verluste in den inzwischen in die Kriegsliteratur eingegangenen Schlachten von Hohenfriedeberg (Dobromierz), Lobositz (Lobosice) und Kunersdorf (bei Fürstenberg) sowie an der Katzbach bei Liegnitz (Legnica) die Lieblinge Friedrichs II. zu sein. Die Verluste dieses Leibregiments auf den Süptitzer Höhen bei Torgau waren so hoch, dass der König jegliche Bekanntgabe verbot.

Allerdings war es auch möglich, sich - im Interesse einer prosperierenden Wirtschaft - vom Militärdienst freistellen zu lassen. Als ein Fleischermeister 1789 starb, war sein Sohn noch in der Lehre. Der junge Mann führte 7 Jahre lang das Geschäft für seine Mutter als Geselle, weshalb er als Kantonist seines Regiments gestrichen wurde. Auch Loskauf war möglich. 1731 ließ in Landgerichtsschöffe sein Mündel für 20 Taler aus der Regiments-Stammrolle (s. oben) streichen. Kantonierung galt nur für die unteren Volksschichten. 1773 beanspruchten die Mitglieder der Kaufmanns-Innung Freiheit von der Enrollierung ihrer Söhne, weil sie ein entsprechendes Vermögen aufzuweisen hatten.

Von 1753 bis zum Zusammenbruch Preußens 1806 war in Calbe eine Eskadron (160 Mann) mit 2 Kompanien des Kürassierregiments Nr. 3 (5 Eskadronen bzw. 10 Kompanien) stationiert, das seit 1656 als "Leib-Kürassierregiment"  galt. Kürassiere nannte man die schwere Reiterei mit Brustpanzer (Kürass). Sie waren mit Palasch und Karabiner bewaffnet (s. Abb.). Als Palasch bezeichnete man eine zweischneidige, gerade Hieb- und Stichwaffe, auch Kürassierdegen genannt. Jede Kürassier-Eskadron hatte zwei Trompeter, zwei Waffenschmiede und einen Feldscher (Feldchirurg).

Die Kantonisten des Kürassier-Regiments kamen aus den Kreisen Aschersleben, Oschersleben und dem östlichen Teil des so genannten Holzkreises mit den Städten Schönebeck/E. (mit Frohse und Salze), Mansfeld, Hamersleben und Gerbstedt. Seit 1732 war das Regiment unter seinem Chef Generalmajor Hans Friedrich von Katte in seinem eigenen Kanton stationiert. Leibkürassier-General von Katte war der Vater jenes unglücklichen Leutnants Hans Hermann von Katte, der 1730 in Küstrin enthauptet wurde.

Das Desertionsproblem war auch bei den Kürassieren gegenwärtig, denn 1756 wurde den Bürgern Calbes befohlen, alle Türen ihrer Häuser geschlossen zu halten und sofort Meldung zu erstatten, wenn ein Soldat zur Nachtruhe nicht im Quartier war.

Der dritte Schlesische, der so genannte Siebenjährige Krieg (1756 - 1763) brachte für Calbe erstmals nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder Plünderungen, Drangsalierungen und Kontributionen.

Unter dem Oberbefehl des "Alten Dessauers" Fürst Leopold (s. oben) war das Leib-Kürassier-Regiment in diesen Krieg gezogen, wo es mit erheblichen Verlusten eingesetzt wurde.

Die Bevölkerung der Garnison Calbe aber blieb, wenn den König wie in diesem Fall das "Kriegsglück" verließ, den feindlichen Truppen schutzlos ausgeliefert. Bei der französischen Invasion 1757 hatte die Stadt Calbe knapp 2980 Taler verloren. Als die Österreicher und Russen in unsere Gegend einrückten, wurde laut Augenzeugenberichten geplündert und gebrandschatzt. Nach der schweren Niederlage Friedrichs II. am 17. August 1759 bei Kunersdorf drangen österreichische Husaren und Jäger (Scharfschützen) auch bis Calbe vor. Laut einer Aktennotiz hatten sie Nahrung, Getränke, Stoffe, Lederwaren und Gebrauchsgegenstände im Wert von 1250 Talern requiriert. Die Österreicher waren vor die verschlossene Stadt gezogen und hatten deren Verschonung mit der Lieferung der genannten Dinge erpresst. Im Falle einer Weigerung der Bürger drohten die Belagerer mit der Erstürmung und Einäscherung der Stadt. Die Österreicher hielten sich so lange, bis die Lieferungen erfolgt waren, in den Vorstadthäusern auf.

Den Siebenjährigen Krieg hatten 63 Kantonisten aus Calbe in "ihrem“ Leibregiment des Königs mitgemacht, 12 (19%) waren nicht zurückgekehrt.

1778 mussten sich die Leib-Kürassiere erneut auf einen Krieg vorbereiten. Österreich hatte es, um seine Stellung im Reich zu stärken, auf Teile Bayerns abgesehen. Das rief Preußen auf den Plan. Als Verhandlungen scheiterten, rüsteten beide Seiten zum Krieg, zum so genannten Bayrischen Erbfolgekrieg.

Die Calbenser Sattlermeister lieferten 100 Packsättel, und der Magistrat transportierte zwangsweise 4 Schmiede- und 2 Stellmachergesellen unter Bewachung nach Magdeburg, wo sie im Artilleriedepot schwere Mobilmachungsarbeiten zu leisten hatten.

Zwei Regimenter machten kurz in Calbe Station und zogen am 1. Juli 1778 in Richtung Böhmen ab, dem für die Soldaten angenehmsten und vergnüglichsten preußischen Krieg entgegen; denn es gab im Bayrischen Erbfolgekrieg nicht eine einzige Schlacht und kaum Blutvergießen, dafür um so mehr in Böhmen geklaute Kartoffeln und Obstbaumfrüchte. So wurde der Krieg auch von den Preußen spöttisch "Kartoffelkrieg" und von den Österreichern wegen ihres reichlichen Pflaumengenusses mit anschließenden Darmproblemen "Zwetschgengrummel" genannt. Der Böhmen-Marsch nahm schon im Oktober ein friedliches Ende. Die verfeindeten Seiten waren durch die drei Schlesischen Kriege zu sehr erschöpft und wirtschaftlich geschädigt.

Die Tuchmacher in Calbe, welche mit einem länger dauernden Krieg gerechnet und entsprechend mehr Rohstoffe beschafft hatten, wurden in große finanzielle Schwierigkeiten gebracht und ein Teil von ihnen ruiniert (vgl. Teil 1).

Alles in allem gesehen, war die preußische Militärmaschine ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor für das städtische Bürgertum des Manufakturzeitalters.

Während die einen Gewerke von den Soldatenscharen in der Stadt und von den Aufträgen der königlichen Kriegskammer profitierten, ging es einem anderen Teil der Bürgerschaft unter der preußischen Militärherrschaft nicht so gut. Besonders alte und gebrechliche Bürger litten unter den Einquartierungen. Es gab aber außer solchen Belastungen auch andere Schattenseiten des preußischen Militarismus für die Bürger. So wurde in den Ratsakten Beschwerde darüber geführt, dass handwerklich ausgebildete Soldaten illegal zu Dumpingpreisen kleine Handwerksarbeiten ausführten und damit den Innungen die Arbeit wegnahmen. Seit den 1740er Jahren nahmen die Aktionen von Diebesbanden drastisch zu. Deserteure, Kriminelle und einige Soldaten arbeiteten zusammen, indem zuerst in weiter entlegenen Städten wertvolle Gegenstände gestohlen wurden, die dann hier von Soldaten unter der Vorgabe, sie stammten aus Feindesbeute, verhökert wurden. Nach dem Bayrischen Erbfolgekrieg kam es in Calbe wieder zu einer Zunahme der Diebstähle, zu deren Verhütung die Reiter vom Leibregiment und Bürgerwachen herangezogen wurden.

Soldaten, die sich ehrenvoll verhalten hatten, erhielten nach der Dienstzeit, wenn sie wollten, nicht nur das städtische Bürgerrecht, sondern konnten sich auch um einträgliche Gewerke als Tuchmacher oder Gastwirte bewerben. Laut königlichem Erlass von 1722 bekamen entlassene Soldaten zum Ärger der alteingesessenen Calbenser freies Bürger- und Meisterrecht. 1783 erwarb Andreas Weber, ein ehemaliger Reiter bei den in Calbe stationierten Leibkürassieren, das Bürgerrecht und übernahm den "Gasthof zum Weißen Ross“ am Markt. Wirt im "Schwarzen Adler" vor dem Brumbyer Tor war 1782 Zacharias Kegel geworden, der Leutnant in einem Freikorps gewesen war.

Mit Zustimmung der Regierung  durfte auch der aus Südwestdeutschland stammende, ehemalige Reiter Friedrich Wilhelm Raab, katholischer Konfession, Bürger in Calbe werden.

Sein Schicksal in friderizianischer Zeit ist typisch für das vieler junger Männer jener Epoche und soll hier kurz nach den Ratsakten skizziert werden:

In seiner Heimatstadt Bruchsal hatte Raab das Fleischerhandwerk erlernt. 1760 ging er in die Fremde, wurde französischer Husar,  desertierte aber bald zu den Preußen. Dort trat er in das Bauersche Freikorps ein und wurde nach dem Kriege bei Auflösung des Freikorps Reiter bei den Leibkürassieren in Calbe. Als solcher erhielt er Urlaub in Erbschaftsangelegenheiten nach seiner Heimat. Als er von der langen Reise (ca. 600 km) nicht rechtzeitig zurückkehrte, musste er 10mal Spießruten laufen und wurde danach an das Bataillon in Aken verkauft. Später machte ihn Rittmeister von Esebeck frei und nahm ihn als Jäger (=leicht beweglicher Scharfschütze) an. Als solcher wurde er beim Wildschießen für seinen neuen Gönner im Barbyschen Gehege, also auf kursächsischem Gebiet, ertappt, festgenommen und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, welches er in Torgau absitzen musste. Danach war Raab als Werber tätig und verkaufte Calbenser Rekruten an fremde Regimenter, zu deren Kantonen Calbe gar nicht gehörte. Deshalb wurde er wieder verhaftet, bald jedoch mit einer Verwarnung entlassen.

Als dieser Mann in Calbe darum bat, erhielt er 1784 trotz seiner katholischen Konfession und seiner dubiosen, unbürgerlichen Vergangenheit das Bürgerrecht (vgl. Reccius, S. 81).

Für ausgeschiedene kranke und invalide Soldaten wurde ebenfalls in bescheidenem Maße gesorgt. Einige invalide Veteranen wurden als Dorfschullehrer verwendet. 1792 erbat der kranke Grenadier Johann George Boßmann den Abschied. Er habe 35 Jahre lang gedient und könne nicht mehr alle Jahre den Weg von Calbe nach der Garnison, zumal unter schweren Kosten, machen. Er besitze ein Haus in Calbe und könne sich als Zimmermann ernähren, so dass er keinerlei Versorgungsansprüche stelle. Der Magistrat bestätigte Boßmanns Angaben.

In der 13jährigen Friedensperiode wurden Manöver und Paraden abgehalten, die ab und zu auch noch für die Calbenser zusätzliche Einquartierungslasten brachten.

1781 bezog z. B. das oben erwähnte Infanterieregiment Nr. 3, das "Dessauer", später "Anhalter" genannte Regiment, das einstmals unter dem Kommando des "Alten Dessauers" gestanden hatte, in Calbe Quartier. Es war auf Station vor der großen Truppenparade mit Manöver in Körbelitz (bei Magdeburg). Der Kommandant, Generalmajor Franz Adolf Prinz von Anhalt-Bernburg, nahm seinen Sitz im Doppel-Haus des Tuchfabrikanten Joachim Gerhard Ritter, Breite 42/43 (vgl. Station 18), die Stabsoffiziere wurden zu reichen Tuchfabrikanten, z. B. zum 83jährigen Jean Tournier (vgl. Station 1), zu wohlhabenden Kaufleuten, Ratsherren sowie zum Rittergutspächter, zum Regierungskommissar und zum Stadtsyndikus ins Quartier gelegt. Bei einer Einwohnerzahl von 3161 lagen in Calbe in diesen Wochen insgesamt 2887 "Manövergäste" außer den "eigenen" Leibkürassieren. Frei von Einquartierungen blieben nur der Bürgermeister, der Kämmerer (wegen der Stadtkasse), die Post (wegen der Briefe) und der "Braune Hirsch" als Ratsgasthof.

Nach dieser längeren Friedensperiode zogen die Calbenser Leibkürassiere erst 1792 vor Weihnachten wieder in den Krieg, diesmal gegen das revolutionäre Frankreich.

Die Rückgewinnung von Mainz und der Sieg bei Pirmasens wurden in Calbe festlich begangen, und die Bürger von Calbe spendeten 50 Taler für die Verwundeten und 115 Taler für die Soldaten aus Calbe. Als 1400 französische Kriegsgefangene den langen Marsch von Mainz nach Magdeburg antreten mussten, kamen nur noch 200 gesund in Calbe an, 400 waren gestorben, 800 krank.

Als am 5. April 1795 der Sonderfrieden in Basel unterzeichnet wurde, feierten die Calbenser Bürger am 24. Mai ein Friedensfest, und am 30. Mai kehrten die Leibkürassiere in die Calbenser Garnison zurück. 1796 mussten sie wieder ausrücken, um gemeinsam mit anderen preußischen Regimentern die im Baseler Frieden ausgehandelte Demarkationslinie in Westfalen zu besetzen. Nach der 1801 erfolgten Anerkennung des Status quo durch Kaiser und Reich kehrten die Leibkürassiere nach Calbe zurück.

Inzwischen aber änderte sich in Frankreich einiges. Der erfolgreiche Revolutionsgeneral Napoleon Bonaparte hatte sich selbst 1804 zum Kaiser "befördert". Das Heilige Römische Reich  fand 1806 mit der Niederlegung der Kaiserkrone in Wien sein Ende. Als Preußen gemeinsam mit Sachsen und Russland im Vierten Koalitionskrieg (1806/07) gegen Napoleon antrat, war sein Ende vorprogrammiert.

Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 rückten napoleonische Truppen rasch auf die Festung Magdeburg vor. Nun kamen die Bedrückung und das Elend durch feindliche Besatzung nach 46 Jahren wieder über Calbe. Am 16. Oktober wurden die Calbenser Kämmereikasse und die wichtigsten Akten nach Magdeburg gebracht. Das hätte man lieber lassen sollen, denn das Geld wurde nicht wieder gesehen. Das Magdeburger Umland, also auch Calbe, musste für die bald eingetroffenen Franzosen gewaltige Lieferungen in Naturalien und Geld aufbringen. Tausende Kilo Getreide wurden für die Belagerung Magdeburgs requiriert. Dazu kamen Schlachttiere und Kühe sowie mehrere tausend Taler an Geld. Die Festung Magdeburg fiel schon am 8. November. Für die Bürger trat aber keine kleine Erleichterung ein, große Lasten (3350 Taler) blieben weiterhin zu tragen. Besonders lästig waren für die Bürger die geforderten Vorspann-Dienste (vgl. Hertel, S.51 f.)

Am 7. Juli 1807 wurde der Vierte Koalitionskrieg durch den Friedensschluss von Tilsit (Sowjetsk) zwischen Frankreich und Russland beendet. Auf Fürsprache des Zaren Alexander I. blieb das besiegte Preußen als Rest-Staat erhalten. Es verlor aber einen erheblichen Teil des eigenen Territoriums, die linkselbischen Gebiete.

Und damit wurde nun auch Calbe französisch. Zu den ersten Maßnahmen der Französisierung gehörte die Einrichtung einer Gendarmerie in Calbe, zu der nur angesehene und frankophile Bürger genommen wurden.

1808 kam dann Calbe zum Königreich Westfalen und in diesem zum neu geschaffenen Elbdepartement mit einem Präfekten an der Spitze. Calbe bildete mit dem Umland einen Kanton, der in zwei Verwaltungszentren aufgeteilt wurde, den städtischen (municipal) und den ländlichen (rural) Bereich. Das war das Vorbild für die spätere Einteilung in preußische Provinzen, Bezirke und Kreise. Zum munizipalen Bereich gehörte Calbe mit den beiden Vorstädten, dazu Gottesgnaden, Schwarz und Zens; der ländliche Teil des Kantons Calbe bestand aus Brumby, Förderstedt, Üllnitz, Glöthe, Eickendorf und Neugattersleben.

Der Präfekt des Elbdepartements ernannte an Stelle des Magistrats den Munizipalrat in Calbe mit 16 Bürgern, die am 22. November 1808 auf König Jerome, einen Bruder Napoleons, und die Konstitution vereidigt wurden. Statt Taler war die Währung jetzt der 1796 ins Leben gerufene französische Franc.

1808 mussten die Bürger des Königreiches Westfalen eine Zwangsanleihe von 24 Millionen Franc und 1811 erneut eine von 10 Millionen aufbringen. Wer nicht zahlen konnte, dessen Hab und Gut wurde zwangsversteigert, um die geforderte Summe aufzubringen.

Aber die Armee Napoleons kam nicht nur als Annexionsinstrument, als das man sie verständlicherweise vordergründig sah, sondern auch als verlängerter Arm der bürgerlichen Revolution in Frankreich. In dieser demokratischen Funktion brachte die napoleonische Herrschaft durchaus positive Neuerungen für die erstarrte preußische Gesellschaft.

Außer der erwähnten bürgerlichen Konstitution (konstitutionelle Monarchie) und der neuen Verwaltungsstruktur wurde 1808 die bürgerliche Gleichstellung der Menschen jüdischen Glaubens eingeführt. Im gleichen Jahr setzten die Franzosen die später bei den Preußen so beliebt gewordenen Bekanntmachungen mittels Plakaten an öffentlichen Gebäuden durch. 1809 wurden die Innungen und Zünfte aufgehoben und ihr Vermögen eingezogen. Bei den Calbenser Innungen gab es nicht viel einzuziehen, die Innungskassen waren fast leer. Die Liquidierung der Innungen war für die wirtschaftliche Entwicklung in Preußen von Wichtigkeit, weil die starren mittelalterlichen Vorschriften schon lange zum Hemmschuh für den Kapitalismus der freien Konkurrenz geworden waren.

Diese positiven Einflüsse konnten und wollten die Calbenser Bürger nicht sehen, denn die Lasten durch die französische Herrschaft brachten sie an den Rand des Ruins. Auch schwere Belästigungen kamen vor: 6 französische Soldaten, die 1809 bei einem Tuchmacher in der Breite Nr. 9 einquartiert waren, demolierten die Wohnung und prügelten ihren Quartierwirt. Eine Bestrafung der Schuldigen erfolgte nicht.

Die Wehrpflichtigen flohen in Scharen vor ihrem Dienst in der westfälischen Armee. Von 43 jungen Calbensern des Jahrganges 1789, die 1809 eingezogen werden sollten, waren 21 unauffindbar und 2 waren ins ostelbische Rest-Preußen geflohen.

Der Insurrektionszug des preußischen Husaren-Majors Ferdinand von Schill durch das besetzte Gebiet stieß bei den geflohenen Soldaten jedoch kaum auf Resonanz. Am 3. Mai 1809 war die kleine Schillsche Schar in Bernburg, am 4. Mai in Neugattersleben, und am 5. Mai lieferte sie sich das in die Kriegsliteratur eingegangene Gefecht bei Dodendorf, bevor sie knappe vier Wochen später ein blutiges und tragisches Ende in Stralsund fand.

Natürlich mussten Calbenser auch in der 610 000 Mann starken "Grande Armée" 1812 mit gegen Russland ziehen. Die Hälfte dieses Riesenheeres waren Deutsche und Angehörige von Hilfstruppen aus anderen Ländern. Wie viele Calbenser bei dem katastrophalen Rückzug umkamen und in fremder Erde blieben, ist nicht bekannt.

Nach dem Verlust der Odergrenze wollte Napoleon unbedingt die Elblinie halten. Die letzte Etappe der französischen Besatzung in unserer Gegend, von den Calbensern "Westfalenzeit" genannt, begann.

Am 25. März 1813 quartierte sich der aus einfachsten Verhältnissen stammende Marschall von Frankreich Victor, Herzog von Belluno (bürgerlich: Claude Victor Perrin), mit seinem Hauptquartier (30 Offiziere, 30 Chasseurs [Jäger], 60 Diener und 2 Kompanien) in Calbe ein, für das 180 Rationen Brot und Fleisch gefordert werden. Sein II. Armeekorps war in den Dörfern des Kantons Calbe untergebracht worden. Am 26. März 1813 kamen Teile des XI. Armeekorps´ unter Brigadegeneral Baron Grenier mit 145 Offizieren und  4450 Mann nach Calbe und quartierten sich ebenfalls dort ein. Jetzt lebten in Calbe fast doppelt so viele französische Soldaten wie zivile Einwohner. Die Forderungen der Besatzer waren enorm: für die Kavallerie knapp 1500 Zentner Fourage, dazu 2916 Maß Branntwein, 10.000 Pfund Brot. Als im April 1813 Vizekönig Eugen von Italien, ein Bruder Napoleons, mit seiner Truppe in Staßfurt lag, musste sie teilweise von Calbe aus mit verpflegt werden.

Die Fleisch- und Mehlvorräte der Calbenser und der Dorfbewohner waren zu Ende. Viele Bürger verließen ihre Häuser und wohnten zur Miete, weil sie die geforderten Requisitionen nicht mehr liefern bzw. bezahlen konnten. Am 12. April 1813 kam auch noch das 40. Regiment zusammen mit Artillerie nach Calbe, und am 14. April wurde in Calbe der Belagerungszustand ausgerufen.  Als das XII. Armeekorps auf dem Durchmarsch war, musste der Kanton 250 000 Rationen Brot, 250 000 Maß Branntwein, 250 000 Rationen Gemüse, Salz, Bier und Fleisch sowie 5000 Rationen Heu Stroh und Hafer liefern. Im April/Mai 1813 hatten allein die Stadt Calbe und die Bernburger Vorstadt je 8272 Rationen Brot, Fleisch und Fourage abgeben müssen.

Seit Juni wurde die Festung Magdeburg von den Franzosen für die Verteidigung hergerichtet, und der Kanton musste große Lieferungen dafür aufbringen (für fast 3000 Taler Weizen, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchte, Fleisch, Branntwein, Heu und Stroh). Viele Bürger hatten ihr Hab und Gut verkauft, um die geforderten Summen aufbringen zu können, überall herrschte Verzweiflung.

Außerdem musste der Kanton Calbe 1000 Schanzarbeiter, 10 Maurermeister, 30 Krankenwärter, alle Maurergesellen und alle Schiffer aufbringen. Es erschienen aber zu den Schanzarbeiten sehr viele Frauen und Kinder, was von den Franzosen verboten wurde. Im Juli besichtigte Kaiser Napoleon die Festung Magdeburg und gab neue Befehle. 3000 Arbeiter wurden angefordert. Es erschienen jedoch nur 450. Die Franzosen drohten nun Gewalt an. Zur Aushebung der Arbeiter trafen Exekutionskommandos ein, die mit Einäscherung der widerspenstigen Orte drohten.

Als im Oktober Napoleon die bis dahin größte Schlacht der Geschichte bei Leipzig verlor und die Verbündeten vorrückten, kam es vermehrt zu Desertionen aus der westfälischen Armee. Aus Calbe wurden 11 flüchtige Soldaten namentlich gemeldet. Im Januar 1814 begann der preußische General Tauentzien die Belagerung der französischen Festung Magdeburg. Wegen der Unsicherheit für die Franzosen und wegen der Lebensmittelknappheit wurden die westfälischen Truppen aus der Festung entlassen.

In der gleichen Zeit wurden russische verbündete Truppen in Calbe einquartiert, die auch requirierten. Wegen ihres groben Umgangs mit der Bevölkerung waren sie bei den Calbensern nicht gerade beliebt, vermittelten aber das Gefühl der nahenden Befreiung. Ebenso wurden auch die für die preußische Landwehr geforderten Schuhe nicht als Last empfunden.

Nachdem Napoleon am 6. April 1814 schon zur Abdankung gezwungen worden war und inzwischen auf Elba saß, hielt sich die französische Besatzung in der Festung Magdeburg immer noch. Weil die Lebensmittel immer knapper wurden und das Verratsrisiko zu groß war, entließ der französische Kommandant 1367 Magdeburger Familien aus der Festung. Eine erhebliche Anzahl von Magdeburgern wurde vorübergehend in Calbe aufgenommen. Am 14. Mai war auch für Magdeburg alles vorbei. Die Franzosen in der Festung kapitulierten und zogen bis zum 16. Mai ab (vgl. Hertel, S. 53 ff.).

Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses (18. September 1814 - 19. Juni 1815) bekam Preußen das alte westelbische Territorium und damit auch das Calbenser Gebiet zurück. Eine Entschädigung der bis an den Rand der Existenzfähigkeit belasteten Landstriche durch Frankreich erfolgte jedoch nicht.

Der bürgerlich-fortschrittliche Impetus, der von den französischen Okkupanten ausgegangen war, blieb erhalten, die reformerische Umgestaltung Preußens war in Gang gekommen. Am 30. April 1815 wurde die preußische Provinz Sachsen geschaffen und Calbe als Kreisstadt etabliert.

 

Autor und Copyright: Dieter H. Steinmetz 

 

Weitere geplante Abschnitte:

1815 bis 1918 (Kreisstadt Calbe im Zeitalter der industriellen Revolution bis Ende des Ersten Weltkrieges)

1918 bis 1945 (Weimarer Zeit bis Ende des Zweiten Weltkrieges)

1945 bis 1990 (Wiederaufbau und DDR bis zur gesellschaftlichen Wende)